Schöne neue Industrie!

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Schöne neue Industrie!

 
20.02.04 09:45
In Deutschland prophezeien Ökonomen auf etwas bizarre Art das Abwandern der Wirtschaft gen Osten - anders die Kollegen in den USA, die es als Gewinn einstufen, wenn Jobs in der Ferne geschaffen werden.

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Andere Länder, andere Experten. In Deutschland beklagen Ökonomen seit Wochen schon in Grabeslaune, wie viele Industriejobs von deutschen Firmen nach Osten verlagert werden; und dass uns nun eine schlimme Deindustrialisierung drohe. In den USA ist das Phänomen an sich ähnlich, dort geht der Jobexport nach China. Nur mühen sich Amerikas Topökonomen, die Aufregung darüber im Gegenteil zu dämpfen.

"Wenn Jobs nach China gehen, ist das langfristig gut für uns", sagt Gregory Mankiw, Chef des Council of Economic Advisers bei US-Präsident George W. Bush. Arbeitsteilung wirke schließlich positiv, so der Ökonom. Das Verlagern von Produktion in andere Teile der Welt sei Ausdruck von Globalisierung und Know-how-Transfer, bestätigt die Ökonomin Laura Tyson: "Das haben wir ja immer so gewollt."

Furcht vor dem Industrieschwund

Nun könnte es sein, dass die Amerikaner spinnen - oder einfach weniger Probleme damit haben als die Deutschen. Unsinn. Bei näherer Betrachtung fällt auf, dass eher das Gegenteil der Fall ist: Die Konkurrenz Chinas ist für die USA auf Anhieb schmerzhafter als die osteuropäische für Deutschland. Und die Deindustrialisierung ist umgekehrt nirgends so wenig fortgeschritten wie bei den Deutschen - anders als es die Skeptiker gern glauben machen würden. Die spannende Frage ist nur: Ist das jetzt gut oder schlecht?

Als Beleg für den K.o. der deutschen Industrie führen Ökonomen wie der Sachverständige Bert Rürup und Ifo-Chef Hans-Werner Sinn an, dass die Firmen zwar mehr produzieren, die eigentliche Wertschöpfung im Inland aber zurückbleibt. Und die Vermutung ist, dass die Deutschen immer mehr Vorprodukte billig im Osten herstellen lassen, um dann hier "nur noch Endmontage" zu betreiben. Der deutsche Trend gehe zur Basar-Ökonomie - worunter deutsche Volkswirte offenbar etwas sehr Negatives verstehen.

Das klingt auf Anhieb gruselig. Nur haben die Industriefirmen zum Teil allein deshalb weniger Wert geschöpft, weil sie wie alle anderen auf der Welt Dienstleistungen an externe Firmen ausgelagert haben - deren Wertschöpfung taucht jetzt in der Service-Statistik auf. Zum anderen ließe sich das Auslagern von Produktion ins Ausland auch als fortschreitende internationale Arbeitsteilung einstufen - weshalb das vermeintliche Basar-Phänomen nicht nur in Deutschland, sondern ebenso in den USA und "in den meisten Euro-Ländern" zu beobachten ist, wie die Ökonomen von Morgan Stanley konstatieren.

Hohe Beschäftigtenzahl in der Industrie

Bizarr wird die These von den angeblich leeren Industriehallen spätestens beim Blick auf die Beschäftigtenzahlen: Fast nirgends in der entwickelten Welt arbeitet noch ein so hoher Anteil der Menschen in der Industrie - und das sogar hoch produktiv. Die deutsche Quote liegt mit 21 Prozent fast doppelt so hoch wie in den USA mit zwölf Prozent; in Großbritannien sind es 15 Prozent. Und das liegt keineswegs daran, dass die anderen mehr Service-Jobs geschaffen hätten: Bei den deutschen Dienstleistern stieg die Zahl der Stellen von 1993 bis 2002 um 15 Prozent, ebenso wie bei den Briten. In Amerika sind es 17 Prozent.

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Hinzu kommt, dass nicht etwa die Deutschen, sondern die Amerikaner seit 2000 einen dramatischen Absturz ihrer Industrie erlebt haben. Rund drei Millionen Jobs im verarbeitenden Gewerbe sind verschwunden. Das sind 16 Prozent, dagegen wirkt der deutsche Rückgang mit vier Prozent geradezu niedlich. Anfang 2004 arbeiten in der US-Industrie erstmals weniger Leute als Ende der 50er Jahre.

Bleibt die Frage, welche Variante die bessere ist. Schließlich ließe sich Amerikas Deindustrialisierung auch als Fortschritt hin zur Service-Ökonomie werten. Dafür spräche, dass laut US-Ökonom Mankiw die Preise für Industriewaren tendenziell sinken, während mit Dienstleistungen einfacher Umsatzschübe zu machen seien.* Sollte es zudem stimmen, dass die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie stark an den Lohnkosten hängt, hätten hoch entwickelte Länder mit einer Spezialisierung auf die Industrie auf Dauer ohnehin kaum Chancen gegen Niedriglohnländer.

Sympathische Basarwirtschaft

Gerade die jüngsten Erfahrungen lassen indes zweifeln, ob der weitgehende Abschied von der Industrie für fortgeschrittene Ökonomien unausweichlich ist und dies zu ungebremstem Service-Wachstum führt. Für die USA gebe es erstmals nennenswerte Service-Konkurrenz etwa von Software-Anbietern aus Indien, so Morgan-Stanley-Ökonom Stephen Roach. Das treffe jetzt auch höher qualifizierte Beschäftigte. Umgekehrt exportieren die Deutschen sowohl ins billige China wie nach Osteuropa mehr (Industrie-)Waren, als sie von dort importieren. Industrie und Dienstleistungen gingen ohnehin immer stärker ineinander, so Henning Klodt vom Institut für Weltwirtschaft. In der Produktion eines Autos stecke heute etwa zur Hälfte Serviceleistung.

Die Konkurrenz aus dem Osten muss weder zum Absturz der Industrie noch zum Niedergang der Deutschen führen - gerade weil die Deutschen die ein oder andere Produktion verlagert haben. "Alle Tests zeigen, dass deutsche Firmen dort, wo sie viel investiert haben, auch besonders Exportgeschäfte machen", so Klodt. Das stärkste Auslandsengagement zeigten nicht schwache Firmen wie die Werften, sondern meist die Starken, die so noch stärker würden. Beispiel: Autoindustrie.

Laut Bundesbank sind die deutschen Firmen zuletzt wettbewerbsfähiger geworden, gerade weil sie dank eigener Standorte in Osteuropa jetzt billiger Vorprodukte beziehen. Auch das spricht dafür, dass sich Arbeitsteilung am Ende für alle lohnt. Je schneller Osteuropäer und Chinesen dank ausländischer Engagements aufholen, desto mehr werden sie umgekehrt zu willkommenen Absatzmärkten - gerade für diejenigen, die wie die Deutschen besonders stark im Osten präsent sind. Basare können etwas sehr Sympathisches haben.
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