Die Angst fliegt mit – auch am Boden
In Deutschland geht das Gespenst der Rezession um, übertriebener Schrecken ist aber nicht angebracht
Wer in diesen Tagen im Münchner Residenztheater den „Kaufmann von Venedig“ sehen will, der muss früh aufstehen. Selbst nach langem Schlange stehen kann es ihm passieren, dass er ohne Karten nach Hause geht. Das Stück, in dem es um Recht und Unrecht, Geld und Moral geht, ist auf Wochen ausverkauft. Und wer durch die Stadt und die Geschäfte spaziert, sieht kauflustiges Publikum in Massen. Ob hier der Schein trügt, wird nach Weihnachten zu erfahren sein.
Wer billig Aktien kaufen möchte, scheint ein wenig spät dran zu sein. Die Börse, die sich ja weit mehr an der Zukunft als an der Gegenwart orientiert, will nach oben. Offenbar überwiegt Hoffnung. Eine Menge Geld ist unter den Leuten, sucht Anlage – und überhaupt: es wird nicht Trübsal geblasen.
All dem zum Trotz hat in den Medien das Wort Rezession Hochkonjunktur. Gewollt oder ungewollt werden düstere Diagnosen geliefert. Das ist nicht gut. Ein wirtschaftlicher Diskurs, der zunehmend amerikanische Usancen und Begriffe, wenn auch noch nicht perfekt, nachahmt, diese sich aber doch zum Vorbild macht, sollte auch eine weise angelsächsische Erkenntnis akzeptieren – nämlich, dass es eine sich selbst erfüllende Prophezeiung gibt – die Selffulfilling Prophecy. Für die gerne zur Hysterie neigende deutsche Volkswirtschaft gilt dies besonders. Warum wird denn weniger geflogen? Weil viele Menschen Angst haben vor neuen Terroranschlägen. Warum werden weniger Autos und andere langlebige Konsumgüter gekauft? Warum wird vielleicht das Weihnachtsgeschäft ein wenig schlechter ausfallen als im Vorjahr? Weil die Menschen lieber ihr Geld auf dem Konto lassen, weil sie sich um ihren Arbeitsplatz sorgen. Hier geht es nämlich um Psychologie und nicht um strukturelle Fehler und Versäumnisse.
Weltweit in der Spitzenliga
Und ist es wirklich so katastrophal, wenn das Sozialprodukt ein oder zwei Quartale lang nicht mehr steigt? Dieses Produkt ist eine Rechengröße, nicht ein Wertmaßstab, etwa für die Lebensqualität. Diese bemisst sich – anders als der in Geld ausgedrückte Lebensstandard – an gesunden Lebensbedingungen, an einer intakten Umwelt, am schonenden Umgang mit Ressourcen. So gesehen haben niedrige Wachstumsraten sogar einen positiven Sinn, während exponentiell hohes Wachstum kein Maß kennt.
Doch selbst beim Lebensstandard gehört Deutschland noch immer zur Spitzengruppe einer weltweiten Liga. Es ist nach den USA der größte Exporteur, mit erheblichem Abstand vor Japan, Frankreich und Großbritannien. Die deutsche Ausfuhrquote je Einwohner ist fast zweieinhalbmal so groß wie die amerikanische. Diese starke Exportorientierung ist übrigens auch eine Ursache dafür, dass eine weltweite Flaute Deutschland härter trifft als viele seiner Konkurrenten. Ein Plus ist auch der hohe Anteil mittelständischer Unternehmen mit gut ausgebildeten Facharbeitern. Das hebt die deutsche Volkswirtschaft positiv ab gegenüber den Strukturen in vielen anderen hoch entwickelten Ländern.
Dies zu erkennen und zu würdigen bedeutet nicht, die Augen zu verschließen vor notwendigen Reformen am Arbeitsmarkt, im Sozialbereich und hier insbesondere auch im Gesundheitswesen, wo die Kosten kaum mehr zu bremsen sind. Auf der anderen Seite war die soziale Stabilität in der alten Bundesrepublik wichtig für den fulminanten Wirtschaftsaufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg. Und im vergangenen Jahrzehnt war diese soziale Stabilität eine geradezu grundlegende Voraussetzung dafür, dass die immensen Lasten der deutschen Vereinigung ohne allzu große gesellschaftliche Störungen verkraftet werden konnten.
Natürlich ist die jetzt zu beobachtende Entwicklung am Arbeitsmarkt – das Stagnieren bei mehr als vier Millionen Erwerbslosen im Jahresdurchschnitt – bitter für die Betroffenen. Und sie ist zudem eine enorme Belastung für die Volkswirtschaft wegen ihrer finanziellen Folgen – Steuerausfälle und steigende Soziallasten. Diese hausgemachten und schon lange vor dem 11. September deutlich gewordenen Begleiterscheinungen der „Rezession“ sind aber nicht nur Folgen unterbliebener Strukturreformen, also politische Sünden.
Es wird auch weithin verkannt, dass die fast hymnische Beschwörung der New Economy bis ins vergangene Jahr hinein den mit einem beispiellosen Börsenboom verbundenen Aufschwung mitgetragen hat. Von dieser Mystifikation ließen sich auch prominente Unternehmensführer geradezu „besoffen“ machen, wie das Beispiel Infineon zeigt: Noch vor einem halben Jahr hat der Münchner Halbleiterproduzent Fachkräfte angeworben, die jetzt wieder entlassen werden. Unternehmerischer Weitblick hat hier wie bei vielen anderen Industriefirmen und Banken in die falsche Richtung geschaut.
Maßlose Tarifpartner
Wenn jetzt die „ruhige Hand“ des Bundeskanzlers beklagt wird, so sind die unsteten Hände mancher Manager nicht weniger zu beklagen – bedenkt man zum Beispiel das konfuse Gezerre bei Bankenfusionen. Selbst in den anstehenden Tarifverhandlungen könnte der uneinsichtige IG-Metall-Chef Klaus Zwickel leichter zur Räson gebracht werden, wenn etwa die Arbeitgeberverbände zu erkennen gäben: Unsere Spitzenleute haben sich in den vergangenen Jahren massiv bedient, jetzt werden sie kräftig zurückstecken. Aber natürlich ist es naiv, solches zu hoffen.