Kriminalistik
Auf den Spuren von Hannibal Lecter
Von Marion Kraske
Hamburgs neu inthronisierter Polizeipräsident Udo Nagel gilt als "Mr. Hundert Prozent". Während seiner Zeit als Polizeiermittler in München bediente er sich auch moderner FBI-Methoden. Bundesweit setzen immer mehr Kriminologen auf das Know-how der Amerikaner.
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Anthony Hopkins als psychopathischer Serienkiller in "Das Schweigen der Lämmer" (1991)
Hamburg - Als sie gefunden wurden, waren sie nackt: Die beiden jungen Frauen waren sexuell missbraucht worden. Eine von ihnen wurde mit einer Strumpfhose erdrosselt und anschließend mit Kleidungsstücken an ein Geländer gebunden. Auch ihre Leidensgenossin fand man stranguliert, diesmal hatte der Täter sein Opfer an einen Baum gefesselt.
In beiden Fällen suchte er sich die Frauen, die er zwischen 1988 und 1990 in Wien ermordete, nicht gezielt aus. Sie waren vielmehr zur falschen Zeit am falschen Ort. Ihre Leichen präsentierte der Täter in einer ihm eigenen Art und Weise, in seiner spezifischen Handschrift.
Um Tötungs- oder Sexualdelikte wie diese aufzuklären, wenden Kriminalisten wie Hamburgs soeben ins Amt berufener Polizeipräsident, Udo Nagel, auch in Deutschland zunehmend Methoden der amerikanischen Bundespolizei FBI an, die diese bereits seit den achtziger Jahren kennt. Dazu gehört vor allem die so genannte Tatort-Analyse. "Der Tatort ist repräsentativ für die Bedürfnisse des Täters. Er sagt uns, welche Entscheidungen er getroffen hat. Wir scannen den Ort des Geschehens nach seinen Verhaltensentscheidungen ab", erklärt der Wiener Kriminalpsychologe Thomas Müller, der auf diesem Gebiet in Europa als Vorreiter gilt.
Anfang der neunziger Jahre ging Müller beim FBI in die Schule. An der Akademie in Quantico im US-Bundestaaat Virginia lernte er von der Bundespolizei-Legende Robert Ressler das Handwerk der US-Profis. Seitdem hat Müller das Know-how der amerikanischen Kollegen auch in Österreich und Deutschland populärer gemacht und mehrere spektakuläre Kriminalfälle gelöst.
Was treibt den Täter an, seine Opfer anzubinden? Was bewegt Hannibal Lecter in dem US-Thriller "Das Schweigen der Lämmer" dazu, seine Opfer für ein perverses Mahl zu präparieren? Eigenheiten wie diese sind es, die die Ermittler interessieren. Sie wollen das spezielle Verhalten des Täters ermitteln - das, was ihn von anderen Menschen unterscheidet.
Der Maler, der Mörder und sein Bild
Für den 39-jährigen Müller ist der Täter vergleichbar mit einem Maler. "Wenn Sie etwas über ihn in Erfahrung bringen wollen, können sie eine Biografie lesen - oder aber seine Bilder ansehen. Genauso verhält es sich mit dem Tatort."
Vor, während und nach der Tat hinterlässt ein Mörder Spuren - sei es seine tatsächlichen Fingerabdrücke, einen biologischen - oder aber eben einen psychologischen Abdruck. Selbst Veränderungen, die der Täter am Tatort vornimmt, um seine Identität zu verschleiern, können den gewieften Kriminologen Müller nicht täuschen. "Das ist wie ein Bumerang, der im Zweifel auf den Täter zurückfällt", sagt er.
Experten in Hochsicherheitstrakten
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US-Killer Jeffrey Dahmer zerlegte 17 Leichen. "Netter Typ von nebenan"
Für Müller ist das spezifische Verhalten des Täters ein Schlüssel zum Fahndungserfolg. Immer wieder führen sich die Ermittler daher mögliche Parallelen vor Augen.
"Wir vergleichen den aktuellen Fall mit anderen Fällen, die wir schon aufgearbeitet haben." Um sich in die Psyche der Täter einzudenken, unterhält sich Müller mit bereits Verurteilten. Hier versuchen sie nachzuvollziehen, was den Serienmörder bewegt, was den Sexualtäter antreibt. "Die wahren Experten sitzen in den Hochsicherheitstrakten", sagt Müller. "So grotesk es klingen mag: Von denen können wir etwas lernen."
Ausgiebig hat Müller in Amerika den US-Killer Jeffrey Dahmer interviewt, der 17 Menschen tötete und anschließend grausam verstümmelte. Müller beschreibt den Mann, der seine Opfer als "willenlose Sex-Zombies" halten wollte, als "netten Typ von nebenan", der seine Taten hinter einer freundlichen Allerweltsfassade versteckte.
Für Müller sind Gespräche mit den Tätern ein notwendiges Eintauchen in "andere Erfahrungswelten". "Niemand von uns kann sonst nachvollziehen, was es für ein sexuelles Bedürfnis ist, eine Frau auszunehmen", gibt er seine Empfindungen wieder. Nur durch die Interviews könne man sich ein Bild vom Innenleben der Täter machen.
Strategien: Das Täterprofil
Wie wichtig das sein kann, zeigte sich auch in Müllers wohl spektakulärstem Fall - dem österreichischen Briefbombenbastler Franz Fuchs, der mit seinen hochexplosiven Postsendungen die österreichische Gesellschaft über Jahre in Angst und Schrecken versetzte und dem Wiener Bürgermeister Helmut Zilk gar die Hand verstümmelte.
Bei Fuchs erarbeiteten die Ermittler auf der Grundlage der Tatortanalyse ein Täterprofil. Darin wird der Serienkiller, der bis 1996 insgesamt vier Menschen tötete, als allein stehender Katholik mit chemischen und elektronischen Kenntnissen beschrieben, als ordnungsliebend bis penibel. Die Schrift auf den Batterien in den Bomben, berichtet Müller, sei auf Zehntelmillimeter ausgerichtet gewesen.
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Briefbomber Franz Fuchs: Penibel und stressanfällig
Der erfahrene Kriminalpsychologe leitete daraus ab, dass es sich bei Fuchs um einen äußerst zwanghaften Menschen handeln musste, dem jeglicher Stress zuwider war. Aus diesem Grunde entwickelten die Ermittler eine Stressstrategie und wandten sich an die Öffentlichkeit, um den Bombenbastler unter Druck zu setzen.
Der Plan ging auf - Fuchs fühlte sich beobachtet und provozierte schließlich seine Verhaftung. "In diesem Fall waren genügend Verhaltensaspekte vorhanden", erklärt Müller den Fahndungserfolg.
Dabei legt er großen Wert auf den Unterschied zwischen Tatortanalyse und Täterprofil. Von hundert Fällen werde in jedem einzelnen Fall eine Tatortanalyse erstellt, berichtet der Kriminalist. Nur in einem Fall komme das so genannte "profiling" zum Einsatz. Die Charakterbeschreibung einer unbekannten Person ist nur in den seltensten Fällen polizeilich verwertbar. Im Falle von Fuchs war sie es.
Ausbildung in Deutschland
In Deutschland sind die Verhaltensanalyse und das Arbeiten mit Täterprofilen laut BKA "erst im Aufbau". In den letzten Jahren hat die Behörde damit begonnen, das FBI-Wissen in Seminaren zu vermitteln.
Inzwischen unterhält jedes Landeskriminalamt eigene Abteilungen, die sich mit den Fallanalysen beschäftigen. "Bislang waren objektive Spuren der Schwerpunkt der Ermittlungsarbeit", sagt ein Experte des nordrhein-westfälischen Landeskriminalamtes. Nun komme mit dem Täterverhalten das psychologische Element hinzu.
Zu den Vordenkern der neuen Ermittlungsmethoden in Deutschland gehört auch der neue Hamburger Polizeipräsident Udo Nagel. In München baute der 50-Jährige ein Spezialistenteam auf, das sich nach amerikanischem Vorbild mit dem Verhalten der Täter am Tatort befasst.
Hilfe im Fall Adelina
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Suche nach der verschwundenen Adelina im Juni 2001 in einem Park in Bremen
Noch steckt diese Arbeit hier zu Lande in den Kinderschuhen. Nicht nur theoretisch gibt Müller deutschen Kollegen Nachhilfe, er greift ihnen auch praktisch unter die Arme, zum Beispiel wenn er bei kniffligen Fällen zu Rate gezogen wird. Berichten zufolge soll Müller auch im Fall der zehnjährigen Adelina aus Bremen aktiv sein. Das Mädchen war im Oktober in einem blauen Plastiksack ermordet aufgefunden wurde.
Dabei kommt auch nach Hunderten von Fällen für den erfahrenen Kriminalpsychologen keine Routine auf. Immer wieder gebe es Neues zu entdecken. "Gerade jetzt", sagt er, habe er einen Fall aus Osteuropa auf den Schreibtisch bekommen, bei dem sich der Täter ganz anders verhalten habe, als er dies bisher kennen gelernt habe.
Doch die FBI-Methoden können nicht in jedem Fall angewendet werden. Überfällen und Raubmorden kommen Kriminalpsychologen wie Müller nicht bei. Die Täter geben hierbei zu wenig von sich preis. "Nur das Zücken einer Waffe", betont Müller, "ist zu wenig, um daraus Schlüsse zu ziehen".
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© SPIEGEL ONLINE 2002