Der Mensch von Welt umgab sich einst mit Coolness – heute beklagt er den Werteverfall Kantig, kompetent & echt – der Kanzlerkandidat wird beworben wie Profilholz aus dem Baumarkt. Er oder seine Marketingberater wissen, worauf es ankommt: Im Umgang mit sich selbst darf es keine Ausflüchte mehr geben. – „Ihr Anruf ist uns wichtig. Bitte, haben Sie noch ein wenig Geduld.“ So beschmeichelt wird der Ratsuchende in die automatische Warteschleife geschickt, aus der man ihn viel später mit einstudierten Höflichkeitspirouetten herausholt. Natürlich ist der Anruf eigentlich sehr lästig gewesen. – Die Croissants beim Bäcker sind teurer geworden, aber zehn Cent des Erlöses gehen an eine Stiftung für brasilianische Straßenkinder zur Erleichterung des schlechten Gewissens über eine erschlichene Preiserhöhung anlässlich der Währungsumstellung. Darf man da klagen?
Die Brauerei schützt den Regenwald. Also trinken wir für die Umwelt, wie sich das Prinzip des höheren Ideals auch anderswo bestens bewährt hat, wenn wir für die Rente tanken & mit der Ökosteuer das Altern der Gesellschaft finanzieren. Es dauert nicht mehr lange, bis Kettenraucher die Welt retten. Bei so viel Sorge um Authentizität, Nächstenliebe & Nachhaltigkeit können die obersten Hüter des Werts, wenn auch nicht der Werte, nicht zurückstehen: Nun entdecken auch die Spitzbuben des Kapitalmarkts die Ehrlichkeit, ja die Bescheidenheit – & werben darum, dass man ihren schönen Reden glaubt. Doch während sie nach Glaubwürdigkeit rufen, fürchten sie nur, dass es künftig zu schwierig wird, riskante Wachstumsstrategien über den Aktienanleger zu finanzieren; indem sie Offenheit beschwören, schielen sie auf das publizierte Gehalt des Vorstandskollegen; wo sie sich nach Tugenden sehnen, gestehen sie ein, ihre eigenen Krisen nicht meistern zu können.
Das Problem ist nicht, wie allenthalben beklagt, dass wir vergessen hätten, was Moral ist, die so genannte „Anständigkeit“, unter der alle Garantien gegen Niedrigkeit & Hinterlist summarisch zusammengefasst sind. Nein, vielleicht haben wir sogar zu viel davon. Es fehlt nicht an Moral, wir gehen mit der Moral nur unmoralisch um. Das ist der Skandal. Die Entwicklung strebt dahin, Gut & Böse, Wahrheit & Lüge weniger als sittliche, denn als farbliche Valeurs zu nehmen. Moral ist Mode geworden. Wie man vor Jahren gern zur Coolness etwas Sarkasmus getragen hat, so schmückt sich der Mensch von Welt heute mit der Klage über den Werteverfall. Es kleidet ihn, passend zum Anlass, so elegant, dass man den schlechten Kerl von einst fast nicht wiedererkennt, der, eben weil er das ist, eine geachtete Position erworben hat. Man weiß nicht recht, was man von dieser neuen modischen Färbung halten soll: Ob man der Fassadenmoral einen dauerhaften Zyklus in der Konjunktur des schönen Scheins wünschen soll, weil wir unsere Oberflächlichkeit nie anders bekämpfen als durch sie selbst, so wie die Feuerwehr gegen die Ausbreitung des Waldbrands Bäume anzündet. Oder ob man hoffen soll, dass dieser Trend, der das Leben unbequem machen könnte, noch schneller vergeht als alles, was en vogue ist. Damit die Schurken wieder zu erkennen sind. Es gibt eine Kategorie in der Moral, die nicht ihr höchstes Prinzip darstellt, aber als ihr tiefster Gedanke gelten kann: der Ernst. Jede Mode lebt vom Spiel, vom Formenspiel, über das sie auf Menschen wirkt; sie besitzt nichts anderes als diesen Effekt. Eine Moral hingegen, die zur Mode geworden ist, verliert mehr als ihren Einfluss auf Menschen, wenn sie bloß als äußere Erscheinung auftritt, als komischer Anstandsanstrich. Sie verschwindet mit der Mode. Das ist das Gefährliche & Unerträgliche an der Mode, dass sie ihre Herrschaft auf Gebiete ausdehnt, auf denen üblicherweise Strenge, gepaart mit Nachsicht & Sachlichkeit, regiert: in der Wissenschaft, der Religion, der Politik. Es kommt nicht von ungefähr, dass in diesen so abgestumpften wie überreizten Zeiten, in denen die Moral zur Mode geworden ist, als ein Parallelphänomen die Hysterie auftritt, die der Gesellschaft wie ein Vibrator jene Erregungswellen beschert, in denen sie sich endlich selber spürt & die ihr anders nicht mehr vergönnt zu sein scheinen. Auch sie gehört zu den flüchtigen Erscheinungen, ist falsches Pathos. Wo das wirklich Aufregenswerte verkommt oder verniedlicht wird zur gespielten Entrüstung, hat auch der zwar große, aber lächerliche Gestus Platz, Nichtiges so lange aufzukochen, bis sich überall Debattenblasen bilden.
Doch die Letzten werden die Ernsten sein. Ernst ist nicht das Gegenteil des Spiels, sondern seine Begrenzung, nicht das Andere zum Spaß, nur sein Partner, ohne den der Jokus langweilte auf der Lebensbühne. Dass Moral überhaupt als Mode in Erscheinung treten kann & akzeptiert wird, hat wohl damit zu tun, dass sich, für viele kaum deutlich, offenbar Fundamentales zu ändern beginnt. Wir ahnen es nur, dass der Boden, auf dem wir zu stehen meinten, erodiert: Die vertrauten Systeme stehen auf dem Spiel. Es könnte sein, dass Revolutionen in diesen Zeiten nicht mehr laut ausgerufen werden, sondern sich einschleichen. Und dass diejenigen, die sich heute noch als „Heroen der Ehrlichkeit“, wie Hegel sie nennt, aufspielen, morgen in Wahrheit ihre Opfer sind. Vielleicht sollte man anfangen, gegen dieses demonstrierte Moralheldentum aufzubegehren, den Eilfertigen unter den Büßern – ob in der Ökonomie oder Politik oder in den Medien – ihre Absolution verweigern & sie daran erinnern, dass Moral etwas mit Widerstand zu tun hat, mit Schmerz & Anstrengung. Das ist nicht unmoralisch, sondern nur unmodisch. Die Moral sollte bleiben, was man ihr immer unterstellt hat: verstaubt. Andernfalls wird sie zum dernier cri.
Die Brauerei schützt den Regenwald. Also trinken wir für die Umwelt, wie sich das Prinzip des höheren Ideals auch anderswo bestens bewährt hat, wenn wir für die Rente tanken & mit der Ökosteuer das Altern der Gesellschaft finanzieren. Es dauert nicht mehr lange, bis Kettenraucher die Welt retten. Bei so viel Sorge um Authentizität, Nächstenliebe & Nachhaltigkeit können die obersten Hüter des Werts, wenn auch nicht der Werte, nicht zurückstehen: Nun entdecken auch die Spitzbuben des Kapitalmarkts die Ehrlichkeit, ja die Bescheidenheit – & werben darum, dass man ihren schönen Reden glaubt. Doch während sie nach Glaubwürdigkeit rufen, fürchten sie nur, dass es künftig zu schwierig wird, riskante Wachstumsstrategien über den Aktienanleger zu finanzieren; indem sie Offenheit beschwören, schielen sie auf das publizierte Gehalt des Vorstandskollegen; wo sie sich nach Tugenden sehnen, gestehen sie ein, ihre eigenen Krisen nicht meistern zu können.
Das Problem ist nicht, wie allenthalben beklagt, dass wir vergessen hätten, was Moral ist, die so genannte „Anständigkeit“, unter der alle Garantien gegen Niedrigkeit & Hinterlist summarisch zusammengefasst sind. Nein, vielleicht haben wir sogar zu viel davon. Es fehlt nicht an Moral, wir gehen mit der Moral nur unmoralisch um. Das ist der Skandal. Die Entwicklung strebt dahin, Gut & Böse, Wahrheit & Lüge weniger als sittliche, denn als farbliche Valeurs zu nehmen. Moral ist Mode geworden. Wie man vor Jahren gern zur Coolness etwas Sarkasmus getragen hat, so schmückt sich der Mensch von Welt heute mit der Klage über den Werteverfall. Es kleidet ihn, passend zum Anlass, so elegant, dass man den schlechten Kerl von einst fast nicht wiedererkennt, der, eben weil er das ist, eine geachtete Position erworben hat. Man weiß nicht recht, was man von dieser neuen modischen Färbung halten soll: Ob man der Fassadenmoral einen dauerhaften Zyklus in der Konjunktur des schönen Scheins wünschen soll, weil wir unsere Oberflächlichkeit nie anders bekämpfen als durch sie selbst, so wie die Feuerwehr gegen die Ausbreitung des Waldbrands Bäume anzündet. Oder ob man hoffen soll, dass dieser Trend, der das Leben unbequem machen könnte, noch schneller vergeht als alles, was en vogue ist. Damit die Schurken wieder zu erkennen sind. Es gibt eine Kategorie in der Moral, die nicht ihr höchstes Prinzip darstellt, aber als ihr tiefster Gedanke gelten kann: der Ernst. Jede Mode lebt vom Spiel, vom Formenspiel, über das sie auf Menschen wirkt; sie besitzt nichts anderes als diesen Effekt. Eine Moral hingegen, die zur Mode geworden ist, verliert mehr als ihren Einfluss auf Menschen, wenn sie bloß als äußere Erscheinung auftritt, als komischer Anstandsanstrich. Sie verschwindet mit der Mode. Das ist das Gefährliche & Unerträgliche an der Mode, dass sie ihre Herrschaft auf Gebiete ausdehnt, auf denen üblicherweise Strenge, gepaart mit Nachsicht & Sachlichkeit, regiert: in der Wissenschaft, der Religion, der Politik. Es kommt nicht von ungefähr, dass in diesen so abgestumpften wie überreizten Zeiten, in denen die Moral zur Mode geworden ist, als ein Parallelphänomen die Hysterie auftritt, die der Gesellschaft wie ein Vibrator jene Erregungswellen beschert, in denen sie sich endlich selber spürt & die ihr anders nicht mehr vergönnt zu sein scheinen. Auch sie gehört zu den flüchtigen Erscheinungen, ist falsches Pathos. Wo das wirklich Aufregenswerte verkommt oder verniedlicht wird zur gespielten Entrüstung, hat auch der zwar große, aber lächerliche Gestus Platz, Nichtiges so lange aufzukochen, bis sich überall Debattenblasen bilden.
Doch die Letzten werden die Ernsten sein. Ernst ist nicht das Gegenteil des Spiels, sondern seine Begrenzung, nicht das Andere zum Spaß, nur sein Partner, ohne den der Jokus langweilte auf der Lebensbühne. Dass Moral überhaupt als Mode in Erscheinung treten kann & akzeptiert wird, hat wohl damit zu tun, dass sich, für viele kaum deutlich, offenbar Fundamentales zu ändern beginnt. Wir ahnen es nur, dass der Boden, auf dem wir zu stehen meinten, erodiert: Die vertrauten Systeme stehen auf dem Spiel. Es könnte sein, dass Revolutionen in diesen Zeiten nicht mehr laut ausgerufen werden, sondern sich einschleichen. Und dass diejenigen, die sich heute noch als „Heroen der Ehrlichkeit“, wie Hegel sie nennt, aufspielen, morgen in Wahrheit ihre Opfer sind. Vielleicht sollte man anfangen, gegen dieses demonstrierte Moralheldentum aufzubegehren, den Eilfertigen unter den Büßern – ob in der Ökonomie oder Politik oder in den Medien – ihre Absolution verweigern & sie daran erinnern, dass Moral etwas mit Widerstand zu tun hat, mit Schmerz & Anstrengung. Das ist nicht unmoralisch, sondern nur unmodisch. Die Moral sollte bleiben, was man ihr immer unterstellt hat: verstaubt. Andernfalls wird sie zum dernier cri.