vwd Extra/Lehren aus dem Börsenjahr - Die Glaskugel trübt sich ein
- von vwd Redakteur Ralf Zerback -
Frankfurt (vwd) - Er sieht aus wie mit der Axt geschlagen: der Einbruch
im DAX-Chart nach dem 11. September. Auf den jähen Sturz folgte ein hurtiger
Gipfelsturm. Auch in die anderen Indizes der Weltbörsen hat das Attentat ein
spitzes "V" gehauen. Doch dieses ist nicht der einzige Superlativ, mit dem
das Börsenjahr 2001 aufwartet. Elfmal drehte Alan Greenspan an der
Zinnschraube - nach unten. Eine Fülle von Gewinnwarnungen, abgelöst von
mancher positiven Unternehmensmeldung, sorgte für Verwirrung. Der Neue Markt
wurde bis fast zum K.O.-Schlag ausgepowert.
Wetterwendische Konjunkturdaten sowie das Auf und Ab in der Weltpolitik
sendeten divergierende Signale. Rezession - ja, nein. Konjunkturwende -
demnächst, in zwei Quartalen, in einem Jahr. Wenig Hilfe erhielt der Anleger
auch von seiten der Profis in den Investmentbüros und auf dem Börsenparkett
- im Gegenteil: die Kakophonie von Analysten- und Händlerstimmen hat die
Irritation eher vergrößert. Was wunder, dass Volatilität an der Tagesordnung
war. Und immer wieder: Unsicherheit, Rätselraten, Schulterzucken.
Ein Blick zurück ist da vergleichsweise erholsam. Denn siehe da: der
Jahreschart zeigt sich überschaubarer, als es die tägliche Börsenhektik
vermuten lassen könnte. Im wesentlichen lassen sich vier Phasen
unterscheiden. Das komplette erste Dreivierteljahr wurde bestimmt von dem
anhaltenden Abwärtstrend, der im März 2000 seinen Anfang genommen hatte.
Phase 2 markiert dann den deutlichen Einbruch nach dem Attentat vom 11.
September. Hierauf folgt - Phase 3 - der kräftige Anstieg zwischen dem 22.
September und Anfang Dezember. In den letzten Wochen zeigt sich dann eher
ein seitwärts-volatiler Verlauf, der für die Zukunft alles offen lässt.
Doch auch das Bild von den vier Phasen lässt sich noch weiter
vereinfachen. Denn verblüffend, aber wahr: Das rasche Wiederansteigen des
DAX fand exakt dort sein Ende, wo er abgestürzt war. Der Einbruch vom 11.
September, der Anstieg nach dem 21. September - alles nur eine Unterbrechung
des langfristigen Abwärtstrends? Tatsächlich zeigt die 200-Tage-Linie des
DAX lediglich einen kaum wahrnehmbaren winzigen Knick nach unten in der
nahezu kurvenlosen Abwärtsgeraden. Überdies hat der Index es bislang nicht
vermocht, diese Linie zu überschreiten. Das heißt zunächst einmal, Lehre
Nummer eins, dass dieser Trend stark ist.
Und als Nebeneffekt, Lehre Nummer zwei, bestätigt sich die alte
Erkenntnis, dass politische Einflüsse zwar mitunter heftig, aber eher
kurzfristig wirken. Der Einbruch vom 11. September hat keine Veränderung der
Richtung bewirkt: weder hat er den Abwärtstrend dauerhaft nach unten
verstärkt, noch ist bis jetzt eine Trendumkehr noch oben eindeutig zu
erkennen. Der Schwung erlahmte, als die alte Marke erreicht war.
Demzufolge findet sich der gegenwärtige Börsenbeobachter in einer
ähnlichen Lage wie vor den Anschlägen. Und das heißt zunächst einmal:
Unsicherheit über die weitere Entwicklung. Tatsächlich lassen sich zum
Jahresende unter den Experten zwei konträre Ansichten finden. Die eine geht
davon aus, dass sich die Rezession fortsetzt. In Kombination mit der durch
weltpolitische Erschütterungen angegriffenen Psychologie ergebe sich ein
weiterer Abwärtsrend. Extremvertreter dieser Richtung sehen gar einen
langfristigen Bärenmarkt. Die Aufwärtsbewegung halte seit 20 Jahren an,
jetzt drohe eine ähnlich lange Abwärtskurve.
Demgegenüber steht eine Auffassung, die zwar die schlechten
Unternehmensergebnisse der Gegenwart nicht leugnet; die Börse nehme aber
bekanntlich den Aufschwung vorweg, daher müsse jetzt investiert sein, wer
nicht irgendwann überrascht werden wolle. Die längste Rezession seit der
großen Depression von 1929/30 müsse sich ihrem Ende zuneigen, niedrige
Ölpreise und billiges Geld müssten in absehbarer Zeit wieder das
Konjunkturkarussell in Gang setzen. Angesichts dieses Spektrums an Prognosen
ist es nicht verwunderlich, dass auch über den Stand der Aktienkurse keine
Einigkeit herrscht. Für die einen sind sie noch immer "fundamental absurd
hoch", für die andern sind etliche Werte "sehr günstig" zu bekommen.
(mehr/vwd/rz/zwi)