Infineon will in die Schweiz auswandern
Von Georg Meck
Ulrich Schumacher macht Ernst. Seit Monaten hat er die Fluchtaktion rhetorisch vorbereitet, hat geklagt und gejammert. Über den Standort Deutschland, über Mitbestimmung und hohe Steuern. Patriotismus könne sich Infineon in diesen Zeiten nicht leisten, hat der Vorstandschef des Halbleiterherstellers gesagt. "Ich werde dafür bezahlt, das Unternehmen zu retten und nicht das Land." Es werde bei Infineon bald kaum noch Verwaltungsfunktionen in Deutschland geben, drohte er und ließ als erstes die Buchhalter die Koffer packen. Das Rechnungswesen für den gesamten Konzern wird künftig zentral abgewickelt - in Portugal.
Am Montag setzt Schumacher zum entscheidenden Sprung an. Im Aufsichtsrat wird er - außerhalb der offiziellen Tagesordnung - darlegen, mit welcher Strategie er Infineon in die Zukunft führen will. Und wo der Konzern dafür am besten seinen Hauptsitz aufschlagen soll. "Europa, Asien, Amerika" seien denkbare Standorte, sagte er vorige Woche noch unbestimmt. Insgeheim hat er ein Team aber exakt durchrechnen lassen: Was kostet es, zentrale Funktionen mit 200 bis 300 Führungskräften inklusive Vorstand zu verlagern? Wie hoch ist der steuerliche Vorteil? Wie hoch der Schaden für das Image? Wo sind die Bedingungen am günstigsten?
Schweiz ist Favorit
Dabei hat sich ein eindeutiger Favorit für den künftigen Holdingsitz herausgeschält, so ist im Unternehmen zu hören. "Schumacher will am liebsten in die Schweiz", heißt es in Führungs- und Aufsichtsratskreisen. Die Schweiz verspreche "eine erhebliche Verringerung der Kosten", hat der Vorstandsvorsitzende selbst schon mal ausgeplaudert, sie als "interessante Alternative" bezeichnet. Neben dem steuerlichen Aspekt sind es die sogenannten weichen Faktoren, die für einen Umzug zu den Eidgenossen sprechen: Sprache, Erreichbarkeit, aber auch die Tatsache, daß der Mutterkonzern Siemens dort mehrfach vertreten ist, unter anderem in Zug, dem Schweizer Kanton, der Holdings mit besonders günstigen Konditionen - sprich: mit besonders niedrigen Steuersätzen - lockt. Die Vorbereitungen sind so weit fortgeschritten, bekräftigen Schumachers Vertraute, daß seine Abzugspläne "längst keine leere Drohung" mehr sind. Was die Gewerkschafter in München genauso sehen und bereits "harten Widerstand" ankündigen.
Der prominenteste, bei weitem nicht der erste Auswanderer
Tatsächlich wäre die Verlagerung des Sitzes eine einmalige Aktion für ein deutsches Unternehmen dieser Größe. Noch nie ist ein Konzern freiwillig aus dem Dax ausgeschieden, weil er sich in Richtung Ausland verabschiedet hat - abgesehen von Fällen wie Mannesmann oder Hoechst, die durch Übernahme beziehungsweise Fusion ihren Platz im wichtigsten deutschen Börsenindex verloren haben. Genau dies - der Abschied aus dem Dax - wäre jedoch unausweichlich, wenn Infineon umzieht. "Wenn der Konzern seinen Sitz außerhalb Deutschlands verlegt, dann kann er auch nicht im Dax bleiben", so die lapidare Auskunft der Deutschen Börse. Eine Ausnahme für den Münchner Chiphersteller werde es nicht geben. Was Infineon auch gar nicht anstrebt: "Das Ausscheiden aus dem Dax ist eine der Variablen, die wir bei unseren Rechnungen berücksichtigen", sagte ein Sprecher.
Zieht Schumacher in die Schweiz, wäre er der prominenteste deutsche Unternehmer, der dorthin auswandert - der erste wäre er beileibe nicht. Von Hunderten von geflüchteten Mittelständlern berichtet die Handelskammer Deutschland-Schweiz seit dem rot-grünen Wahlsieg im Herbst. "Die Unternehmer vermissen in Deutschland vor allem Planungssicherheit", sagt Ralf Bopp von der Kammer. Und wie soll das Vertrauen zurückkehren, wenn jede Reform sofort zerpflückt wird? Wenn selbst SPD-Politiker wie Sigmar Gabriel über das Finanzministerium als "Praktikanten-Stadel" lästern? Die Schweiz dagegen: schwerfällig, aber eben auch planbar, sagt Charles Blankart, Schweizer Ökonom mit Lehrstuhl in Berlin. Und Annette Nieweg, eine junge Unternehmerin, die von Dresden nach Zug ausgewandert ist, kann ihre Exilheimat gar nicht hoch genug preisen. "Das zahlt sich unbedingt aus", sagt sie, schwärmt von Steuervorteilen, vorbildlicher Bürokratie - und auch dem überragenden Freizeitwert. Ob Ulrich Schumacher den auch als Variable in seiner Rechnung berücksichtigt hat?
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 27.04.2003, Nr. 17 / Seite 33