Aus der FTD vom 12.12.2001
Im Supermarkt wird zu viel Wahl schnell zur Qual
Von Annette Schäfer, Washington
Die Riesen-Sortimente halten Kunden vom Kaufen ab, sagen Psychologen. Die Händler und Hersteller reagieren hilflos.
Nirgendwo präsentiert sich die Idee vom Land der unbegrenzten Möglichkeiten so unmittelbar wie in einem amerikanischen Supermarkt. Tennisplatzlange Gänge mit unterschiedlichen Limoflaschen, Hunderte Variationen von Frühstücksflocken, riesige Gefrierschränke mit Eis und Pizza in allen denkbaren Portionsgrößen und Geschmacksrichtungen. Auch in Deutschland biegen sich die Regale mit Artikeln, die sich häufig kaum voneinander unterscheiden: Seidenbacher Müsli in 15 Variationen, Ehrmann-Joghurt in allen denkbaren Kombinationen aus Größe, Geschmack und Fettstufe, Persil in Perlen, Pulver, Plastik- oder Pappcontainer, mit Portionierer oder ohne.
Mit Riesensortimenten glauben Unternehmen, den Kunden einen Gefallen zu tun. Eine große Auswahl erhöht die Zufriedenheit von Konsumenten, so die grundsätzliche Annahme, und sichert so Umsatz- und Gewinnsteigerungen. Doch Vorsicht: Der Umso-mehr-umso-besser-Ansatz geht leicht nach hinten los, wie psychologische Untersuchungen zeigen. "Werden Menschen mit einem Aufgebot an Produkten konfrontiert, das ihre Verarbeitungsmöglichkeiten überschreitet, hat das negative Effekte", warnt Mark Lepper, Vorsitzender der Psychologischen Abteilung an der Stanford Universität.
Psychologische Folgen
In umfangreichen Feld- und Laborversuchen hat der Wissenschaftler diese Folgen genau untersucht. In einer Studie baute er in einem kalifornischen Nobel-Supermarkt einen Probierstand für Marmeladen auf. Im ersten Durchgang wurden vorbeikommenden Einkäufern 24 verschiedene Marmeladen zum Test angeboten, im zweiten nur sechs. Das größere Sortiment zog mehr Kunden an: 60 Prozent der vorbeikommenden Kunden hielten am großen Stand, verglichen mit 40 Prozent beim Sparangebot. Kauffreudiger reagierten sie aber auf die begrenzte Auswahl: Von den Kunden, die das ausladende Sortiment testeten, erstanden nur drei Prozent ein Glas; das kleine Sortiment animierte immerhin 30 Prozent zu einem Kauf.
Die Erklärung der Wissenschaftler: Zu viele Optionen - insbesondere wenn sie sich kaum voneinander unterscheiden - rufen Gefühle von Verwirrung und Überforderung hervor, die Konsumenten dazu veranlassen können, ganz vom Kauf Abstand zu nehmen. In anderen Versuchen zeigte sich zudem, dass Versuchspersonen, die unter einer umfassenden Palette wählen durften, die Alternativen insgesamt weniger attraktiv fanden, mit ihrer Wahl weniger zufrieden waren und sich eher mit Frustrationen und Zweifeln quälten als Personen, denen nur eine begrenzte Auswahl angeboten wurde.
Andere Untersuchungen belegen die positiven Effekte kleiner, überschaubarer Sortimente. "Wenn Käufer ein ganzes Spektrum verschiedener Produkte überblicken können, also etwa gleichzeitig Kekse, Schokolade und Chips, dann greifen sie häufig mehrfach zu und kaufen insgesamt mehr ein, als wenn sie einem langen Regal mit nur einem Produkt in unzähligen, nur unwesentlich unterschiedlichen Variationen gegenüberstehen", sagt Marketingexperte Milton Merl, der an dem Test der renommierten Efficient Consumer Response Organisation mitgearbeitet hat.
Durchschnittlich 40.000 Artikel
Für Hersteller und Händler sind das an sich gute Nachrichten, denn ein Riesensortiment anzubieten ist aufwändig und teuer. So schlägt der durch eine große Variantenvielfalt hervorgerufene Lager- und Verwaltungsaufwand bei Produzenten mit zwei bis vier Prozent der Herstellungskosten zu Buche, schätzen Experten.
Trotzdem stehen in einem US-Supermarkt durchschnittlich 40.000 Artikel, doppelt so viele wie vor zehn Jahren. "Hersteller versuchen durch Neuheiten, Platz in den Regalen zu erobern", meint David Bell, Professor für Marketing an der Wharton School (Universität von Pennsylvania). Und die Händler glauben sich durch eine Riesenauswahl von anderen Anbietern absetzen zu müssen.
Doch allmählich setzen sich Leppers Erkenntnisse durch. Der Unilever-Konzern (Rama, Lipton, Lux-Seife) etwa hat sein Markenportfolio in den letzten Monaten von 1600 auf 900 zusammengestrichen. Am Ende des noch andauernden Hausputzes sollen nur die stärksten 400 Brands übrig bleiben. "Sortimentsbereinigungen stellen eine fantastische und viel zu wenig genutzte Quelle der Wertschöpfung dar", bestätigt Marketingconsultant Milton Merl, der zusammen mit Geschäftspartner AC Nielsen führende amerikanische Konsumartikelhersteller berät.
Das Sortiment muss dadurch noch nicht mal wachsen: Colgate-Palmolive beispielsweise hat gerade damit begonnen, für jeden neuen Artikel einen alten auslaufen zu lassen. Mehr als die derzeit 17 verschiedenen Sorten Colgate-Zahnpasta wird es also wohl in Zukunft nicht geben.
© 2001 Financial Times Deutschland
Im Supermarkt wird zu viel Wahl schnell zur Qual
Von Annette Schäfer, Washington
Die Riesen-Sortimente halten Kunden vom Kaufen ab, sagen Psychologen. Die Händler und Hersteller reagieren hilflos.
Nirgendwo präsentiert sich die Idee vom Land der unbegrenzten Möglichkeiten so unmittelbar wie in einem amerikanischen Supermarkt. Tennisplatzlange Gänge mit unterschiedlichen Limoflaschen, Hunderte Variationen von Frühstücksflocken, riesige Gefrierschränke mit Eis und Pizza in allen denkbaren Portionsgrößen und Geschmacksrichtungen. Auch in Deutschland biegen sich die Regale mit Artikeln, die sich häufig kaum voneinander unterscheiden: Seidenbacher Müsli in 15 Variationen, Ehrmann-Joghurt in allen denkbaren Kombinationen aus Größe, Geschmack und Fettstufe, Persil in Perlen, Pulver, Plastik- oder Pappcontainer, mit Portionierer oder ohne.
Mit Riesensortimenten glauben Unternehmen, den Kunden einen Gefallen zu tun. Eine große Auswahl erhöht die Zufriedenheit von Konsumenten, so die grundsätzliche Annahme, und sichert so Umsatz- und Gewinnsteigerungen. Doch Vorsicht: Der Umso-mehr-umso-besser-Ansatz geht leicht nach hinten los, wie psychologische Untersuchungen zeigen. "Werden Menschen mit einem Aufgebot an Produkten konfrontiert, das ihre Verarbeitungsmöglichkeiten überschreitet, hat das negative Effekte", warnt Mark Lepper, Vorsitzender der Psychologischen Abteilung an der Stanford Universität.
Psychologische Folgen
In umfangreichen Feld- und Laborversuchen hat der Wissenschaftler diese Folgen genau untersucht. In einer Studie baute er in einem kalifornischen Nobel-Supermarkt einen Probierstand für Marmeladen auf. Im ersten Durchgang wurden vorbeikommenden Einkäufern 24 verschiedene Marmeladen zum Test angeboten, im zweiten nur sechs. Das größere Sortiment zog mehr Kunden an: 60 Prozent der vorbeikommenden Kunden hielten am großen Stand, verglichen mit 40 Prozent beim Sparangebot. Kauffreudiger reagierten sie aber auf die begrenzte Auswahl: Von den Kunden, die das ausladende Sortiment testeten, erstanden nur drei Prozent ein Glas; das kleine Sortiment animierte immerhin 30 Prozent zu einem Kauf.
Die Erklärung der Wissenschaftler: Zu viele Optionen - insbesondere wenn sie sich kaum voneinander unterscheiden - rufen Gefühle von Verwirrung und Überforderung hervor, die Konsumenten dazu veranlassen können, ganz vom Kauf Abstand zu nehmen. In anderen Versuchen zeigte sich zudem, dass Versuchspersonen, die unter einer umfassenden Palette wählen durften, die Alternativen insgesamt weniger attraktiv fanden, mit ihrer Wahl weniger zufrieden waren und sich eher mit Frustrationen und Zweifeln quälten als Personen, denen nur eine begrenzte Auswahl angeboten wurde.
Andere Untersuchungen belegen die positiven Effekte kleiner, überschaubarer Sortimente. "Wenn Käufer ein ganzes Spektrum verschiedener Produkte überblicken können, also etwa gleichzeitig Kekse, Schokolade und Chips, dann greifen sie häufig mehrfach zu und kaufen insgesamt mehr ein, als wenn sie einem langen Regal mit nur einem Produkt in unzähligen, nur unwesentlich unterschiedlichen Variationen gegenüberstehen", sagt Marketingexperte Milton Merl, der an dem Test der renommierten Efficient Consumer Response Organisation mitgearbeitet hat.
Durchschnittlich 40.000 Artikel
Für Hersteller und Händler sind das an sich gute Nachrichten, denn ein Riesensortiment anzubieten ist aufwändig und teuer. So schlägt der durch eine große Variantenvielfalt hervorgerufene Lager- und Verwaltungsaufwand bei Produzenten mit zwei bis vier Prozent der Herstellungskosten zu Buche, schätzen Experten.
Trotzdem stehen in einem US-Supermarkt durchschnittlich 40.000 Artikel, doppelt so viele wie vor zehn Jahren. "Hersteller versuchen durch Neuheiten, Platz in den Regalen zu erobern", meint David Bell, Professor für Marketing an der Wharton School (Universität von Pennsylvania). Und die Händler glauben sich durch eine Riesenauswahl von anderen Anbietern absetzen zu müssen.
Doch allmählich setzen sich Leppers Erkenntnisse durch. Der Unilever-Konzern (Rama, Lipton, Lux-Seife) etwa hat sein Markenportfolio in den letzten Monaten von 1600 auf 900 zusammengestrichen. Am Ende des noch andauernden Hausputzes sollen nur die stärksten 400 Brands übrig bleiben. "Sortimentsbereinigungen stellen eine fantastische und viel zu wenig genutzte Quelle der Wertschöpfung dar", bestätigt Marketingconsultant Milton Merl, der zusammen mit Geschäftspartner AC Nielsen führende amerikanische Konsumartikelhersteller berät.
Das Sortiment muss dadurch noch nicht mal wachsen: Colgate-Palmolive beispielsweise hat gerade damit begonnen, für jeden neuen Artikel einen alten auslaufen zu lassen. Mehr als die derzeit 17 verschiedenen Sorten Colgate-Zahnpasta wird es also wohl in Zukunft nicht geben.
© 2001 Financial Times Deutschland