Geschäft mit dem Elend in New York
Von Kerstin Friemel, New York
New York erlebt eine Phase der Hilfsbereitschaft - doch einige
Amerikaner machen aus dem Elend ein Geschäft.
Sascha Quaiser, Moderator des Nachrichten-TV-Senders N-TV, hatte Glück.
Obwohl er nur rund 100 Meter vom World Trade Center entfernt steht, als der
erste Turm in sich zusammenfällt, entkommt er der Tragödie in Manhattan
lebend. Der 29-jährige Berliner wird lediglich von der riesigen Staubwolke
überrollt, die sich wie eine Lawine durch die angrenzenden Straßenschluchten
drückt.
Unverletzt, aber mit einer zentimeterdicken Schicht aus Asche, Staub und
Glassplittern überzogen rennt er in Richtung Norden, in Sicherheit. Fremde
reichen ihm nasse Handtücher und fragen, ob sie ihm helfen können. Ein paar
Schritte weiter entdeckt der durstige Sascha Quaiser am Straßenrand sogar
eine riesige Wanne, die mit Eis und Wasserflaschen gefüllt ist. Zehn Dollar
verlangt der Händler für eine Flasche. "Am Anfang dachte ich noch, die haben
aber schnell reagiert. Bis mir klar wurde, dass das sehr geschäftstüchtige
Leute waren."
New York pervers. Während sich unmittelbar nach dem Unglück Ärzte,
Bauarbeiter, Hausfrauen und Studenten zu Tausenden freiwillig meldeten, um
Blut zu spenden, Lastwagen zu fahren, Brote zu schmieren und Kleidung zu
bringen, versuchen einige wenige, Profit aus der Tragödie zu schlagen. Die
ersten Geier reckten bereits am Dienstag morgen ihre Hälse.
E-Bay verschacherte Trümmer des World Trade Centers
Kaum ist das erste Flugzeug ins World Trade Center gekracht, da machen
sich einige Kunden des Internet-Auktionshauses Ebay daran, auf der
Webseite des Unternehmens Brocken des Gebäudes zu verschachern. Zu
dem Zeitpunkt stehen die Türme noch in Flammen. Viele der dort
Eingeschlossenen hoffen noch, dem Inferno lebend zu entrinnen. "Es begann
etwa nach einer Stunde", schätzt Kevin Pursglove von Ebay. Die meisten der
auf der Webseite feilgebotenen Geröllbrocken stammen vom World Trade
Center, ein kleinerer Teil vom Pentagon.
Ebay stoppt den Verkauf der Terror-Souvenirs sofort, nimmt unzählige
Auktionen von der Webseite und löst die Konten von mindestens neun Kunden
auf. "Wir nehmen solche Angebote von der Seite, sobald sie auftauchen", sagt
Pursglove. Einige flutschen dennoch durch. Die Leute bieten Hunderte von
Dollar für einen Brocken.
Straßenhändler vervierfachten ihre Preise
Vor allem Straßenhändler nutzen die Situation zum eigenen Vorteil. In
Chinatown stehen die Menschen vor den Zeitungsständen Schlange. Die
chinesische Zeitung, die normalerweise 50 Cent kostet, geht für 2 $ über den
Tresen. Auf dem Times Square, der mit Leuchtreklame gepflasterten
Touristenattraktion New Yorks, verscherbeln Teenager für 20 $ Aufnahmen
vom brennenden World Trade Center. Sie haben sie nur Minuten vor dem
Einsturz gemacht.
Ob sie Fotografen seien? "Ja, so was Ähnliches", antwortet der eine einsilbig
und zischt dann seinem Nachbarn zu: "Lass uns abhauen." Er will nicht in dem
Film des Kamerateams erscheinen, das gerade um die Ecke kommt. Die
Kameraleute brauchen nicht lange zu suchen. Nur wenige Blocks weiter
stehen die nächsten beiden Teenager - mit den gleichen Fotos des
brennenden Word Trade Centers.
Am Union Square gibt es währenddessen die ersten T-Shirts zum Desaster.
Zur Auswahl stehen mehrere Motive: "I survived the Attack" ("Ich habe den
Anschlag überlebt") steht auf dem einen. "We’re gonna strike back" ("Wir
werden zurückschlagen") auf einem anderen. 5 $ sollen sie jeweils kosten.
Ein Ehepaar geht kopfschüttelnd vorbei: "Das ist doch komplett verrückt." Der
Verkäufer zuckt nur mit den Schultern. Warum denn? Das Zeug verkauft
sich?
Reibach mit US-Flaggen
Ein paar Meter weiter hängen kleine amerikanische Fahnen aus. Die
US-Flagge ist zum Symbol des Anti-Terrorismus avanciert. Sie ist überall. Sie
hängt an Masten, von Hausdächern, vor Fenstern, von Balkonen, an
Autoantennen, an Kassen. Sie dient als Kopftuch, Krawatte, Einstecktuch oder
Umhang. Selbst Obdachlose werden zu Patrioten. Sie decken sich nachts am
Straßenrand mit Flaggen zu.
Nur zwei Tage nach dem Unglück meldet der Einzelhandelsriese Wal-Mart, der
Verkauf von US-Flaggen werde in diesem Monat voraussichtlich auf 88.000
Stück ansteigen. Im vergangenen Jahren waren es gerade mal 6000. In
vielen Kaufhäusern sind die Banner inzwischen ausverkauft. Lediglich bei den
Straßenhändlern ist das Nationalsymbol noch zu haben. Sie verlangen
inzwischen 5 $ pro Wimpel. Unmittelbar nach der Katastrophe kosteten sie
noch 1 $. So etwas wird von Ökonomen gemeinhin Hyperinflation genannt.
Tankstellen erhöhten Benzinpreise
Auch außerhalb von New York sind Profiteure am Werk. Bei der
Staatsanwaltschaft von Missouri gehen kurz nach der Katastrophe über 300
Beschwerden ein, darunter die einer Frau, die bereits tankte, als der
Tankstellenbesitzer die Pumpe stoppt, um die Preise anzuheben. Mike Moore,
Staatsanwalt im US-Bundesstaat Mississippi, hat bereits Strafen für zahlreiche
Tankstellenbesitzer angekündigt, die die Benzinpreise nach dem Anschlag in
die Höhe schraubten. In manchen Bundesstaaten schossen sie bis auf 6 $ je
Gallone. Moore erwartet, dass einige der Tankstellenbesitzer verhaftet
werden.
Denn die Öl- und Benzin-Infrastruktur wurde bei den Attentaten nicht
beschädigt. "Es gibt absolut keine Rechtfertigung für die Preiserhöhungen",
sagt Geoff Sundstrom vom amerikanischen Automobilverband AAA.
Einige Tankstellenbesitzer zeigten deshalb auch schnell Reue. In Indianapolis
etwa reduzierte einer den zuvor auf 5 $ je Gallone angehobenen Preis,
nachdem Polizisten ihm einen Besuch abgestattet hatten.
Richtig aufgekratzt ist gegenwärtig die Immobilienszene in New York. Am
Mittwoch bot Jason McCabe Calacanis, Chefredakteur des New Yorker
Internet-Kultblattes "Silicon Alley Reporter", den Mietern des World Trade
Center an, sie könnten einen Monat lang kostenlos rund 1200 Quadratmeter
seiner momentan teilweise leer stehenden Büroflächen nutzen. Daraufhin
meldeten sich mehr als 15 Unternehmen bei ihm sowie ein Möbelhändler, der
auf neue Kundschaft hofft, und "sechs oder sieben Immobilien-Broker", die
aus Calacanis herauskitzeln wollten, wer bei ihm um Unterschlupf angefragt
hatte.
Jagd auf Büroflächen
Die Jagd auf Büroflächen ist längst eröffnet. "Ich habe viel zu tun", sagt Caleb
Koeppel, Miteigentümer der Immobilienagentur KTR Newmark Real Estate
Services. "Es ist schrecklich."
Dann erzählt Koeppel von einem Firmenkunden, der neue Büros sucht. Er
habe aber nicht sagen können, wie viel Quadratmeter er braucht, da er nicht
wusste, wie viele Angestellte er noch hat. "Wir werden unsere gesamte
Bürofläche vermieten", schätzt Koeppel.
Neben der Immobilienbranche erwarten auch Sicherheitsunternehmen einen
wirtschaftlichen Schub. Die Vorkehrungen gegen Terroranschläge sollen mit
modernster Technik verbessert werden.
Der Renner sind gegenwärtig die so genannten Blackberry-Pager - kleine
kabellose Geräte, mit denen die Nutzer mobil E-Mails verschicken können.
Nur einen Tag nach dem Anschlag wurde der Hersteller auf dem
US-Wirtschaftssender CNBC als Profiteur der Krise gehandelt.
Allan Hickok sagt warum. Der Analyst von U.S. Bancorp Piper Jaffray
verschickte am vergangenen Dienstag über seinen Plackberry-Pager E-Mails
an Freunde und Kollegen in New York. Und sie kamen an. Verglichen mit den
ständigen Besetztzeichen, die er am Telefon hörte, sei sein Pager
"phänomenal effizient" gewesen, sagt Hickok.
Run auf Telefonläden
Obwohl auf das Internet während der Katastrophe mehr Verlass war als auf
das Telefonnetz, rennen die New Yorker den Telefonläden die Türen ein.
Nachdem es einigen Opfern im World Trade Center und in den entführten
Flugzeugen gelang, ihren Verwandten oder Freunden per Mobiltelefon einen
letzten Gruß oder einen letzten Hilfeschrei zu übermitteln, halten viele New
Yorker ein Handy nun für unerlässlich.
Ironischerweise tritt ausgerechnet bei jenen das geschäftliche Interesse in
den Hintergrund, die sonst für ihre horrenden Preise berüchtigt sind: die
Hotels der Stadt. Die Herbergen sind angesichts der Flugreisenden, die in New
York festhängen, restlos ausgebucht. So auch die Marriott-Hotels. Trotzdem
hat die Kette in fünf ihrer Hotels öffentliche Bereiche bereitgestellt, damit
Gestrandete und Evakuierte Unterschlupf finden.
Auch andere Firmen haben in den vergangenen Tagen immer wieder Dienste
umsonst oder verbilligt angeboten. So konnten die New Yorker direkt nach
dem Unglück kostenlos von jedem öffentlichen Fernsprecher aus telefonieren,
Subway- und Busfahrten waren frei.
Kostenloser Fährbetrieb
Eine Schifffahrts-Gesellschaft, die normalerweise ihr Geld damit verdient,
Touristen um Manhattan zu schippern, wurde kurzerhand zum Fährbetrieb.
Die Schiffe transportierten Passagiere von Manhattan nach Brooklyn -
ebenfalls umsonst. Mehr als 100 Bestattungsunternehmen aus New York und
dem Nachbarbundesstaat New Jersey haben angekündigt, sie würden an
einem Jahrzehnte alten Programm festhalten und Beamte, vor allem
Feuerwehrleute und Polizisten, günstiger als üblich bestatten.
Selbst in die Kinos kommen die New Yorker kostenlos. Als Sascha Quaiser am
Mittwochabend im teilweise evakuierten East Village an einem Kino
vorbeikam, in dem die Besucher umsonst Filme gucken konnten, sah er sich
kurzentschlossen "American Pie" an, seichte US-Unterhaltung. "Einerseits ist
es absurd, dass die Normalität weitergeht", sagt Quaiser. Andererseits tue es
in der aktuellen Situation gut, "einfach mal etwas Lustiges zu sehen, ohne an
die Realität vor den Kinotüren denken zu müssen."
© 2001 Financial Times Deutschland