Gottesgeschenk für die Wahlkämpfer
Von Mathias Müller von Blumencron
Während die Flut noch in die Häuser schwappt, stürzen sich die Politiker auf das Katastrophen-Thema. Mit immer teureren Rettungsprogrammen versuchen sie Bürgernähe zu demonstrieren, auf "Flutgipfeln" wollen sie Handlungsstärke beweisen. Das Hochwasser verdrängt alle anderen Wahlkampfthemen - zur Freude der Kandidaten.
Hamburg - Die Miene sorgenvoll, die
AFP/DPA Kanzlerkandidat Stoiber
in Dresden: Wählernähe demonstrieren
Worte mit Bedacht gewählt: Wo immer Edmund Stoiber am Freitag in Gummistiefeln und Armani-Jeans die Flut durchwatete, demonstriert er Mitgefühl und Zurückhaltung. Doch kaum war der Unionskandidat im Helikopter verschwunden, brach der Wahlkampf wieder aus.
Mit den Landeschefs von Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen traf er sich am Samstag in Leipzig zum Krisengipfel, um notwendige Hilfsmassnahmen zu diskutieren - als sei er bereits Kanzler. Tagelang hatte der bayerische Ministerpräsident die Flut aus der Ferne beobachtet, sich geweigert, seinen Urlaub auf der Nordseeinsel Juist abzubrechen. Nun sollte der Bürger spüren, wie nahe ihnen der Unionsfürst ist. Ein Sonderfonds "Flutkatastrophe 2002" müsse schleunigst her, so forderte der Kandidat, noch in diesem Jahr sollten für die Bewältigung der Hochwasserschäden in Deutschland zwei Milliarden Euro zur Verfügung gestellt werden.
So rasch wie mancherorts das Wasser steigt, schwellen derzeit die Hilfspakete an. Bundeskanzler Gerhard Schröder war der Schnellste, schon am Mittwoch stellte er sein Sofortprogramm vor. Er versprach Selbständigen, Landwirten und anderen Bedürftigen Hilfen in Höhe von 385 Millionen Euro, am Freitag wurden die ersten Zahlungen überwiesen. Auf einem Flutgipfel wollen Schröder und sein Außenminister Joschka Fischer an diesem Sonntag mit ihren Amtskollegen aus betroffenen Staaten über
Hilfsmaßnahmen für die Opfer der Flutkatastrophe in Mitteleuropa beraten.
Flutgefahr mit Atomkraftwerken dämmen
Am Samstag meldete sich dann sein Gegner mit dem vierfachen Betrag zu Wort, auch das wird nicht das Ende sein. Schäden von fünf Milliarden Euro hat der sächsische Ministerpräsident Milbradt allein an der Infrastruktur seines Landes ausgemacht, aus der Staatskanzlei ist schon die Summe von zehn Milliarden zu vernehmen. Und für den Flutexperten Stoiber liegt der Gesamtschaden sogar zwischen 10 und 15 Milliarden Euro.
EPA/DPA Kanzler Schröder:
Sofortprogramm für Flutopfer
Noch mitten in der Katastrophe sind die Frontmänner der Parteien mit Macht dabei, die Bewältigung der Flut zum Top- Wahlkampfthema zu machen - trotz aller gegenteiliger Bekundungen.
Bundesfinanzminister Hans Eichel (SPD) hat eine nationale Krisenkonferenz von Bund und Ländern zur Bewältigung der Flutschäden angekündigt. FDP-Vize Jürgen Möllemann fordert eine sofortige Sondersitzung des Bundestages, um über die Flut zu debattieren. Innenminister Schily will die Mittel für den Katastrophenschutz aufstocken. Der stellvertretende FDP-Chef Rainer Brüderle rät, mit den Devisen-Reserven der Bundesbank einen Notfallfonds einzurichten, um dadurch bis zu zehn Milliarden Euro bereitzustellen. Für den CSU-Politiker Horst Seehofer braucht es ähnliche Aufbauanstrengungen wie nach dem Zusammenbruch der DDR.
Kaum ein Thema bleibt, das nicht irgendwie mit den Fluten zusammengebracht werden kann: Unionspolitiker wie der Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, Wolfgang Böhmer (CDU),wollen die Flutgefahr in der Zukunft mit neuen Atomkraftwerken dämmen und legen nahe, dass der von Grünen und SPD durchgesetzte Atomausstieg das Wetter-Chaos nur verschlimmern würde. Brandenburgs früherer Ministerpräsident Manfred Stolpe (SPD) will eine Aufweichung der EU-Stabilitätskriterien
nicht auszuschließen. Die Bekämpfung der Not habe schließlich Vorrang. Und selbst der PDS-Mann Gregor Gysi gesellt sich zu den Flut-Surfern und meldet sich mit einem besonders durchdachten Vorschlag zu Wort: Man solle doch lieber die Wahl verschieben, weil wegen des Flut-Chaos möglicherweise nicht allen Bürgern die Wahlunterlagen rechtzeitig zugestellt werden könnten.
Flut verdrängt Wirtschaftskrise
Unbestritten muss den Betroffenen geholfen werden, rasch und ohne allzu viel Bürokratie. Unbestritten wird der Aufbau im Osten Milliarden kosten. Doch die Inflation der Notprogramme lässt befürchten, dass die Fluthilfe alle anderen Themen der Wahl ablöst, dass Aktionismus die Vernunft verdrängt. Kein Flutopfer braucht das Gerede vom "nationalen Notstand", braucht die großen Gesten, braucht teure Gipfel.
Doch die Gelegenheit scheint den Spitzenkandidaten offenbar zu verlockend. Schleppend hat sich der Wahlkampf in den vergangenen Monaten hingezogen, entsetzt ob der Konzept-Losigkeit der Spitzenpolitiker hatten sich mehr und mehr Bürger abgewandt. Fünf Wochen vor der Wahl sind noch immer 45 Prozent der Wähler unentschlossen, ermittelte das Institut Dimap.
Immer deutlicher wurde, dass der Kanzler und sein Gegner für das eigentliche Problem des Jahres, Wirtschaftskrise und Massenarbeitslosigkeit, keine überzeugenden Lösungen entwickelt hatten. Die Verkündung des Hartz-Papiers am Freitag, als große Inszenierung geplant, soff zwischen den Hochwasser-Meldungen ab und geriet zum Nicht-Ereignis. Schon zuvor waren allerdings weitreichende Reformen wie die Ausweitung des Niedriglohnsektors abgeblasen oder verwässert worden. Die Bürger hatten es längst durschaut: Über 80 Prozent, so ermittelte Dimap, halten die Vorschläge für "Schaumschlägerei".
Der Unions-Kandidat wiederum schaffte es bis heute nicht, ein überzeugendes Reform-Programm vorzulegen. Aus Angst, mit der Forderung nach unbequemen Maßnahmen die Wähler zu vergraulen, wird das Thema schlicht verschoben. Sollte Stoiber seine Ankündigung, die Staatsquote auf 40 Prozent zu senken, jemals ernst gemeint haben, wäre dagegen ein Reformprogramm von historischen Dimensionen und außergewöhnlicher Radikalität nötig. Doch davon sind bisher nicht einmal Fragmente zu entdecken.
Gefährliche Diskussion
Nun schwemmte sich die Flut als rettendes Thema in die letzten Wochen bis zum 22.September. Besonders gefährlich könnte sich dabei die Diskussion um die Aufweichung der Maastricht-Stabilitätskriterien erweisen. Alle Politiker wissen, dass mehr Toleranz bei der Verschuldung eine heikle Kettenreaktion nach sich ziehen könnte. Alle europäische Länder mühen sich, mit Umschichtungen, Reformen und oft unpopulären Sparmassnahmen die Kriterien einzuhalten. Österreich etwa, durch die Fluten der vergangenen Wochen schwer geschädigt, will die Verschuldungsgrenzen einhalten und stattdessen lieber an den Militärausgaben sparen.
Etliche Regierungen würden allerdings nur allzu gern die engen Vorgaben lockern. Dadurch allerdings würde nicht nur der gerade erstarkte Euro wieder ins Rutschen geraten, sondern auch dringend nötige Haushalts- Reformen verschoben werden - nur um in wenigen Jahren zu umso größeren Problemen zu führen.
Noch ist nicht klar, ob die Flut tatsächlich die Rettung für die vor der Abwahl stehende Regierung bringen könnte. Nach Einschätzung von Wahlforschern bringt die Hochwasserkatastrophe der regierenden rot- grünen Koalition in Berlin keine Pluspunkte. Der Chef des Meinungsforschungsinstituts Dimap, Reinhard Schlinkert, wies darauf hin, dass die direkte Hilfe in den Hochwassergebieten von Bayern, Sachsen und Sachsen-Anhalt vor allem über die jeweilige unionsgeführte Landesregierung wahrgenommen werde.
Andererseits würden Schröder selbst wenige Prozentpunkte mehr helfen. Je mehr das Umwelt-Thema in den nächsten Tagen in den Vordergrund rückt, umso mehr wird eine offen Flanke der Union exponiert: Stoiber hat kein Umweltprogramm, nicht einmal einen Spezialisten für Umweltfragen in seinem Kompetenzteam. Zudem gibt die Flut dem Kanzler endlich Gelegenheit, sein Macher-Image wieder herzustellen, dass er durch die von ihm vor zwei Jahren verkündete Politik der ruhigen Hand auf so fatale Weise beschädigt hatte.
"Schröder ist kein religiöser Mensch. Aber wenn er die Wahl doch
noch gewinnt, kann er einzig und allein dem Allmächtigen dafür
danken.", kommentierte die britische Tageszeitung Independent.
Die Flut, ein Gottesgeschenk für den Kanzler?