Die A3 nahe Würzburg, in der vergangenen Woche: Ein Lkw durchbricht die Leitplanke und stürzt um. Bei dem Unfall wird der Fahrer schwer verletzt. Obwohl die Autobahn nicht gesperrt ist, kommt der Verkehr fast zum Stehen. Die Vorbeifahrenden gaffen. Das ist nicht nur ein Ärgernis, sondern auch eine Gefahr.
Udo Spiegel
Autobahn-Polizei Biebelried
"Aus kleinen Unfällen, die vorne passieren, fahren die Leute dann vorbei an der Unfallstelle, schauen sich alles genau an, und am Stauende, das sich hinten dann bildet, passieren schwere Folge-unfälle mit Verletzten und Toten."
Ein solcher Unfall hat sich erst vor drei Monaten nur ein paar Kilometer weiter ereignet. Ein Lkw rast ungebremst in ein Stauende, schiebt einen Pkw in einen Bus. Die Insassen des Autos sind sofort tot. Wie so oft versammeln sich Schaulustige, die die Helfer bei jedem Handgriff beobachten. Die Bergung der entstellten Leichen muß hinter Decken geschehen, um die Toten den neugierigen Augen und den Videokameras der Gaffer zu entziehen.
Matthias Stürmer
Autobahn-Polizei Biebelried
"Als Polizist und auch als Mensch fehlt mir jedes Verständnis für dieses Gaffertum, das wir immer wieder an Unfallstellen erleben müssen. Daß die Leute bis zur Absperrung vorlaufen, um besser sehen zu können, daß sie sich auf den Böschungen versammeln, um sich am Leid ihrer Mitmenschen zu erfreuen. Es ist einmal sogar vorgekommen, daß ein Mann zu einer abgedeckten Leiche gegangen ist, hat die Decke hochgehoben, um sich den Toten anzuschauen!"
Hingucken, sehen wollen - eine unselige Neugier, der sich viele nicht entziehen können. Aber: sie vergessen das Risiko.
Prof. Wulf Dombrowsky
Katastrophenforscher
"Es kann jeden von uns in jedem Moment erwischen! Jedes Jahr 5 000, 6 000, manchmal sogar 9 000 Verkehrstote, die meisten Kinder - es kann jeden per Zufall erwischen! Und das macht: ´Oh Gott´ - und dann: ´Was ist los? Wie sieht´s aus? Schlimm? Und das sind genau die Zehntelsekunden, die schon reichen können, um: bumm!"
Die Folgen können so aussehen. Abgelenkt durch einen Unfall auf der Gegenfahrbahn rasten hier, auf der A2 bei Magdeburg, 80 Autos ineinander. 27 Menschen wurden verletzt. Und immer wieder machen Rettungskräfte die Erfahrung, daß ihnen Menschenansammlungen das schnelle Erreichen der Unfallsstelle erschweren. Selbst die Hilfe aus der Luft ist davor nicht gefeit.
Peter Fritz
Rettungsflieger
"Wenn dann am Notfallort sich eine größere Ansammlung von Bürgern befindet, die uns praktisch die Landung in der Nähe des Notfallorts erschweren, dann ist unser Zeitvorsprung - der also eigentlich das Positive an der Luftrettung ist -, zum großen Teil schon wieder aufgebraucht. Denn es geht ja dort nicht um Stunden, sondern um Minuten oder gar Sekunden!"
Was Rettungskräfte vor allem erschüttert: wenn Schaulustige, die vordem Notarzt am Unfallort sind, simpelste Hilfleistungen nicht durchgeführt haben. Je mehr Gaffer zusammenstehen, desto geringer die Neigung des Einzelnen, zu helfen.
Peter Fritz
Rettungsflieger
"Die Masse hilft nicht! Nein, die Masse hilft nicht. Die Masse guckt, staunt, aber hilft nicht!"
Bernd Rüdiger
Feuerwehr Kitzingen
"Wir erleben das sehr oft, daß Leute schauen, aber wenn man sagt: ´Geh´ mal her, faß´ mal mit an, hilf mal - daß sie dann zurückweichen und sich dann aus dem Staub machen, ohne zu helfen!"
Die A 61 bei Mönchengladbach. Hier verunglückte eine Familie mit sechs Kindern. Zwei lagen nach dem Unfall im Koma - reines Glück, daß alle überlebten. Am Unfallort: viel Gaffer, wenig Hilfe. Die Mutter ist noch immer schockiert.
Gabriele Hudel
Unfallopfer
"Es war Film, es war wie in einem Horrorfilm! Man guckt sich sowas halt einfach an. Auf der Straße liegt ein schwerverletztes Kind - ich hab´ dann geschrien, ich hab´ sie angebrülllt: ´ihr Arschlöcher, helft doch mal! Bringt doch mal Wasser!´ Oder - die standen da, tranken ihre Cola oder ihre Wasserflasche, und das Kind lag auf der Straße, und - also das ist eine der schlimmsten Erfahrungen von so einem Unfall auch: daß Leute einfach - stehen da und die Hilfe einem verwehren! Da stirbt vielleicht ein Kind auf der Straße, oder da sterben Menschen auf der Straße, und andere stehen da und schauen dabei zu. Bei dem Tod mit zuschauen, das ist also eine ganz schlimme Erfahrung gewesen!"
Universitätsklinik Würzburg. Die Notärzte hier wissen, welcher Schaden entstehen kann, wenn die Hilfe nur eine Minute später als nötig zum Verletzten kommt. Ein Problem, das nicht nur gelegentlich auftritt.
Prof. Peter Sefrin
Notarzt/Arbeitsgemeinschaft Notärzte Deutschlands
"Jeder fünfte Rettungseinsatz, zu dem wir als Notärzte gerufen werden, wird durch Gaffer behindert. Eine Behinderung, bei der cirka 60 000 Unfallopfer einen Schaden davontragen einfach deswegen, weil nicht zeitgerecht die Hilfe bei ihnen ankommen kann. Diese Zeit, die hier vertan wird durch Notfallzeugen, könnte überbrückt werden durch eine tatsächliche Hilfeleistung: eine erste Hilfe. Jeder zehnte, der am Unfallort verstirbt, könnte heute noch leben, wenn eine sachgerechte erste Hilfe durch Notfallzeugen geleistet würde, anstatt nur zuzuschauen!"
Doch manche Unfallzeugen schrecken schon deshalb vor Hilfeleistung zurück, weil sie unsicher sind. Den Erste-Hilfe-Kurs haben sie vor der Führerscheinprüfung absolviert, dann nie wieder. Diesen Kurs regelmäßig aufzufrischen, ist nicht vorgeschrieben. Von Bestrafung halten Notärzte deshalb wenig.
Prof. Peter Sefrin
Notarzt/Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft der in Bayern tätigen Notärzte
Stellv. Vors. der Bundesvereinigung der Arbeitsgemeinschaften Notärzte
Deutschlands (BAND)
"Wir glauben als Notärzte, daß nicht vordergründig die Drohung mit einer Strafe hier notwendig ist, als vielmehr die Tatsache, darauf hinzuweisen daß, wenn die Möglichkeiten der Hilfeleistung durch den Rettungsdienst und den Notarzt rechtzeitig am Patienten eintreffen könnten - daß dann wirklich solche Opfer überleben und geringere Schäden davontragen!"
Also Aufklärung statt Strafe. Jedem muß klar werden, daß jährlich Tausende Unfallopfer vermeidbare Verletzungsfolgen davontragen oder gar zu Tode kommen, weil Gaffer nicht helfen oder die Rettungskräfte behindern.
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