Eichel droht angeblich mit Rücktritt
In der Diskussion über Steuererhöhungen ist in der Bundesregierung offener Streit ausgebrochen. Finanzminister Eichel soll sogar seinen Rücktritt angedroht haben, falls Deutschland seinen Sparkurs verlassen und den EU-Stabilitätspakt brechen sollte.
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Finanzminister Eichel soll seinen Rücktritt angedroht haben
Berlin - Eichel bestehe darauf, dass Deutschland auf dem Kurs der Haushaltskonsolidierung bleibe und die EU-Stabilitätskriterien einhalte, berichtet die "Financial Times" unter Berufung auf Ministeriumskreise. "Um das zu erreichen, könnte Eichel falls nötig mit seinem Rücktritt drohen", habe ein Beamter im Bundesfinanzministerium gesagt.
Bundeswirtschaftsminister Werner Müller kritisierte unterdessen die Debatte um Steuererhöhungen als "nicht förderlich für die Wirtschaftspolitik". "Die Koalition sollte sich darauf konzentrieren, was in den Wahlprogrammen steht. Von Steuererhöhungen war jedenfalls nicht die Rede", sagte der parteilose Minister der "Westdeutschen Allgemeinen Zeitung". "Wir sollten unseren schönen Wahlsieg nicht durch solche Diskussionsbeiträge kaputt reden und den Bürger nicht ohne Not verärgern."
DPA
Wirtschaftsminister Müller: Für Steuererhöhungen nichts übrig
Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) hatte zuvor einen Aufschlag auf die Tabaksteuer vorgeschlagen. Die SPD-regierten Länder Niedersachsen und Rheinland-Pfalz hatten eine Wiedereinführung der Vermögenssteuer und die Erhöhung der Erbschaftssteuer ins Gespräch gebracht. Unter Berufung auf Regierungskreise berichtete die "Süddeutsche Zeitung", es sei zudem geplant, Verlustvorträge zu begrenzen, in denen Unternehmen Verluste aus der Vergangenheit mit Gewinnen aus der Gegenwart verrechnen können. Im Gespräch sei auch eine Mindeststeuer für Kapitalgesellschaften.
Aus Regierungskreisen wurde außerdem bekannt, dass SPD und Grüne auch eine Anhebung des verminderten Mehrwertsteuersatzes für Agrarprodukte sowie Hunde- und Katzenfutter auf bis zu 16 von derzeit sieben Prozent diskutieren wollten. Die Grünen haben ferner angekündigt, die Ausnahmen bei der Ökosteuer schrittweise streichen zu wollen.
Müntefering schließt Steuererhöhungen aus
SPD-Fraktionschef Franz Müntefering, der bei den Koalitionsverhandlungen noch über Erbschaftsteuer, Vermögenssteuer und ökologische Steuerreform hatte sprechen wollen, schloss jetzt im ZDF eine Anhebung der Mehrwert- oder Tabaksteuer kategorisch aus. Das werde es "mit uns" nicht geben, sagte Müntefering.
Um die Haushaltslöcher zu stopfen, werde man den Sparkurs beibehalten und versuchen, weitere Einnahmequellen zu erschließen. Müntefering sprach sich dafür aus, die Nettokreditaufnahme zu reduzieren und konsequent gegen Steuerbetrug vorzugehen. "Das sind große Brocken", sagte der SPD-Politiker. Das Ziel der rot-grünen Koalitionsverhandlungen sei Beschäftigung. "Das was der Beschäftigung dient, was neue Arbeitsplätze bringt, das werden wir tun."
AP
SPD-Fraktionschef Müntefering: Rückwärtsgang in der Steuerdebatte
Die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) sagte unterdessen den Verlust von 50.000 Arbeitsplätzen in der Zigarettenindustrie voraus, sollte die Tabaksteuer erhöht oder eine Raucherabgabe eingeführt werden.
Zu Beginn ihrer Sachverhandlungen wollen SPD und Grüne zunächst den finanziellen Spielraum für ihre Vorhaben ausloten. Finanzminister Hans Eichel (SPD) kündigte an, er werde mit konkreten Vorschlägen für ein Sparpaket von zehn Milliarden Euro in die Gespräche gehen. Der Anpassungsbedarf für den Haushalt 2003 belaufe sich ohne Erhöhung der geplanten Neuverschuldung von 15,5 Milliarden Euro auf zehn Milliarden Euro. Details will Eichel heute Abend bei der ersten Verhandlungsrunde von SPD und Grünen vorlegen. Wirtschaft und Opposition hatten die Pläne führender SPD-Politiker zur Anhebung verschiedener Steuern am Wochenende strikt abgelehnt.
Wachstumsprognose nach unten korrigiert
Eichel nahm zugleich seine Wachstumsprognose für den Zeitraum bis 2006 von 2,5 auf 1,5 Prozent pro Jahr zurück. Ob ein Nachtragshaushalt 2002 nötig sei, "müssen wir uns später noch einmal genau anschauen", sagte der Minister. Im Moment liefen die Steuereinnahmen wieder besser. Verärgert zeigte sich Eichel über die Steuerdiskussion: "Ich führe keine Debatte über Steuererhöhungen und bin dagegen, an Steuersätzen zu drehen."
Die nordrhein-westfälische Umweltministerin Bärbel Höhn (Grüne) verteidigte eine mögliche Fortschreibung der Ökosteuer. "Die Ökosteuer ist grundsätzlich ein kluges Instrument", sagte sie. Andere Vorschläge, wie man die Lohnnebenkosten senken und gleichzeitig den Klimaschutz verbessern könnte, müssten sich an der Lenkungswirkung der Ökosteuer messen lassen.
Sommer fordert Ende des Sparkurses
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DGB-Chef Michael Sommer forderte dagegen das Ende des Sparkurses der Bundesregierung und ein zusätzliches Investitionsprogramm, um die Beschäftigung anzuregen. "Man kann in Zeiten schlechter Konjunktur einen Staatshaushalt nicht sanieren", sagte er der "Berliner Zeitung". Zur Not müsse Eichel eine höhere Neuverschuldung in Kauf nehmen. Die Schmerzgrenze der Arbeitnehmer sei erreicht. Es dürfe keine höheren Zuzahlungen auf Medikamente und keine Senkung der Entfernungspauschale oder andere Verschlechterungen geben.
SPD und Grüne wollen ihre Koalitionsverhandlungen möglichst bis in drei Wochen abschließen. Bei weiteren Verhandlungsrunden soll es um die Ökosteuer, die Umsetzung des Hartz-Konzeptes zur besseren Arbeitsvermittlung sowie um die doppelte Staatsbürgerschaft und die von den Grünen bevorzugte Berufsarmee gehen.
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