Visionäre der New Economy versprachen zu viel. Ihre Macher rechneten zu wenig. Die wahre Ökonomie überlebt sie alle
Von Gunhild Lütge
Ist sie nun tot oder lebendig? „Ruhe in Frieden, New Economy“ – mit diesen Worten begrub William Dudley, der Chefvolkswirt des US-Investmenthauses Goldman Sachs, im vergangenen Jahr viele Träume von einer neuen Wirtschaftsordnung. Seither herrscht Ruhe. Aber Frieden ist nicht eingekehrt.
Die internationale Musikindustrie kämpft mit aller Macht gegen Online-Piraten. Deutschlands Apotheker wehren sich gegen den Handel im Netz. Virtuelle Auktionen sind ein Renner. Das alles deutet nicht gerade darauf hin, dass die New Economy tot ist. Leidenschaftlich gestritten wird denn auch bis heute, ob sie tatsächlich ins Reich der Mythen gehört – oder am Ende doch noch hält, was ihre Advokaten versprachen.
Wer es selbst wissen will und den Begriff in eine Suchmaschine des Internet eingibt, erhält in 0,06 Sekunden 5,3 Millionen Hinweise. Schon allein deshalb kann sie nicht gestorben sein. So richtig lebendig ist die Neue Wirtschaft aber auch nicht. Ruft man nur die in den vergangenen zwölf Monaten aktualisierten Websites auf, schrumpft das Ergebnis auf die Hälfte. Damit, so scheint es, dokumentiert ausgerechnet das Zentralorgan der New Economy das schwindende Interesse an sich selbst. Falsch.
Das Internet hat es inzwischen zum Massenmedium gebracht. Allein in Deutschland sind rund 16 Millionen Haushalte (44 Prozent) ans Netz angeschlossen. 30 Milliarden E-Mails landen Tag für Tag in den elektronischen Postkästen der weltweit 500 Millionen Menschen mit einem Internet-Zugang, schätzen die amerikanischen Marktforscher von IDC.
Die New Economy aber mag trotzdem niemand mehr. Manager nicht. Medien nicht. Und Finanzmärkte schon gar nicht. Die Protagonisten der Internet-Ökonomie, die angeblich ganz neuen Regeln gehorcht, stehen als Fantasten da. Die Dotcom-Visionäre sind entlarvt. Ihre Idee von der New Economy hat sich – ganz offensichtlich – als der bislang größte Bluff in der Wirtschaftsgeschichte entpuppt. Nicht ganz so falsch.
Ewiges Wachstum ohne Dellen, stetig steigende Produktivität und Aktienkurse – das waren die Versprechen der Gurus. Vorneweg auch Macher wie John T. Chambers. Er ist der Chef von Cisco, einem US-Konzern, der all jene beliefert, welche die Infrastrukturen für das Internet bauen, sozusagen die Informations-Highways. „Dies ist wahrhaftig eine industrielle Revolution. Sie wird das Leben der Menschen komplett verändern“, sagte er, als die neue Bewegung noch nach Anhängern suchte. Es wurden mehr und mehr.
Viele hofften auf eine Wissensgesellschaft, in der virtuell fast alles fluppt. Es klang schon immer zu schön, um wahr zu sein. Doch irgendwie mochten alle daran glauben. Pardon: viele. Einer, der von Anfang an Zweifel hatte, ist der Princeton-Ökonom Alan Blinder, ein ehmaliger Vizegouverneur der amerikanischen Notenbank. Er hielt den Spruch von der dauerhaften Beschleunigung des Produktivitätswachstums schon immer für mostly poppycock, also schlicht für Quatsch. Doch die Skeptiker wurden von den Visionären übertönt.
Alles billiger, vieles gratis
Schauplatz USA, Mitte der neunziger Jahre. Von dort geht die Initialzündung aus. Die Produktivität steigt, die Arbeitslosigkeit sinkt. Ein fantastischer Boom löst Begeisterung aus. Selbst der sonst so vorsichtige Zentralbankchef Alan Greenspan lässt sich dazu hinreißen, eine neue Ära anzudeuten. In die Konzernzentralen kommt Bewegung. Eine Mischung aus Euphorie und Angst macht sich breit. Die Schnellen fressen die Langsamen. In einem Internet-Jahr, so heißt es, wird so viel geschehen wie zuvor in sieben Jahren. Bewährte ökonomische Regeln gelten nichts mehr.
Vor allem an den Finanzmärkten liegt der Wunsch nach Deregulierung in der Luft. Selbst im konservativen Deutschland entsteht der Neue Markt, ein Ableger der traditionellen Börse. Weniger strenge Regeln sollen es den jungen Pionieren einfacher machen, sich Geld zu beschaffen. Das klappt. Kapital fließt jede Menge.
Die virtuelle und globalisierte Netz-Wirtschaft bietet zudem die Chance, scheinbar überholte Gesetze ins Leere laufen zu lassen. Das Web sprengt die Vorschriften nationaler Staaten. Daten- und Jugendschutz? Steuer- und Urheberrechte? Alles wird infrage gestellt. Und das schneller, als die Polizei erlaubt. Politiker, Analysten, Finanzinvestoren und Berater sind wie elektrisiert. Unternehmen stecken viele Milliarden Dollar in neue Computer und Software. Auch in Europa und Deutschland. Niemand will abgehängt werden.
Neue Begriffe erobern die Schlagzeilen: E-Mail, E-Commerce, E-Business, E-Shopping. Alles New Economy. Das Netz mausert sich zum Eldorado für Verbraucher. Dort gibt es vieles billiger, manches sogar gratis: Software, die man braucht, um nutzen zu können, was das Internet so bietet. Auch Informationen. Ein verhängnisvoller Trend. Er wird der Web-Wirtschaft noch zu schaffen machen.
All das, was etwas kostet, soll nicht mehr mit Geld, sondern Digits bezahlt werden, einer neuen Internet-Währung. Die Notenbanken dieser Welt beginnen sich Sorgen darüber zu machen, ob sie auf Dauer noch die Hoheit über den schnöden und bald digitalen Mammon behalten.
Dann der Schock. Doch kein Produktivitätswunder. Die Rate in den USA schrumpft wieder. Die viel gepriesenen jungen Unternehmen, kurz Dotcoms genannt, gehen reihenweise Pleite – und die Börsenkurse auf Talfahrt. Milliarden Dollar und Euro wurden einfach verbrannt. Die neue, alte Erkenntnis: Ohne Gewinne läuft auf Dauer nichts. Nach und nach erobern sich die Regeln der Old Economy verlorenes Terrain zurück. Und gerade so, als wollten sie sich für ihre Missachtung rächen, kriselt schließlich die gesamte Wirtschaft, in den USA und rund um den Globus.
Die New Economy sei nur eine Erfindung der Medien und von Wall Street gewesen, glaubt Jeff Madrick, Kolumnist der New York Times und scharfer Kritiker des Hypes. Die New-Economy-Rhetorik habe das Gefühl vermittelt, „dass Amerika seine zentralen wirtschaftlichen Probleme gelöst hat“. Ein Marketingtrick, der dazu geführt habe, dass jeder die New Economy zu verstehen glaubte: „So wurde sie zu dem, was sich jeder wünschte.“ Mit anderen Worten: eine Fata Morgana.
Zum Aufschwung Mitte der neunziger Jahre hätten vor allem die sinkenden Preise für Computerchips beigetragen, so seine Erklärung. Und der sinkende Ölpreis, glaubt der britische Ökonom Andrew Oswald von der Universität Warwick. Ob Chips oder Öl: Die günstigen Rohstoffpreise sorgten sehr wahrscheinlich für den konjunkturellen Boom. Und der verstärkte Einsatz von Informationstechnik erzeugte wachsende Produktivität. So einfach könnte es gewesen sein. Was aber bleibt dann von der New Economy?
Nichts als Verluste und Zerstörung, so ein nahe liegender Verdacht. Jedenfalls dann, wenn Kleinanleger ihr Vermögen betrachten. Und Unternehmen ihre Fehlinvestitionen. Rund 140 Milliarden Euro sollen es allein in Europa gewesen sein, glaubt Andy Kyte vom Marktforschungsinstitut Gartner. Geld, das in E-Projekte floss – und auf Nimmerwiedersehen im Nirwana des World Wide Web verschwand.
Nicht nur Analysten, sondern auch Wirtschaftsprüfer und Firmenchefs verloren an Glaubwürdigkeit. Selbst der einstige Star Steve Case, der Gründer des amerikanischen Online-Dienstes AOL. Als sich der Newcomer den Traditionskonzern Time Warner vor zwei Jahren einverleibte, schien das der schlagende Beweis für die Argumente jener, die ein neues Zeitalter ausgerufen hatten. Doch die erhofften Synergien blieben aus. Der alliierte Konzern musste jüngst mit fast 100 Milliarden Dollar den größten Verlust in der Firmengeschichte ausweisen. Steve Case trat zurück. Auch viele etablierte Konzerne, manchmal ganze Branchen, traf es hart. Buchhändler gerieten ebenso in Panik wie Deutschlands Apotheker. Junge Start-ups brachten mit ihren Online-Angeboten im Netz die festgefügten Strukturen ins Wanken. Gut so, riefen jene, die sich schon immer einbetoniert fühlten. Als Mitarbeiter oder Kunden. Zum Beispiel Musikliebhaber.
Netz-Rebellen machen Druck
Sie konnten sich plötzlich per Mausklick ihre Lieblingsstücke aus dem Netz „saugen“. Gratis. Biedere Bürger wurden so zu Online-Piraten. Einer der Ersten, die das möglich machten, war der damals 19-jährige Shawn Fanning, der Schöpfer der bislang noch immer populärsten Musiktauschbörse Napster. Die hatte er nur so zum Spaß ins Netz gestellt. Zwar wurde ihr inzwischen der Garaus gemacht, berühmt aber ist sie immer noch.
Ausgerechnet der deutsche Medienriese Bertelsmann hatte sich bei Napster engagiert, um daraus einen neuen Bezahldienst zu kreieren. Ganz legal. Doch alles ging schief. Und wie es aussieht, muss Bertelsmann vielleicht auch noch sehr viel Lehrgeld bezahlen. Dem Konzern droht in den USA wegen seines Engagements bei dem jungen Wilden eine Klage: auf 17 Milliarden Dollar Schadensersatz.
Derweil entstanden mit Kazaa und Co immer neue Angebote. Wegen der frechen Internet-Pioniere steckt die Musikindustrie in der Krise. Selbst verschuldet, behaupten viele. Denn den großen Konzernen gelang es bisher nicht, mit eigenen attraktiven Diensten den trickreichen Netz-Rebellen das Handwerk zu legen. Noch nicht.
Hier beginnt, hoffentlich, das schöpferische Kapitel der New Economy.
Über kurz oder lang werden sich alle, die am Musikgeschäft beteiligt sind, etwas mehr einfallen lassen müssen, als die selbst ernannten Freiheitskämpfer mit Klagen und technischen Tricks in Schach zu halten. Denn immer mehr Menschen wissen das neue Medium zu nutzen. Nicht nur, um Songs aufzuspüren. Sie beschaffen sich Informationen über Yahoo oder Google, an die sie sonst nie herangekommen wären. Ersteigern bei eBay Dinge, die sie in der realen Welt so günstig nie bekommen hätten: Oliver Kahns Torwarthandschuhe, Hüftprothesen oder auch Toilettendeckel.
Alle drei Dotcoms haben den Crash überlebt. Genau wie Amazon, der Netz-Buchhändler, der sich zum elektronischen Warenhaus entwickelt hat. Und selbst traditionelle Versender, wie hierzulande beispielsweise Otto oder KarstadtQuelle, bekamen die Kurve. Sie machen im Netz inzwischen gute Geschäfte.
Die Oldies hatten einen großen Vorteil: Geht es um Produkte, die – anders als Musik, Texte oder Bilder – nicht digitalisierbar sind, kommen Gabelstapler, Lagerhallen und Lkw ins Spiel. Die Newcomer mussten erst einmal begreifen, dass es die Logistik ist, die über Erfolg und Misserfolg entscheidet. Und nicht die bunten Websites. Umgekehrt machten betuliche Konzernstrategen die Erfahrung, dass so ein Internet-Auftritt tatsächlich Kunden binden kann. Sie entdeckten das Netz als neuen Vertriebskanal.
Insgesamt kauften die Deutschen via Netz im vergangenen Jahr für 8 Milliarden Euro ein – 60Prozent mehr als 2001. Allerdings macht das erst 1,6 Prozent des gesamten Einzelhandelsumsatzes aus. Zudem benehmen sich die Surfer höchst eigenwillig. Erst 7 Prozent der Internet-Nutzer haben bislang eine Versicherung im Netz abgeschlossen, fanden die Marktforscher von Fittkau & Maaß heraus. Dagegen ist Online-Banking ein Hit. Rund zwei Drittel führen ihre Konten bereits auf elektronischem Wege.
Die eigentliche (R)evolution aber vollzieht sich hinter den Kulissen: auf den Büroetagen. Ingenieure können per Mausklick Maschinen warten, die am anderen Ende der Erde stehen. Konstruktionspläne oder Röntgenbilder flitzen in Sekunden quer über den Globus. Ob Papier oder Bleistifte, Pflasterverlegemaschinen, Bodendurchschlagsraketen oder Turmdrehkräne: Im Netz ist so gut wie alles zu haben. Virtuelle Marktplätze nennt man diese Orte, an denen Geschäftskunden verhandeln, ohne sich je gesehen zu haben. Zwei Drittel aller Unternehmen in Deutschland nutzten bereits 2001 das Netz für ihre Geschäftsabläufe.
Doch alles entwickelt sich still und leise – und vor allem: viel langsamer als ursprünglich gedacht. „Wenn man aus dem Aufstieg und Fall der New Economy etwas lernen kann, dann dass neue Konzepte einfach Zeit brauchen, bis sie sich durchsetzen“, sagt Thorsen Wichmann, Geschäftsführer des Marktforschungsunternehmens Berlecon Research. Vor allem dem elektronischen Handel zwischen den Unternehmen, auch kurz B2B genannt, wird nach wie vor eine große Zukunft prophezeit. Nach einer Prognose der Marktforscher von Forrester Research soll er bis zum Jahr 2006 in ganz Europa auf stattliche 2,2 Billionen Euro ansteigen. Das wären dann gut 20 Prozent des gesamten Handels. Mal sehen.
Beispiel KarstadtQuelle: Im vergangenen Jahr nahmen die Einkäufer an rund 1200 Internet-Auktionen teil. Statt, wie früher, im Schnitt 12 Tage brauchten sie so oft nur wenige Stunden, um sich auf Preise zu einigen. Und die Textilbeschaffung kann inzwischen mit Lieferanten in ganz Asien abgewickelt werden.
Beispiel DaimlerChrysler: 700 Online-Auktionen und 80000 Dokumente, die seit April 2002 papierlos mit 1300 Geschäftspartnern ausgetauscht wurden.
Beispiel Bayer: Mehr als 12000 Mitarbeiter bestellen bereits online. Rund 70 Prozent aller Aufträge werden inzwischen auf diese Weise erteilt.
Aber auch hier gilt: Wunder dauern etwas länger. Das amerikanische Wirtschaftsmagazin Business Week rechnete das seinen Lesern am Beispiel Cisco vor. Der US-Konzern hat seine eigenen Informationsströme schon sehr früh automatisiert. Das bringt eine Ersparnis von rund 1,4 Milliarden Dollar im Jahr. Etwa sieben Prozent des Umsatzes. Das sei zwar kein Pappenstiel, schreibt das Blatt, aber auch keine Revolution.
Vergisst man also den Hype und die Mythen rund um die New Economy, bleibt das Netz als ein mächtiges Werkzeug für schnellere und bessere Kommunikation. Eine Effizienzmaschine also. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Der größte Irrtum war wohl zu glauben, dass sich der Fortschritt selbst übertrifft. Die Zeit schlug den Ungeduldigen ein Schnippchen. Übrigens nicht zum ersten Mal.
Innovationen hatten immer zwei Begleiter: Euphorie und Skepsis. Nicht selten blamierten sich auch die Zweifler. „Das Telefon hat zu viele ernsthaft zu bedenkende Mängel für ein Kommunikationsmittel. Das Gerät ist von Natur aus von keinem Wert für uns“, glaubte man 1876 bei Western Union. Und den weltweiten Markt von Computern schätzte Thomas Watson einst auf „vielleicht fünf“. Man schrieb das Jahr 1943 – und Watson war der Vorsitzende von IBM.
Von Gunhild Lütge
Ist sie nun tot oder lebendig? „Ruhe in Frieden, New Economy“ – mit diesen Worten begrub William Dudley, der Chefvolkswirt des US-Investmenthauses Goldman Sachs, im vergangenen Jahr viele Träume von einer neuen Wirtschaftsordnung. Seither herrscht Ruhe. Aber Frieden ist nicht eingekehrt.
Die internationale Musikindustrie kämpft mit aller Macht gegen Online-Piraten. Deutschlands Apotheker wehren sich gegen den Handel im Netz. Virtuelle Auktionen sind ein Renner. Das alles deutet nicht gerade darauf hin, dass die New Economy tot ist. Leidenschaftlich gestritten wird denn auch bis heute, ob sie tatsächlich ins Reich der Mythen gehört – oder am Ende doch noch hält, was ihre Advokaten versprachen.
Wer es selbst wissen will und den Begriff in eine Suchmaschine des Internet eingibt, erhält in 0,06 Sekunden 5,3 Millionen Hinweise. Schon allein deshalb kann sie nicht gestorben sein. So richtig lebendig ist die Neue Wirtschaft aber auch nicht. Ruft man nur die in den vergangenen zwölf Monaten aktualisierten Websites auf, schrumpft das Ergebnis auf die Hälfte. Damit, so scheint es, dokumentiert ausgerechnet das Zentralorgan der New Economy das schwindende Interesse an sich selbst. Falsch.
Das Internet hat es inzwischen zum Massenmedium gebracht. Allein in Deutschland sind rund 16 Millionen Haushalte (44 Prozent) ans Netz angeschlossen. 30 Milliarden E-Mails landen Tag für Tag in den elektronischen Postkästen der weltweit 500 Millionen Menschen mit einem Internet-Zugang, schätzen die amerikanischen Marktforscher von IDC.
Die New Economy aber mag trotzdem niemand mehr. Manager nicht. Medien nicht. Und Finanzmärkte schon gar nicht. Die Protagonisten der Internet-Ökonomie, die angeblich ganz neuen Regeln gehorcht, stehen als Fantasten da. Die Dotcom-Visionäre sind entlarvt. Ihre Idee von der New Economy hat sich – ganz offensichtlich – als der bislang größte Bluff in der Wirtschaftsgeschichte entpuppt. Nicht ganz so falsch.
Ewiges Wachstum ohne Dellen, stetig steigende Produktivität und Aktienkurse – das waren die Versprechen der Gurus. Vorneweg auch Macher wie John T. Chambers. Er ist der Chef von Cisco, einem US-Konzern, der all jene beliefert, welche die Infrastrukturen für das Internet bauen, sozusagen die Informations-Highways. „Dies ist wahrhaftig eine industrielle Revolution. Sie wird das Leben der Menschen komplett verändern“, sagte er, als die neue Bewegung noch nach Anhängern suchte. Es wurden mehr und mehr.
Viele hofften auf eine Wissensgesellschaft, in der virtuell fast alles fluppt. Es klang schon immer zu schön, um wahr zu sein. Doch irgendwie mochten alle daran glauben. Pardon: viele. Einer, der von Anfang an Zweifel hatte, ist der Princeton-Ökonom Alan Blinder, ein ehmaliger Vizegouverneur der amerikanischen Notenbank. Er hielt den Spruch von der dauerhaften Beschleunigung des Produktivitätswachstums schon immer für mostly poppycock, also schlicht für Quatsch. Doch die Skeptiker wurden von den Visionären übertönt.
Alles billiger, vieles gratis
Schauplatz USA, Mitte der neunziger Jahre. Von dort geht die Initialzündung aus. Die Produktivität steigt, die Arbeitslosigkeit sinkt. Ein fantastischer Boom löst Begeisterung aus. Selbst der sonst so vorsichtige Zentralbankchef Alan Greenspan lässt sich dazu hinreißen, eine neue Ära anzudeuten. In die Konzernzentralen kommt Bewegung. Eine Mischung aus Euphorie und Angst macht sich breit. Die Schnellen fressen die Langsamen. In einem Internet-Jahr, so heißt es, wird so viel geschehen wie zuvor in sieben Jahren. Bewährte ökonomische Regeln gelten nichts mehr.
Vor allem an den Finanzmärkten liegt der Wunsch nach Deregulierung in der Luft. Selbst im konservativen Deutschland entsteht der Neue Markt, ein Ableger der traditionellen Börse. Weniger strenge Regeln sollen es den jungen Pionieren einfacher machen, sich Geld zu beschaffen. Das klappt. Kapital fließt jede Menge.
Die virtuelle und globalisierte Netz-Wirtschaft bietet zudem die Chance, scheinbar überholte Gesetze ins Leere laufen zu lassen. Das Web sprengt die Vorschriften nationaler Staaten. Daten- und Jugendschutz? Steuer- und Urheberrechte? Alles wird infrage gestellt. Und das schneller, als die Polizei erlaubt. Politiker, Analysten, Finanzinvestoren und Berater sind wie elektrisiert. Unternehmen stecken viele Milliarden Dollar in neue Computer und Software. Auch in Europa und Deutschland. Niemand will abgehängt werden.
Neue Begriffe erobern die Schlagzeilen: E-Mail, E-Commerce, E-Business, E-Shopping. Alles New Economy. Das Netz mausert sich zum Eldorado für Verbraucher. Dort gibt es vieles billiger, manches sogar gratis: Software, die man braucht, um nutzen zu können, was das Internet so bietet. Auch Informationen. Ein verhängnisvoller Trend. Er wird der Web-Wirtschaft noch zu schaffen machen.
All das, was etwas kostet, soll nicht mehr mit Geld, sondern Digits bezahlt werden, einer neuen Internet-Währung. Die Notenbanken dieser Welt beginnen sich Sorgen darüber zu machen, ob sie auf Dauer noch die Hoheit über den schnöden und bald digitalen Mammon behalten.
Dann der Schock. Doch kein Produktivitätswunder. Die Rate in den USA schrumpft wieder. Die viel gepriesenen jungen Unternehmen, kurz Dotcoms genannt, gehen reihenweise Pleite – und die Börsenkurse auf Talfahrt. Milliarden Dollar und Euro wurden einfach verbrannt. Die neue, alte Erkenntnis: Ohne Gewinne läuft auf Dauer nichts. Nach und nach erobern sich die Regeln der Old Economy verlorenes Terrain zurück. Und gerade so, als wollten sie sich für ihre Missachtung rächen, kriselt schließlich die gesamte Wirtschaft, in den USA und rund um den Globus.
Die New Economy sei nur eine Erfindung der Medien und von Wall Street gewesen, glaubt Jeff Madrick, Kolumnist der New York Times und scharfer Kritiker des Hypes. Die New-Economy-Rhetorik habe das Gefühl vermittelt, „dass Amerika seine zentralen wirtschaftlichen Probleme gelöst hat“. Ein Marketingtrick, der dazu geführt habe, dass jeder die New Economy zu verstehen glaubte: „So wurde sie zu dem, was sich jeder wünschte.“ Mit anderen Worten: eine Fata Morgana.
Zum Aufschwung Mitte der neunziger Jahre hätten vor allem die sinkenden Preise für Computerchips beigetragen, so seine Erklärung. Und der sinkende Ölpreis, glaubt der britische Ökonom Andrew Oswald von der Universität Warwick. Ob Chips oder Öl: Die günstigen Rohstoffpreise sorgten sehr wahrscheinlich für den konjunkturellen Boom. Und der verstärkte Einsatz von Informationstechnik erzeugte wachsende Produktivität. So einfach könnte es gewesen sein. Was aber bleibt dann von der New Economy?
Nichts als Verluste und Zerstörung, so ein nahe liegender Verdacht. Jedenfalls dann, wenn Kleinanleger ihr Vermögen betrachten. Und Unternehmen ihre Fehlinvestitionen. Rund 140 Milliarden Euro sollen es allein in Europa gewesen sein, glaubt Andy Kyte vom Marktforschungsinstitut Gartner. Geld, das in E-Projekte floss – und auf Nimmerwiedersehen im Nirwana des World Wide Web verschwand.
Nicht nur Analysten, sondern auch Wirtschaftsprüfer und Firmenchefs verloren an Glaubwürdigkeit. Selbst der einstige Star Steve Case, der Gründer des amerikanischen Online-Dienstes AOL. Als sich der Newcomer den Traditionskonzern Time Warner vor zwei Jahren einverleibte, schien das der schlagende Beweis für die Argumente jener, die ein neues Zeitalter ausgerufen hatten. Doch die erhofften Synergien blieben aus. Der alliierte Konzern musste jüngst mit fast 100 Milliarden Dollar den größten Verlust in der Firmengeschichte ausweisen. Steve Case trat zurück. Auch viele etablierte Konzerne, manchmal ganze Branchen, traf es hart. Buchhändler gerieten ebenso in Panik wie Deutschlands Apotheker. Junge Start-ups brachten mit ihren Online-Angeboten im Netz die festgefügten Strukturen ins Wanken. Gut so, riefen jene, die sich schon immer einbetoniert fühlten. Als Mitarbeiter oder Kunden. Zum Beispiel Musikliebhaber.
Netz-Rebellen machen Druck
Sie konnten sich plötzlich per Mausklick ihre Lieblingsstücke aus dem Netz „saugen“. Gratis. Biedere Bürger wurden so zu Online-Piraten. Einer der Ersten, die das möglich machten, war der damals 19-jährige Shawn Fanning, der Schöpfer der bislang noch immer populärsten Musiktauschbörse Napster. Die hatte er nur so zum Spaß ins Netz gestellt. Zwar wurde ihr inzwischen der Garaus gemacht, berühmt aber ist sie immer noch.
Ausgerechnet der deutsche Medienriese Bertelsmann hatte sich bei Napster engagiert, um daraus einen neuen Bezahldienst zu kreieren. Ganz legal. Doch alles ging schief. Und wie es aussieht, muss Bertelsmann vielleicht auch noch sehr viel Lehrgeld bezahlen. Dem Konzern droht in den USA wegen seines Engagements bei dem jungen Wilden eine Klage: auf 17 Milliarden Dollar Schadensersatz.
Derweil entstanden mit Kazaa und Co immer neue Angebote. Wegen der frechen Internet-Pioniere steckt die Musikindustrie in der Krise. Selbst verschuldet, behaupten viele. Denn den großen Konzernen gelang es bisher nicht, mit eigenen attraktiven Diensten den trickreichen Netz-Rebellen das Handwerk zu legen. Noch nicht.
Hier beginnt, hoffentlich, das schöpferische Kapitel der New Economy.
Über kurz oder lang werden sich alle, die am Musikgeschäft beteiligt sind, etwas mehr einfallen lassen müssen, als die selbst ernannten Freiheitskämpfer mit Klagen und technischen Tricks in Schach zu halten. Denn immer mehr Menschen wissen das neue Medium zu nutzen. Nicht nur, um Songs aufzuspüren. Sie beschaffen sich Informationen über Yahoo oder Google, an die sie sonst nie herangekommen wären. Ersteigern bei eBay Dinge, die sie in der realen Welt so günstig nie bekommen hätten: Oliver Kahns Torwarthandschuhe, Hüftprothesen oder auch Toilettendeckel.
Alle drei Dotcoms haben den Crash überlebt. Genau wie Amazon, der Netz-Buchhändler, der sich zum elektronischen Warenhaus entwickelt hat. Und selbst traditionelle Versender, wie hierzulande beispielsweise Otto oder KarstadtQuelle, bekamen die Kurve. Sie machen im Netz inzwischen gute Geschäfte.
Die Oldies hatten einen großen Vorteil: Geht es um Produkte, die – anders als Musik, Texte oder Bilder – nicht digitalisierbar sind, kommen Gabelstapler, Lagerhallen und Lkw ins Spiel. Die Newcomer mussten erst einmal begreifen, dass es die Logistik ist, die über Erfolg und Misserfolg entscheidet. Und nicht die bunten Websites. Umgekehrt machten betuliche Konzernstrategen die Erfahrung, dass so ein Internet-Auftritt tatsächlich Kunden binden kann. Sie entdeckten das Netz als neuen Vertriebskanal.
Insgesamt kauften die Deutschen via Netz im vergangenen Jahr für 8 Milliarden Euro ein – 60Prozent mehr als 2001. Allerdings macht das erst 1,6 Prozent des gesamten Einzelhandelsumsatzes aus. Zudem benehmen sich die Surfer höchst eigenwillig. Erst 7 Prozent der Internet-Nutzer haben bislang eine Versicherung im Netz abgeschlossen, fanden die Marktforscher von Fittkau & Maaß heraus. Dagegen ist Online-Banking ein Hit. Rund zwei Drittel führen ihre Konten bereits auf elektronischem Wege.
Die eigentliche (R)evolution aber vollzieht sich hinter den Kulissen: auf den Büroetagen. Ingenieure können per Mausklick Maschinen warten, die am anderen Ende der Erde stehen. Konstruktionspläne oder Röntgenbilder flitzen in Sekunden quer über den Globus. Ob Papier oder Bleistifte, Pflasterverlegemaschinen, Bodendurchschlagsraketen oder Turmdrehkräne: Im Netz ist so gut wie alles zu haben. Virtuelle Marktplätze nennt man diese Orte, an denen Geschäftskunden verhandeln, ohne sich je gesehen zu haben. Zwei Drittel aller Unternehmen in Deutschland nutzten bereits 2001 das Netz für ihre Geschäftsabläufe.
Doch alles entwickelt sich still und leise – und vor allem: viel langsamer als ursprünglich gedacht. „Wenn man aus dem Aufstieg und Fall der New Economy etwas lernen kann, dann dass neue Konzepte einfach Zeit brauchen, bis sie sich durchsetzen“, sagt Thorsen Wichmann, Geschäftsführer des Marktforschungsunternehmens Berlecon Research. Vor allem dem elektronischen Handel zwischen den Unternehmen, auch kurz B2B genannt, wird nach wie vor eine große Zukunft prophezeit. Nach einer Prognose der Marktforscher von Forrester Research soll er bis zum Jahr 2006 in ganz Europa auf stattliche 2,2 Billionen Euro ansteigen. Das wären dann gut 20 Prozent des gesamten Handels. Mal sehen.
Beispiel KarstadtQuelle: Im vergangenen Jahr nahmen die Einkäufer an rund 1200 Internet-Auktionen teil. Statt, wie früher, im Schnitt 12 Tage brauchten sie so oft nur wenige Stunden, um sich auf Preise zu einigen. Und die Textilbeschaffung kann inzwischen mit Lieferanten in ganz Asien abgewickelt werden.
Beispiel DaimlerChrysler: 700 Online-Auktionen und 80000 Dokumente, die seit April 2002 papierlos mit 1300 Geschäftspartnern ausgetauscht wurden.
Beispiel Bayer: Mehr als 12000 Mitarbeiter bestellen bereits online. Rund 70 Prozent aller Aufträge werden inzwischen auf diese Weise erteilt.
Aber auch hier gilt: Wunder dauern etwas länger. Das amerikanische Wirtschaftsmagazin Business Week rechnete das seinen Lesern am Beispiel Cisco vor. Der US-Konzern hat seine eigenen Informationsströme schon sehr früh automatisiert. Das bringt eine Ersparnis von rund 1,4 Milliarden Dollar im Jahr. Etwa sieben Prozent des Umsatzes. Das sei zwar kein Pappenstiel, schreibt das Blatt, aber auch keine Revolution.
Vergisst man also den Hype und die Mythen rund um die New Economy, bleibt das Netz als ein mächtiges Werkzeug für schnellere und bessere Kommunikation. Eine Effizienzmaschine also. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Der größte Irrtum war wohl zu glauben, dass sich der Fortschritt selbst übertrifft. Die Zeit schlug den Ungeduldigen ein Schnippchen. Übrigens nicht zum ersten Mal.
Innovationen hatten immer zwei Begleiter: Euphorie und Skepsis. Nicht selten blamierten sich auch die Zweifler. „Das Telefon hat zu viele ernsthaft zu bedenkende Mängel für ein Kommunikationsmittel. Das Gerät ist von Natur aus von keinem Wert für uns“, glaubte man 1876 bei Western Union. Und den weltweiten Markt von Computern schätzte Thomas Watson einst auf „vielleicht fünf“. Man schrieb das Jahr 1943 – und Watson war der Vorsitzende von IBM.