Dr. Bernd Niquet
Die Ehe der Anleger mit den Aktien - Scheidung!
Wer wie ich die Charttheorie nicht begreift und die Fundamentalanalyse als irrelevant ablehnt, muss sich eines anderen Erklärungsschemas für die Vorgänge an den Aktienmärkten in derartig turbulenten Zeiten bedienen. Am besten wäre es, denke ich, sich auf die Tatsache zu besinnen, dass alle Kauf- und Verkaufsentscheidungen im Aktienmarkt von Menschen gemacht werden, und aus diesem Grunde einen menschlichen Maßstab zu nehmen, um die gegenwärtigen Ereignisse zu bewerten.
Nehmen wir daher einen der Gravitationspunkte allen menschlichen Verhaltens und Handelns – die Partnerschaft und die Ehe. Denn wo sonst gibt es einerseits ein derartiges Auf und Ab, andererseits jedoch gleichzeitig eine Kontinuität und einen Zusammenhalt, wie es jeder Aufbau von irgendetwas dringend bedarf.
Eine Sache wird mir sicherlich auf immer und ewig ein Rätsel bleiben: Wie erwachsene Menschen im Ernst daran glauben können, dass so etwas Dynamisches wie ein Aktienmarkt sich kurz-, mittel und sogar langfristig durch lineare Trends erklären lässt. Das wäre in etwa so, als wenn man im Revier eines freilebenden Löwen einen Strich malen und jedes Überschreiten dieses Striches als ein wichtiges Signal interpretieren würde. Doch wer derart versuchen sollte, in freier Wildbahn sein Leben zu schützen, würde sicherlich nicht sehr alt werden. Die Charttheorie ist also nicht nur Unsinn, sondern auch ein Verstoß gegen die einfachsten Grundsätze der Evolutionstheorie.
Etwas ganz anderes wäre es allerdings, wenn man beginnen würde, die geraden Lineale wegzuschmeißen und die Kursbewegungen des Aktienmarktes anhand von Kurvenlinealen zu erklären, mit denen man nämlich erst in der Lage wäre, in dieses exponentiellen Geschehen adäquat einzudringen. Doch wie sollen die schlichten Geister, die sich gemeinhin mit der Charttheorie befassen, überhaupt mit einem Kurvenlineal umgehen können?
Die Fundamentalanalyse hingegen erinnert mich sehr an das Spiel „Exzellenzenprüfen“ aus der Zeit der österreichisch-ungarischen Monarchie, über welches der Künstler André Heller auf einer seiner Schallplatten erzählt. Das Spiel geht so: Eine Person des öffentlichen Lebens wird nach einer allgemein bekannten Tatsache befragt und gibt darauf eine abstrus falsche Antwort. Das Ziel der Spieler ist es daraufhin, eine Begründung zu finden, warum gerade diese falsche Antwort letztlich genau die richtige ist.
Bleibt als einziger Ausweg also die Ehe: Zum Ende des letzten Jahrtausends, diesem erneuten „Fin de Siècle“, haben sich viele naive und unbedarfte Menschen mit Haut und Haaren einer neuen Liebe verschrieben, rassig und emporschnellend, wunderbar bezaubernd, doch leider auch sündhaft teuer. Was der richtig Verliebte in diesem Moment natürlich nicht sieht. Und zum Anfang schien es ja auch so zu sein, als ob die Mätressen nicht ausgehalten werden wollten, sondern ihrerseits auch noch selbst willig mit Geld um sich schmissen.
Doch was einen erfahrender Liebhaber sicherlich sofort stutzig gemacht hätte, blieb den jungen, grünen Spunden natürlich verborgen. Und dann kam für diese fragile Partnerschaft die erste Krise: Das Geld wurde weniger und auch sonst floss nicht mehr allzu viel. Machte die Geliebte etwa einen Seitensprung? Nein, nein, nein, denn was nicht sein darf, das kann auch nicht sein, redeten sich die Neuen Liebhaber jeden Tag aufs Neue ein.
Langsam jedoch wird es zur Sicherheit. Nichts ist mehr wie vorher, und was einmal schön war, ist jetzt kaum noch zu ertragen. Und dennoch gibt es alle paar Wochen einmal einige wundervolle Tage. Und sofort wird an ein neues Aufflackern der alten Liaison gedacht. Der Sturz danach ist allerdings nur umso schlimmer und wird bei jedem Mal tiefer. Zwischen Hoffen und Bangen verbringen die Liebhaber ungemütliche Jahre. Bis sie schließlich zur Erkenntnis kommen, dass es jetzt nur noch um eines geht – die Rettung der eigenen Haut!
Und wo sind wir derzeit in diesem Zyklus? Ich denke, der Scheidungstermin ist bereits anberaumt, jedoch noch nicht vollzogen. Und die neuen Liebhaber, die einmal an die Stelle der bald Geschiedenen treten könnten, befinden sich derzeit so ungefähr kurz vor der Pubertät.
Bernd Niquet, boerse.de im Juli 2002
Die Ehe der Anleger mit den Aktien - Scheidung!
Wer wie ich die Charttheorie nicht begreift und die Fundamentalanalyse als irrelevant ablehnt, muss sich eines anderen Erklärungsschemas für die Vorgänge an den Aktienmärkten in derartig turbulenten Zeiten bedienen. Am besten wäre es, denke ich, sich auf die Tatsache zu besinnen, dass alle Kauf- und Verkaufsentscheidungen im Aktienmarkt von Menschen gemacht werden, und aus diesem Grunde einen menschlichen Maßstab zu nehmen, um die gegenwärtigen Ereignisse zu bewerten.
Nehmen wir daher einen der Gravitationspunkte allen menschlichen Verhaltens und Handelns – die Partnerschaft und die Ehe. Denn wo sonst gibt es einerseits ein derartiges Auf und Ab, andererseits jedoch gleichzeitig eine Kontinuität und einen Zusammenhalt, wie es jeder Aufbau von irgendetwas dringend bedarf.
Eine Sache wird mir sicherlich auf immer und ewig ein Rätsel bleiben: Wie erwachsene Menschen im Ernst daran glauben können, dass so etwas Dynamisches wie ein Aktienmarkt sich kurz-, mittel und sogar langfristig durch lineare Trends erklären lässt. Das wäre in etwa so, als wenn man im Revier eines freilebenden Löwen einen Strich malen und jedes Überschreiten dieses Striches als ein wichtiges Signal interpretieren würde. Doch wer derart versuchen sollte, in freier Wildbahn sein Leben zu schützen, würde sicherlich nicht sehr alt werden. Die Charttheorie ist also nicht nur Unsinn, sondern auch ein Verstoß gegen die einfachsten Grundsätze der Evolutionstheorie.
Etwas ganz anderes wäre es allerdings, wenn man beginnen würde, die geraden Lineale wegzuschmeißen und die Kursbewegungen des Aktienmarktes anhand von Kurvenlinealen zu erklären, mit denen man nämlich erst in der Lage wäre, in dieses exponentiellen Geschehen adäquat einzudringen. Doch wie sollen die schlichten Geister, die sich gemeinhin mit der Charttheorie befassen, überhaupt mit einem Kurvenlineal umgehen können?
Die Fundamentalanalyse hingegen erinnert mich sehr an das Spiel „Exzellenzenprüfen“ aus der Zeit der österreichisch-ungarischen Monarchie, über welches der Künstler André Heller auf einer seiner Schallplatten erzählt. Das Spiel geht so: Eine Person des öffentlichen Lebens wird nach einer allgemein bekannten Tatsache befragt und gibt darauf eine abstrus falsche Antwort. Das Ziel der Spieler ist es daraufhin, eine Begründung zu finden, warum gerade diese falsche Antwort letztlich genau die richtige ist.
Bleibt als einziger Ausweg also die Ehe: Zum Ende des letzten Jahrtausends, diesem erneuten „Fin de Siècle“, haben sich viele naive und unbedarfte Menschen mit Haut und Haaren einer neuen Liebe verschrieben, rassig und emporschnellend, wunderbar bezaubernd, doch leider auch sündhaft teuer. Was der richtig Verliebte in diesem Moment natürlich nicht sieht. Und zum Anfang schien es ja auch so zu sein, als ob die Mätressen nicht ausgehalten werden wollten, sondern ihrerseits auch noch selbst willig mit Geld um sich schmissen.
Doch was einen erfahrender Liebhaber sicherlich sofort stutzig gemacht hätte, blieb den jungen, grünen Spunden natürlich verborgen. Und dann kam für diese fragile Partnerschaft die erste Krise: Das Geld wurde weniger und auch sonst floss nicht mehr allzu viel. Machte die Geliebte etwa einen Seitensprung? Nein, nein, nein, denn was nicht sein darf, das kann auch nicht sein, redeten sich die Neuen Liebhaber jeden Tag aufs Neue ein.
Langsam jedoch wird es zur Sicherheit. Nichts ist mehr wie vorher, und was einmal schön war, ist jetzt kaum noch zu ertragen. Und dennoch gibt es alle paar Wochen einmal einige wundervolle Tage. Und sofort wird an ein neues Aufflackern der alten Liaison gedacht. Der Sturz danach ist allerdings nur umso schlimmer und wird bei jedem Mal tiefer. Zwischen Hoffen und Bangen verbringen die Liebhaber ungemütliche Jahre. Bis sie schließlich zur Erkenntnis kommen, dass es jetzt nur noch um eines geht – die Rettung der eigenen Haut!
Und wo sind wir derzeit in diesem Zyklus? Ich denke, der Scheidungstermin ist bereits anberaumt, jedoch noch nicht vollzogen. Und die neuen Liebhaber, die einmal an die Stelle der bald Geschiedenen treten könnten, befinden sich derzeit so ungefähr kurz vor der Pubertät.
Bernd Niquet, boerse.de im Juli 2002