Die Welt zerfällt nicht mehr in Linke oder Rechte, sondern in Aktionäre und Nichtaktionäre. Nach zwei Crash-Jahren zieht ein Kleinanleger Bilanz.
Alles ist schwer besinnlich: Die Frau schmückt den Baum. Der Kleine übt im Nebenzimmer "Stille Nacht" auf seiner neuen Geige. Opa liest Lenins "Was tun?". Alle lächeln und haben diesen Glanz in den Augen. Nur ich störe.
Ich bin plötzlich sehr launisch. Ich starre auf dieses Ding, auf das ich beim Aufräumen gestoßen bin. Und es ist wie mit James Stewart in diesem Weihnachtsfilm, wo er bankrott ist und weiß, dass es das Vernünftigste wäre, Schluss zu machen. Man muss beim Schlussmachen ja vielleicht nicht gleich mit dem Leben anfangen.
Natürlich kann die Geschichte nur mit diesem Ding beginnen, also mit einer Rückblende auf die Zeiten der Triumphe, als der Champagner in Strömen floss und jeder so ein Ding hatte.
Es ist ein Pager, eines dieser elektronischen Spielzeuge der Börsenjungs, womit man rund um die Uhr die neuesten Nachrichten bekam. Auf Knopfdruck konnte es anzeigen, wie AOL stand oder Daimler. Carola Ferstl, die Frontfrau der "Telebörse", hatte es mal beim Essen aus ihrer Louis-Vuitton-Tasche gezogen und mir damit schwer imponiert.
Sie arbeitete damals gerade an ihrem Buch "Geld tut Frauen richtig gut". Da ich auch mal so erfolgreich sein wollte wie Carola - meine Bücher waren bis dahin eher in begrenzten Auflagen für Liebhaber erschienen -, erwog ich für mein nächstes Buch auch irgendwas mit Geld im Titel. Zum Beispiel: "GELD und andere Reportagen". Oder: "Noch mehr Geld tut Männern richtig gut".
Damals guckte ich gern auf den Pager. Diese indonesischen Banktitel, die mir mein Freund Kai als Geheimtipp genannt hatte, wurden von dem Ding nicht erfasst, aber man konnte sich darauf verlassen, dass sowieso alles nach oben ging.
Das war 1999, im vorigen Jahrhundert, als die Geschichte noch für beendet erklärt war und der Kapitalismus derart triumphierte, dass einem der Kopf wackelte. Der Rest ist, na ja, Geschichte und wie die sich ächzend und mit Crashs und Terrorakten und Blitzkriegen zurückmeldet. Was die indonesischen Bankpapiere angeht: Der Geheimtipp war so geheim, dass die Aktie außer Kai und dem Indonesier, dem die Bank gehörte, keiner kannte. Letzterer hatte sich dann irgendwann aus dem Staub gemacht - wie das ganze System. Hat sich als Sache von Hütchenspielern erwiesen, die dem "Kleinen Mann" (also mir) einige Einstiegserfolge gestatteten, und die dann ganz hastig die Einsätze vom Tisch räumten, weil die ersten Polizeiautos bereits um die Ecke bogen.
Nur der Kleinanleger (auch ich) stand noch auf der Straße herum und rieb sich die Augen. Täterbeschreibung? Na ja, die sahen alle irgendwie gleich aus, wie Bodo Schäfer oder Thomas Haffa ...
Weltweit wurden in drei Jahren über zwölf Billionen Euro vernichtet, und das nicht etwa von Hasardeuren in irgendwelchen Gurkenrepubliken, sondern von seriösen Fondsmanagern seriöser Finanzinstitute, die sich einfach irgendwie vergriffen haben, in den USA und Europa und Japan ganz vorneweg, und in der Explosionswolke sind viele Ersparnisse verpufft (auch meine).
Na ja, ein Teil. Ein schmerzhafter Teil.
Dabei sah mein Kleinanleger-Portfolio nach damaligen Maßstäben äußerst konservativ aus. Neben AOL noch eine Menge T-Aktien. Dazu Daimler, die ich bei rund 90 Euro in mein Portfolio gelegt hatte. Zu Letzterem hatte mir der Anlageberater meiner Bank ausdrücklich gratuliert: "Sie machen eben nicht diesen Start-up-Hype mit, sondern setzen auf Qualität!"
Seither ist die AOL-Aktie zu Asche zerfallen und die T-Aktie, die Volksaktie, die so Vertrauen erweckend nach Volkswagen und deutscher Wertarbeit klang, hatte sich als ähnlich spekulativ erwiesen wie der indonesische Bankentitel. Und Daimler? Hat um 70 Prozent "nachgegeben", wie es in Carola Ferstls Börsendeutsch heißt. Übrig geblieben ist eigentlich nur das Ding.
Wenn mein Geld arbeitete, dann konnte man ihm mit dem Ding den Puls nehmen. Ihm und dem ganzen System. Jetzt liegt das Ding zerbrochen vor mir auf dem Schreibtisch. Und daneben eine dieser Werbesendungen, die ihr Motto schon außen auf den Umschlag schreiben, wo es in dicken Lettern brüllt: "Ist der Crash vorbei? IM LEBEN NICHT!"
Was denken die Aasgeier sich dabei, so was vor Weihnachten zu verschicken? Wollen sie die Leute vom Fenstersims stoßen?
Im Kuvert: das Anforderungsformular für einen Börsenbrief "Ja, ich möchte mich und mein Vermögen zuverlässig schützen. Bitte senden Sie mir Ihren Börsen-Informationsdienst 'Sicheres Geld' sofort zu."
Das ist die Hütchenspieler-Nachhut. Das Geschwader, das sich über die Reste hermacht. Früher appellierten diese Briefe an die Gier und versprachen, das Vermögen in acht Tagen zu vervielfältigen. Jetzt versuchen sie, mit der schieren Angst zu kassieren. Der Anlegerkapitalismus ist nun mal eine Sache heftiger Gefühlsschwankungen.
Ich gehöre zu der Generation, die 16 war, als das "White Album" der Beatles herauskam, und folglich sowohl zum System wie zur Revolution ein ironisches Verhältnis hat. Wir sind die neomarxistische Frankfurter-Schule-Engagement-Generation. Wir lieben heftige Statements und heftige Investitionen. Es gibt ziemlich viele von uns. Im Moment wissen wir nicht genau, ob wir uns schief lachen sollen darüber, dass wir Recht behalten haben, oder Amok laufen. Soweit ich die Sache überblicke, ist die Mehrheit fürs Schieflachen.
Wir wissen und wussten immer, dass wir in einem Schweinesystem leben. Das unterscheidet uns erheblich von der nachfolgenden Generation Golf oder jener noch jüngeren, die sich kürzlich unter dem Namen "Sussebach" in der "Zeit" meldete.
Das Generationsexemplar Sussebach bejammerte konkret, dass er, Sussebach, nun vielleicht sein ausgebautes Dachgeschoss verliere wegen der Krisenanfälligkeit dieses Systems, obwohl er doch ideologisch immer schon also so was von absolut freundlich diesem System gegenüber eingestellt war: "Der freie Markt galt uns nicht als Schweinesystem, sondern als Chance", schreibt Herr Sussebach in der "Zeit".
Junger Freund, es ist ein Schweinesystem. Und das sollte man nie vergessen. Nicht nur aus moralischen, sondern auch aus taktischen Gründen. Als Marxist weiß man, dass die sieben Achtel, die schlechter dran sind, einem irgendwann mal den Schädel einschlagen und womöglich damit Recht haben.
Was ich sagen will: Meine Altersgenossen und ich, wir sind eine besondere Sorte von Kleinanlegern. Wir halten das System für verrottet und müssen ihm trotzdem die Daumen drücken, dass es gewinnt, damit es die Kohle wieder rausrückt, die wir ihm anvertraut haben, um uns mit einem möglichst sonnigen Lebensabend zu versorgen.
Die Welt zerfällt längst nicht mehr in Links oder Rechts, sondern in Anleger und Nichtanleger. Der marxistische Kleinanleger versteht, dass alles unter diesem Licht zu sehen ist, selbst der Pazifismus. Sorry, aber Krieg, das gab kurz vor Weihnachten ein Analyst empört zu bedenken, Krieg ist im Moment echt schlecht für Technologie-Titel.
Dann wiederum ist alles schlecht für Technologie-Titel. Im letzten Jahrhundert hatten wir Anleger nur mit Bill Clintons Lewinsky-Affäre zu kämpfen, die auf die Kurse drückte. Jetzt gibt es Krieg, Terror, knappes Öl. Mittlerweile drücken selbst die Kurse auf die Kurse.
Die Situation eines marxistischen Kleinanlegers war dabei schon immer eine schizophrene. Doch solange sie Gewinne abwarf, war sie ehestressfrei und verführte durchaus zu Generosität. Man hatte die Gewinne dieser kapitalistischen Raserei mit dem überraschten Lächeln eines Las-Vegas-Spielers eingestrichen, und überall standen Analysten herum, die einen als sachverständig lobten.
Nun geht es seit fast drei Jahren in die andere Richtung. Nun hat man dauernd Recht. Widerwärtig Recht. Nun könnte man jeden zweiten Tag grimmig nickend vor BBC und CNN sitzen, die News über betrügerische Analysten, größenwahnsinnige Unternehmer, (Bilanz-)Friseure wie Haffa sehen und murmeln: "Hamwerdoch schon immer gesacht!"
Das hatten wir alles schon hinter uns. Abgehakt. Und da fällt uns das Ding wieder in die Hände, und es erinnert uns an alles: das Jacketkronengrinsen dieser neureichen Ganovenvisagen und auch durchaus die älteren oligarchischen Tränensäcke, die entweder beim Klauen erwischt worden waren oder in die Schlagzeilen gerieten, weil sie sich nach mondänem Missmanagement mit Zig-Millionen-Dollar-Abfindungen auf irgendwelche Privatinseln zurückgezogen hatten.
Ein Jahr ist zu Ende, das mit einer erstaunlichen Erholung an der Börse begonnen hatte. Ein Jahr, von dem viele Analysten prophezeit hatten, dass es die Startrampe zum neuen Aufschwung sein werde. Deshalb rieten sie, "vorsichtig und klug hinzuzukaufen".
In der Kleinanleger-Psychologie ist es so: Wer vorsichtig und klug dazukauft, macht alle vorherigen Niederlagen ungeschehen. Er hat den Blick fest auf den Horizont eines neuen Aufschwungs gerichtet und weiß, dass er eines Tages Recht haben wird.
In diesen Momenten weiß ich: Mein Sohn, der sich gerade zum dritten Mal an der gleichen Stelle verschrammt, wird es einmal besser haben als ich - mit AOL. Wenn er "Stille Nacht" überlebt ...
Drei Dinge verstören mich an diesem Tag: erstens, dass die Stelle "Holder Knaaaabe ..." so schwierig zu geigen ist; zweitens, dass die Irak-Intervention näher gerückt ist, und - drittens -, dass Micron enttäuschende Ergebnisse gemeldet hat, was bei CNN das gewohnte Bild produziert: Eine Blondine jammert auf dem Wall-Street-Parkett, dass alles noch weiter ins Rutschen geraten sei und keiner genau wisse, ob es am Irak liege oder an Micron.
Es liegt an keinem von beidem, Dummchen. Es liegt an den zyklischen Kapitalvernichtungsanfällen des Kapitalismus, der sich die entsprechenden Ausreden immer hinterher zurechtlegt.
Mal unmarxistisch gesprochen: Der Kapitalismus ist so was wie der Golfstrom. Wie das Konjunkturwetter in den nächsten Jahren sein wird, weiß er selbst nicht. Er tut einfach. Es kann einen hübschen Sommer geben. Aber auch einige zigtausend Obdachlose und Flutopfer.
Reden wir also nicht drum herum: Wir haben alles selbst vergeigt. Unsere Portfolios sind ziemlich abgefackelt. Wahrscheinlich war das die ganze Zeit mit "start up" gemeint: Wir müssen ganz neu anfangen, gerade wir, die wir das System verachten.
Da wäre die Weisheit des einstigen Anleger-Gurus Kostolany, der gesagt hatte, man solle Aktien kaufen und dann Schlaftabletten nehmen. Er hat aber nicht gesagt, wie viele. Ein Röhrchen, zwei Röhrchen?
Was mir als marxistischem Kleinanleger besonders zu schaffen macht, ist die Tatsache, dass ich mit meinen Investitionen eine größere Systemgläubigkeit an den Tag gelegt habe als die als systemkonform geltende Elterngeneration. Die hatte ihr Geld auf dem Postsparbuch sichergestellt, also in der systemfernsten und misstrauischsten Anlageform, die es gibt. Das ist schon fast DDR.
Das war die Nachkriegsgeneration. Ich bin die Middelhoff-Generation. Thomas Middelhoff ist bei Bertelsmann gefeuert worden, obwohl er, aus Sicht des Kleinanlegers, alles richtig gemacht hat. Er hat AOL rechtzeitig verkauft. Er hat 7,5 Milliarden Euro in die Konzernkasse gespült und ist von den Spießern des Konzerns vor die Tür gesetzt worden. Die Spießer gewinnen immer.
Der Witz ist wohl einfach der, dass wir marxistischen Kleinanleger die zyklische Kapitalvernichtung durch den Kapitalismus zwar einstudiert haben wie nichts sonst, sie aber nie auf uns persönlich bezogen haben, sondern immer nur auf die englischen Weber des 19. Jahrhunderts. Nun hat es uns erwischt. Warum auch nicht?
In Brasilien, wo ich derzeit lebe, werden die Ersparnisse meiner Freunde durch die Inflation vernichtet, Ergebnis einer Spekulationswelle von der Wucht einer Naturkatastrophe, unvorhersehbar und schicksalhaft. Deshalb sitzen sie jetzt auch in der Weihnachtszeit zusammen, an den Kiosken, am Strand, und diskutieren die drängende Frage, ob Robinho mit seinem sensationellen Übersteiger im Meisterschaftsfinale nun die legitime Pele-Nachfolge angetreten hat oder nicht. Von Brasilien lernen heißt siegen lernen!
Vertrauen wir auf die irrationalen Übertreibungen des Kapitals, die todsicher irgendwann einmal wieder zu unseren Gunsten arbeiten. Alle Analysten sind Schwachköpfe, auch die, die schwarz sehen.
Das Ding liegt immer noch auf dem Schreibtisch. Vielleicht ist ja noch Leben in ihm? Vielleicht glüht es noch einmal auf, wie das Dioden-Auge von Arnold Schwarzenegger am Ende von "Terminator II", und dann kommt die ganze Kampfmaschine wieder auf Touren und erschlägt den Bösewicht, den Bärenmarkt.
Wir Kleinanleger haben ein freundliches Verhältnis zur Welt. Wir sind Optimisten. Uns bleibt gar nichts anderes übrig.
www.spiegel.de/spiegel/0,1518,228735,00.html
Alles ist schwer besinnlich: Die Frau schmückt den Baum. Der Kleine übt im Nebenzimmer "Stille Nacht" auf seiner neuen Geige. Opa liest Lenins "Was tun?". Alle lächeln und haben diesen Glanz in den Augen. Nur ich störe.
Ich bin plötzlich sehr launisch. Ich starre auf dieses Ding, auf das ich beim Aufräumen gestoßen bin. Und es ist wie mit James Stewart in diesem Weihnachtsfilm, wo er bankrott ist und weiß, dass es das Vernünftigste wäre, Schluss zu machen. Man muss beim Schlussmachen ja vielleicht nicht gleich mit dem Leben anfangen.
Natürlich kann die Geschichte nur mit diesem Ding beginnen, also mit einer Rückblende auf die Zeiten der Triumphe, als der Champagner in Strömen floss und jeder so ein Ding hatte.
Es ist ein Pager, eines dieser elektronischen Spielzeuge der Börsenjungs, womit man rund um die Uhr die neuesten Nachrichten bekam. Auf Knopfdruck konnte es anzeigen, wie AOL stand oder Daimler. Carola Ferstl, die Frontfrau der "Telebörse", hatte es mal beim Essen aus ihrer Louis-Vuitton-Tasche gezogen und mir damit schwer imponiert.
Sie arbeitete damals gerade an ihrem Buch "Geld tut Frauen richtig gut". Da ich auch mal so erfolgreich sein wollte wie Carola - meine Bücher waren bis dahin eher in begrenzten Auflagen für Liebhaber erschienen -, erwog ich für mein nächstes Buch auch irgendwas mit Geld im Titel. Zum Beispiel: "GELD und andere Reportagen". Oder: "Noch mehr Geld tut Männern richtig gut".
Damals guckte ich gern auf den Pager. Diese indonesischen Banktitel, die mir mein Freund Kai als Geheimtipp genannt hatte, wurden von dem Ding nicht erfasst, aber man konnte sich darauf verlassen, dass sowieso alles nach oben ging.
Das war 1999, im vorigen Jahrhundert, als die Geschichte noch für beendet erklärt war und der Kapitalismus derart triumphierte, dass einem der Kopf wackelte. Der Rest ist, na ja, Geschichte und wie die sich ächzend und mit Crashs und Terrorakten und Blitzkriegen zurückmeldet. Was die indonesischen Bankpapiere angeht: Der Geheimtipp war so geheim, dass die Aktie außer Kai und dem Indonesier, dem die Bank gehörte, keiner kannte. Letzterer hatte sich dann irgendwann aus dem Staub gemacht - wie das ganze System. Hat sich als Sache von Hütchenspielern erwiesen, die dem "Kleinen Mann" (also mir) einige Einstiegserfolge gestatteten, und die dann ganz hastig die Einsätze vom Tisch räumten, weil die ersten Polizeiautos bereits um die Ecke bogen.
Nur der Kleinanleger (auch ich) stand noch auf der Straße herum und rieb sich die Augen. Täterbeschreibung? Na ja, die sahen alle irgendwie gleich aus, wie Bodo Schäfer oder Thomas Haffa ...
Weltweit wurden in drei Jahren über zwölf Billionen Euro vernichtet, und das nicht etwa von Hasardeuren in irgendwelchen Gurkenrepubliken, sondern von seriösen Fondsmanagern seriöser Finanzinstitute, die sich einfach irgendwie vergriffen haben, in den USA und Europa und Japan ganz vorneweg, und in der Explosionswolke sind viele Ersparnisse verpufft (auch meine).
Na ja, ein Teil. Ein schmerzhafter Teil.
Dabei sah mein Kleinanleger-Portfolio nach damaligen Maßstäben äußerst konservativ aus. Neben AOL noch eine Menge T-Aktien. Dazu Daimler, die ich bei rund 90 Euro in mein Portfolio gelegt hatte. Zu Letzterem hatte mir der Anlageberater meiner Bank ausdrücklich gratuliert: "Sie machen eben nicht diesen Start-up-Hype mit, sondern setzen auf Qualität!"
Seither ist die AOL-Aktie zu Asche zerfallen und die T-Aktie, die Volksaktie, die so Vertrauen erweckend nach Volkswagen und deutscher Wertarbeit klang, hatte sich als ähnlich spekulativ erwiesen wie der indonesische Bankentitel. Und Daimler? Hat um 70 Prozent "nachgegeben", wie es in Carola Ferstls Börsendeutsch heißt. Übrig geblieben ist eigentlich nur das Ding.
Wenn mein Geld arbeitete, dann konnte man ihm mit dem Ding den Puls nehmen. Ihm und dem ganzen System. Jetzt liegt das Ding zerbrochen vor mir auf dem Schreibtisch. Und daneben eine dieser Werbesendungen, die ihr Motto schon außen auf den Umschlag schreiben, wo es in dicken Lettern brüllt: "Ist der Crash vorbei? IM LEBEN NICHT!"
Was denken die Aasgeier sich dabei, so was vor Weihnachten zu verschicken? Wollen sie die Leute vom Fenstersims stoßen?
Im Kuvert: das Anforderungsformular für einen Börsenbrief "Ja, ich möchte mich und mein Vermögen zuverlässig schützen. Bitte senden Sie mir Ihren Börsen-Informationsdienst 'Sicheres Geld' sofort zu."
Das ist die Hütchenspieler-Nachhut. Das Geschwader, das sich über die Reste hermacht. Früher appellierten diese Briefe an die Gier und versprachen, das Vermögen in acht Tagen zu vervielfältigen. Jetzt versuchen sie, mit der schieren Angst zu kassieren. Der Anlegerkapitalismus ist nun mal eine Sache heftiger Gefühlsschwankungen.
Ich gehöre zu der Generation, die 16 war, als das "White Album" der Beatles herauskam, und folglich sowohl zum System wie zur Revolution ein ironisches Verhältnis hat. Wir sind die neomarxistische Frankfurter-Schule-Engagement-Generation. Wir lieben heftige Statements und heftige Investitionen. Es gibt ziemlich viele von uns. Im Moment wissen wir nicht genau, ob wir uns schief lachen sollen darüber, dass wir Recht behalten haben, oder Amok laufen. Soweit ich die Sache überblicke, ist die Mehrheit fürs Schieflachen.
Wir wissen und wussten immer, dass wir in einem Schweinesystem leben. Das unterscheidet uns erheblich von der nachfolgenden Generation Golf oder jener noch jüngeren, die sich kürzlich unter dem Namen "Sussebach" in der "Zeit" meldete.
Das Generationsexemplar Sussebach bejammerte konkret, dass er, Sussebach, nun vielleicht sein ausgebautes Dachgeschoss verliere wegen der Krisenanfälligkeit dieses Systems, obwohl er doch ideologisch immer schon also so was von absolut freundlich diesem System gegenüber eingestellt war: "Der freie Markt galt uns nicht als Schweinesystem, sondern als Chance", schreibt Herr Sussebach in der "Zeit".
Junger Freund, es ist ein Schweinesystem. Und das sollte man nie vergessen. Nicht nur aus moralischen, sondern auch aus taktischen Gründen. Als Marxist weiß man, dass die sieben Achtel, die schlechter dran sind, einem irgendwann mal den Schädel einschlagen und womöglich damit Recht haben.
Was ich sagen will: Meine Altersgenossen und ich, wir sind eine besondere Sorte von Kleinanlegern. Wir halten das System für verrottet und müssen ihm trotzdem die Daumen drücken, dass es gewinnt, damit es die Kohle wieder rausrückt, die wir ihm anvertraut haben, um uns mit einem möglichst sonnigen Lebensabend zu versorgen.
Die Welt zerfällt längst nicht mehr in Links oder Rechts, sondern in Anleger und Nichtanleger. Der marxistische Kleinanleger versteht, dass alles unter diesem Licht zu sehen ist, selbst der Pazifismus. Sorry, aber Krieg, das gab kurz vor Weihnachten ein Analyst empört zu bedenken, Krieg ist im Moment echt schlecht für Technologie-Titel.
Dann wiederum ist alles schlecht für Technologie-Titel. Im letzten Jahrhundert hatten wir Anleger nur mit Bill Clintons Lewinsky-Affäre zu kämpfen, die auf die Kurse drückte. Jetzt gibt es Krieg, Terror, knappes Öl. Mittlerweile drücken selbst die Kurse auf die Kurse.
Die Situation eines marxistischen Kleinanlegers war dabei schon immer eine schizophrene. Doch solange sie Gewinne abwarf, war sie ehestressfrei und verführte durchaus zu Generosität. Man hatte die Gewinne dieser kapitalistischen Raserei mit dem überraschten Lächeln eines Las-Vegas-Spielers eingestrichen, und überall standen Analysten herum, die einen als sachverständig lobten.
Nun geht es seit fast drei Jahren in die andere Richtung. Nun hat man dauernd Recht. Widerwärtig Recht. Nun könnte man jeden zweiten Tag grimmig nickend vor BBC und CNN sitzen, die News über betrügerische Analysten, größenwahnsinnige Unternehmer, (Bilanz-)Friseure wie Haffa sehen und murmeln: "Hamwerdoch schon immer gesacht!"
Das hatten wir alles schon hinter uns. Abgehakt. Und da fällt uns das Ding wieder in die Hände, und es erinnert uns an alles: das Jacketkronengrinsen dieser neureichen Ganovenvisagen und auch durchaus die älteren oligarchischen Tränensäcke, die entweder beim Klauen erwischt worden waren oder in die Schlagzeilen gerieten, weil sie sich nach mondänem Missmanagement mit Zig-Millionen-Dollar-Abfindungen auf irgendwelche Privatinseln zurückgezogen hatten.
Ein Jahr ist zu Ende, das mit einer erstaunlichen Erholung an der Börse begonnen hatte. Ein Jahr, von dem viele Analysten prophezeit hatten, dass es die Startrampe zum neuen Aufschwung sein werde. Deshalb rieten sie, "vorsichtig und klug hinzuzukaufen".
In der Kleinanleger-Psychologie ist es so: Wer vorsichtig und klug dazukauft, macht alle vorherigen Niederlagen ungeschehen. Er hat den Blick fest auf den Horizont eines neuen Aufschwungs gerichtet und weiß, dass er eines Tages Recht haben wird.
In diesen Momenten weiß ich: Mein Sohn, der sich gerade zum dritten Mal an der gleichen Stelle verschrammt, wird es einmal besser haben als ich - mit AOL. Wenn er "Stille Nacht" überlebt ...
Drei Dinge verstören mich an diesem Tag: erstens, dass die Stelle "Holder Knaaaabe ..." so schwierig zu geigen ist; zweitens, dass die Irak-Intervention näher gerückt ist, und - drittens -, dass Micron enttäuschende Ergebnisse gemeldet hat, was bei CNN das gewohnte Bild produziert: Eine Blondine jammert auf dem Wall-Street-Parkett, dass alles noch weiter ins Rutschen geraten sei und keiner genau wisse, ob es am Irak liege oder an Micron.
Es liegt an keinem von beidem, Dummchen. Es liegt an den zyklischen Kapitalvernichtungsanfällen des Kapitalismus, der sich die entsprechenden Ausreden immer hinterher zurechtlegt.
Mal unmarxistisch gesprochen: Der Kapitalismus ist so was wie der Golfstrom. Wie das Konjunkturwetter in den nächsten Jahren sein wird, weiß er selbst nicht. Er tut einfach. Es kann einen hübschen Sommer geben. Aber auch einige zigtausend Obdachlose und Flutopfer.
Reden wir also nicht drum herum: Wir haben alles selbst vergeigt. Unsere Portfolios sind ziemlich abgefackelt. Wahrscheinlich war das die ganze Zeit mit "start up" gemeint: Wir müssen ganz neu anfangen, gerade wir, die wir das System verachten.
Da wäre die Weisheit des einstigen Anleger-Gurus Kostolany, der gesagt hatte, man solle Aktien kaufen und dann Schlaftabletten nehmen. Er hat aber nicht gesagt, wie viele. Ein Röhrchen, zwei Röhrchen?
Was mir als marxistischem Kleinanleger besonders zu schaffen macht, ist die Tatsache, dass ich mit meinen Investitionen eine größere Systemgläubigkeit an den Tag gelegt habe als die als systemkonform geltende Elterngeneration. Die hatte ihr Geld auf dem Postsparbuch sichergestellt, also in der systemfernsten und misstrauischsten Anlageform, die es gibt. Das ist schon fast DDR.
Das war die Nachkriegsgeneration. Ich bin die Middelhoff-Generation. Thomas Middelhoff ist bei Bertelsmann gefeuert worden, obwohl er, aus Sicht des Kleinanlegers, alles richtig gemacht hat. Er hat AOL rechtzeitig verkauft. Er hat 7,5 Milliarden Euro in die Konzernkasse gespült und ist von den Spießern des Konzerns vor die Tür gesetzt worden. Die Spießer gewinnen immer.
Der Witz ist wohl einfach der, dass wir marxistischen Kleinanleger die zyklische Kapitalvernichtung durch den Kapitalismus zwar einstudiert haben wie nichts sonst, sie aber nie auf uns persönlich bezogen haben, sondern immer nur auf die englischen Weber des 19. Jahrhunderts. Nun hat es uns erwischt. Warum auch nicht?
In Brasilien, wo ich derzeit lebe, werden die Ersparnisse meiner Freunde durch die Inflation vernichtet, Ergebnis einer Spekulationswelle von der Wucht einer Naturkatastrophe, unvorhersehbar und schicksalhaft. Deshalb sitzen sie jetzt auch in der Weihnachtszeit zusammen, an den Kiosken, am Strand, und diskutieren die drängende Frage, ob Robinho mit seinem sensationellen Übersteiger im Meisterschaftsfinale nun die legitime Pele-Nachfolge angetreten hat oder nicht. Von Brasilien lernen heißt siegen lernen!
Vertrauen wir auf die irrationalen Übertreibungen des Kapitals, die todsicher irgendwann einmal wieder zu unseren Gunsten arbeiten. Alle Analysten sind Schwachköpfe, auch die, die schwarz sehen.
Das Ding liegt immer noch auf dem Schreibtisch. Vielleicht ist ja noch Leben in ihm? Vielleicht glüht es noch einmal auf, wie das Dioden-Auge von Arnold Schwarzenegger am Ende von "Terminator II", und dann kommt die ganze Kampfmaschine wieder auf Touren und erschlägt den Bösewicht, den Bärenmarkt.
Wir Kleinanleger haben ein freundliches Verhältnis zur Welt. Wir sind Optimisten. Uns bleibt gar nichts anderes übrig.
www.spiegel.de/spiegel/0,1518,228735,00.html