Glückliche Ausrutscher, Spiele am Abgrund, Tore in letzter Minute. Wie gut oder schlecht die deutsche Nationalelf wirklich ist, weiß niemand. Nicht einmal sie selbst
Vom Paradise Hotel aus, in dem die Deutschen wohnen, - und wo sie streng bewacht werden von Männern in Büschen mit Maschinenpistolen in den Händen und auch von Rudi Völler -, vom Paradise Hotel aus also sind es nur wenige Busminuten zum Cheonjiyeon Waterfall. Wenn die Deutschen auf Jeju vor Korea nicht immer nur von ihren teuren Hotelzimmern im afrikanischen Stil (mit Moskitonetzen), im koreanischen Stil (mit Papierwänden) oder im amerikanischen Stil (mit Mikrowelle) aufs Meer vor dem Sokuipo Beach starren würden, wenn sich die Deutschen also mal aufmachten und zu den Cheonjiyeon-Wasserfällen gingen, würden sie dort einen Springbrunnen vorfinden. In den könnten sie von einer Brücke aus ein wenig Kleingeld werfen und umfassenden Erfolg dafür bekommen. Da sind asiatische Springbrunnen genauso großzügig wie europäische. Der von Cheonjiyeon aber wirkt tatsächlich.
Wir waren auch dort, und kaum dass wir dem steinernen Fisch 100 Won ins Maul geworfen hatten, schwupps, war der Erfolg schon da. »Oh, you are from Germany«, sagte die Fee, die sich als koreanischer Springbrunnenwächter verkleidet hatte, »oh, Germany, congratulations, congratulations, you are the champion, world-cup, great, congratulations, congratulations.«
So geht es einem auf Schritt und Tritt in Korea und in Japan. Seit Rudi Völlers Männer siegen, wird man wieder in Sippenhaft genommen und zum Meister aller Klassen erklärt. Was soll man sagen? Dass man selbst gar nicht mitgespielt hat? »Hi, hi«, hatte die Fee geantwortet und den Witz nicht verstanden. Dass die Deutschen gar nicht so gut sind, wie es der Einzug ins Viertelfinale vorgibt? Dann fällt garantiert der Name Klose, »congratulations!« Miroslav Klose, der in Polen geborene Pfälzer vom 1. FC Kaiserslautern, führt die Torschützenliste an und hat hier in Asien mit seinen Jubelsalti das Zeug zum Superstar. An der Außendarstellung müsste vielleicht hier und da noch ein wenig gefeilt werden. »Ich denke, das war ein WM-Spiel«, sagte Klose nach dem glücklich gewonnenen Achtelfinalspiel gegen Paraguay. Ja, das war ein WM-Spiel.
Eine Elf wie die rot-grüne Koalition
Im Grunde genommen hatte man sich das ja alles so vorgestellt: Die Mannschaft, das Repräsentativ des Pisa-gebeutelten, technikschwächelnden Deutschlands am Ende der Spaßgesellschaft, geht auf den Platz und macht, was sie kann. Fußball spielen, mit der Betonung auf spielen, gehört nicht dazu. Nachdem kreative Geister aus Überdruss (Mehmet Scholl) oder aus Unpässlichkeit (Sebastian Deisler) absagten und Michael Ballack nach einer aufreibenden Saison schwächelt, war nicht viel mehr zu erwarten gewesen als von Corinna May beim Grand Prix. So kam's ja dann auch, das 8 : 0 über Saudi-Arabien zum Auftakt war mehr glücklicher Ausrutscher denn Prophezeiung. Aber nun ist Frankreich ausgeschieden, der elegante Weltmeister, Argentinien, der designierte temperamentvolle Nachfolger, auch und Portugal, diese glutäugige Sehnsucht, ebenfalls. Sogar Italiens Rückzugskünstler sind gescheitert. Auf die deutschen Biedermänner warten die USA, deren Harmlosigkeit von bereits ausgeschiedenen Polen demonstriert wurde, und danach wartet das Halbfinale und, schwupps, schon sind wir wieder wer.
Was haben wir bloß an dieser Mannschaft? Ein bisschen ist es wie mit der rot-grünen Koalition: Man will sie eigentlich nicht mehr, aber verdammen mag man sie auch nicht, weil man nichts Besseres hat. So wenig greifbar wie bei dieser WM war ein deutsches Team wohl noch nie. Mit der Rumpeltruppe von 1986 wird es hier in Asien und auch zu Hause schon verglichen, jener Elf, die sich unter Leitung von Franz Beckenbauer bis ins Finale vorstahl und erst da von Argentinien in die Schranken verwiesen wurde. Aber das war eine Ansammlung von Stinkstiefeln, keine netten Metzelders und Kehls, Bodes und Kloses, die nur nichts dafür können, dass es ihnen nicht in die Wiege gelegt wurde wie den Zidanes und Ronaldos.
Aber sie deswegen gleich feiern, lieben, preisen? Die Mannschaft 2002 stochert und grätscht und krampft sich voran. Jedes der ernst zu nehmenden Spiele war ein Spiel am Abgrund. Irland hätte von den Spielanteilen den Sieg verdient gehabt, Kamerun war zumindest eine Halbzeit lang das herrschende Team auf dem Platz, Paraguays Lauf zum Sieg verhinderte Torwart Kahn. Der dann, es war der Tag seines 33. Geburtstages, sagte, dass es schwer sei, sich auf dieser Urlaubsinsel Jeju mental auf Arbeit einzustellen. Dem Gesicht nach aber war ihm das sehr gut gelungen: von Entspannung, selbst nach dem Sieg, keine Spur. Und als Christian Ziege den Torschützen Oliver Neuville beglückwünschte, tat er dies, indem er ihn in den Schwitzkasten nahm. Sogar in der Freude muss Kampf liegen.
Gelöstheit, lockerer Umgang miteinander, Flachs, all die gemeinhin als Garanten für gehobene Leistung anerkannte Hochstimmung, sind selten zu sehen. Das mag daran liegen, dass die Deutschen nahezu akribisch das vom Weltverband Fifa eingeräumte Angebot annehmen, bestimmte Trainingseinheiten weitestgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit abzuhalten - die passende Ideologie liefert DFB-Sprecher Gerhard Meier-Röhn: Die Pressevertreter seien »alle nur Schmarotzer«, ließ der verlauten. Eine Viertelstunde dürfen die Journalisten beim Üben zusehen, dann rücken ein paar Männer mit grimmigen Blicken an und schließen die Tore.
Erinnerungen an alte Turniere
So bleibt wenigstens oberflächlich verborgen, was der frühere Nationalspieler Thomas Helmer beobachtet hat: »Im Training passiert nichts. Keine Reibereien, kein Unsinn. Es herrscht eine merkwürdige Ruhe im Kader.« Wer soll auch Kontur geben? Rudi Völler selbst? Der nette Rudi profiliert sich eher nach außen: Den Fernsehjournalisten begegnet er plötzlich als kooperationsunwillige Mischung aus Berti Vogts und Otto Rehhagel. Wie Vogts redet Völler jeden Gegner zum Weltmeister hoch (»Paraguay ist allererste Wahl«), wie Rehhagel an dessen besten Tagen brüskiert Völler die Journaille mit Abweisung. Zu vereinbarten Terminen erscheint er gern mit einer Stunde Verspätung, zwinkert dann kumpelhaft, sagt, dass es nichts zu sagen gebe, und verschwindet nach wenigen Minuten - versäumt aber nicht, Solidarität einzuklagen: »Daumendrücken nicht vergessen.«
Doch der Teamchef weiß wohl, was er tut: Völler war's, der bei der WM 1990 dem Kollegen und Dauerredner Lothar Matthäus vor versammelter Journaille einen Ball auf den Balg knallte, verbunden mit den Worten: »Kannst du nicht endlich die Klappe halten? Erzähl das doch deinem Klodeckel.« Sollte Carsten Jancker dergleichen Brachialmittel bei Oliver Bierhoff, dem Konkurrenten um den Stürmerposten, anwenden, es bliebe ungehört und ungesehen. Andererseits: 1990 wurde Völler zusammen mit Matthäus und anderen Weltmeister in Italien ...
Selten einmal drang so wenig Stimmungslage nach draußen wie jetzt, selten einmal definierte sich eine deutsche Mannschaft bei einer WM so ausschließlich über das Geschehen auf dem Spielfeld. Und das gibt eben das Bild ab: limitierte Kicker, willensstark und trotzend, wenn's aufs Ende zugeht. Als Abwehrchef Ramelow gegen Kamerun vom Platz flog, fiel die Mannschaft in ihre bisher stärkste Phase und schoss sich gegen elf Gegner in Führung.
Wohin das alles führt, weiß man immer noch nicht, weiß nicht, wie stark die deutsche Mannschaft wirklich ist oder sein kann. Wahrscheinlich weiß es nicht mal Teamchef Rudi Völler selber. Zumindest guckte er ganz verdutzt, als Neuville das Siegtor gegen Paraguay schaffte.
Vielleicht sollte er unter diesen Umständen des Ungewissen doch mal beim Springbrunnen von Cheonjiyeon vorbeischauen. 100 Won, das sind etwa zehn Euro-Cent. Gut angelegtes Geld; so viel sollte ein wenig Gewissheit wert sein.
Die Zeit