Brisante Berechnungen
Der unaufhaltsame Kollaps des Sozialsystems
Die Vergreisung der Gesellschaft hat dramatischere Auswirkungen als bisher angenommen. Die Sozialsysteme in Deutschland werden nach neuesten Berechnungen spätestens im Jahr 2050 zusammenbrechen.
Brisantes Material
Die Charts, die Herwig Birg seinem Publikum vorlegt, sind auf den ersten Blick völlig unspektakulär: mit dem Lineal gezogene, ansteigende Geraden. Doch die Grafiken des geschäftsführenden Direktors des Instituts für Bevölkerungsforschung und Sozialpolitik (IBS) der Universität Bielefeld verbildlichen das brisanteste Datenmaterial, das deutsche Politiker derzeit zu Gesicht bekommen, wenn es um die Reform der Sozialsysteme geht.
Vergreisung unaufhaltbar
Die Vergreisung der Gesellschaft hier zu Lande, erklärt Birg unverblümt, werde die Sozialsysteme der Bundesrepublik Deutschland in wenigen Jahrzehnten kollabieren lassen. "Die Alterung der Gesellschaft ist keine Option, die sich durch gesellschaftliches und politisches Handeln gestalten lässt", sagt Birg, der auch als Berater des Bundesverfassungsgerichts und der Vereinten Nationen tätig ist, "sie wird ablaufen wie ein Uhrwerk."
Zu wenig Kinder
Mit mathematischer Präzision sei demnach voraussagbar, dass bis 2080 der Anteil der Menschen über 60 weiter steigt. Der Grund: Jede Frau gebärt heute - statistisch betrachtet - lediglich 1,3 Kinder in ihrem Leben. Selbst wenn die Frauen in Deutschland wieder mehr Kinder zur Welt bringen würden, wäre die demografische Entwicklung nicht aufzuhalten. Denn neben der niedrigen Geburtenrate wirkt sich vor allem die generationenbedingte Verzögerung des Bevölkerungswachstums negativ auf die Altersstruktur der Gesellschaft aus. Einfach gesagt: Weniger Kinder zeugen weniger Nachkommen. Weil zudem die Lebenserwartung des Einzelnen steigt, wird die Gesellschaft unausweichlich vergreisen.
Kollaps auf Raten
Bis zum Jahr 2050 wird die Zahl der über 60-Jährigen in Deutschland um 9,9 Millionen zunehmen, der Anteil der 20- bis 60-Jährigen jedoch um 16 Millionen zurückgehen. Damit steht schon heute fest, dass die vor knapp 150 Jahren zu Bismarcks Zeiten eingeführte Rentenversicherung faktisch tot ist. Deren Grundgedanke nämlich, die Rentenbeiträge im so genannten Umlageverfahren direkt und ohne zeitliche Verzögerung für die Rentenauszahlungen an die heutigen Rentner zu verwenden, wird bereits 2050 nicht mehr umzusetzen sein. Während im Jahr 2000 auf 100 Menschen im Alter zwischen 20 und 60 Jahren noch 43 zu Versorgende über 60 fielen, werden es in fünfzig Jahren über 90 sein. Zu viel, um das System am Leben halten zu können.
Die Alternativen
Genau drei Möglichkeiten stehen Birg zufolge der Politik zur Verfügung, um diesen gordischen Knoten zu lösen - und alle drei erscheinen derzeit politisch nicht durchsetzbar:
Verdopplung der Beiträge
Nach einer ersten Berechnung müsste sich der Beitragssatz zur Rentenversicherung im Jahr 2050 auf knapp 42 Prozent verdoppeln, um das heutige gängige Rentenniveau von 64 Prozent halten zu können. Alternativ müssten Rentner in Zukunft mit Rentenniveaus von 30 Prozent leben müssen, wollte man den Beitragssatz, wie heute üblich, bei rund 20 Prozent konservieren.
Berechnungen dieser Art werden gerne ignoriert. "Sozialpolitiker, die selbst für die demografisch schwierigen Jahre nach 2020 nur wenig steigende Beitragssätze versprechen, verkennen die Brisanz der weiter steigenden Lebenserwartung", meint auch Norbert Walter, Chefvolkswirt der Deutschen Bank, und urteilt: "Sie wird in vielen Bevölkerungsprognosen - auch in der offiziellen des Statistischen Bundesamtes - nur unzureichend erfasst."
Länger Arbeiten
Auch die zweite Handlungsoption erscheint wenig attraktiv: Denn wollte Vater Staat den Rentnern auch in 20 Jahren noch ihr wohlverdientes Ruhegehalt auf heutigem Niveau zahlen, müssten die nachfolgenden Generationen einen Großteil ihres letzten Lebensdrittels in der Firma verbringen. Schon 2018 würden Berufstätige dann durchschnittlich bis zum 65., im Jahr 2074 gar bis zum 73. Lebensjahr arbeiten.
Brisante Berechnungen
Der unaufhaltsame Kollaps des Sozialsystems
Das bereits heute oft nur auf dem Papier existierende Renteneintrittsalter von 65 Jahren wäre demnach in Zukunft der früheste Zeitpunkt für den Ausstieg aus dem Arbeitsleben.
Jung und dynamisch
Vorruhestand mit 58, oder 55 Jahren bei entsprechender Abfindung,wie heute vielfach praktiziert, wären passee. Vor allem Personalmanager sehen eine Verlängerung Lebensarbeitszeit skeptisch. Schon heute legt die Wirtschaft größten Wert auf junge, dynamische Mitarbeiter die aktuelles Know-how in die Unternehmen einbringen. Eine Umkehr dieses Trends ist nicht ins Sicht.
Einwanderung als Lösung
Auch mit dem dritten Lösungsansatz lassen sich vermutlich keine Wählerstimmern gewinnen: Weil sich das deutsche Volk bis 2080 nicht ausreichend verjüngen kann, müssten junge Einwanderer ins Land, um die Renten zu sichern. Die benötigte Zahl freilich dürfte jedem Kanzler den Schweiß auf die Stirn treiben: Insgesamt 188 Millionen Menschen müssten bis 2050 nach Deutschland einwandern, um den Anstieg des Altersquotienten zu stoppen. Doch selbst solche Völkerwanderungen hätte nur einen vorübergehenden Effekt, weil die jungen Migranten eines Tages selbst vergreisen würden.
Totalausfall des Sozialsystem
Nicht nur die Renten-, auch die gesetzliche Krankenversicherung steht vor dem Aus. Bereits heute verursacht ein Rentner 80 Prozent mehr Ausgaben als ein rüstiger Versicherter unter 60. Vier von zehn Menschen über 80 sind mindestens einmal im Jahr stationär im Krankenhaus, nahezu 90 Prozent lassen sich mindestens einmal im Quartal ambulant behandeln, wie der Direktor der Geriatrischen Kliniken Wuppertal und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie, Ingo Füsgen, vorrechnet.
Die Zunahme der Lebenserwartung tut ihr Übriges. So werden bis 2080 Männer im Schnitt rund 83 Jahre alt werden, Frauen noch sechs Jahre älter. Die Versorgung sehr vieler alter Menschen aber würde das ohnehin angeschlagene gesetzliche Krankenversicherungs-System gänzlich kollabieren lassen.
Weltweites Problem
Wer die Vergreisung der Gesellschaft für ein spezielles deutsches Problem hält, der irrt. Bereits im Jahr 2025 wird sich die Zahl der über 60-Jährigen in den Industriestaaten von derzeit 605 Millionen auf 1,2 Milliarden verdoppelt haben, erklärt Alexander Kalache, Leiter des WHO-Programms für Altern und Gesundheit. Selbst die Entwicklungsländer vergreisen allmählich, wie die WHO konsterniert feststellt. Nach einer WHO-Prognose wird die Geburtenrate in 121 Ländern unter 2,1 liegen. Vor knapp 30 Jahren kamen lediglich in 26 Ländern so wenig Babys zur Welt.
Die private Altersvorsorge als Ergänzung zum staatlichen Pendant wird seit wenigen Jahren von der Politik gern als Allheilmittel gepriesen. Noch vor zwei Jahren auf dem 4. Novartis Forum in Berlin waren auch einige Demographie-Fachleute überzeugt, es könne sich um einen gangbaren Ausweg handeln.
Heute aber dürften nicht nur sie ihre Zweifel daran haben. Am Montag dieser Woche erregten Berichte über erste Notfallpläne deutscher Lebensversicherer Aufsehen. Die Versicherer denken über einen brancheninternen Pool nach, mit dem angeschlagene Mitglieder in Zukunft vorübergehend finanziert werden könnten. Die Notwendigkeit liegt auf der Hand: Der anhaltende Aktien-Sturz ließ die angelegten Gelder auf den Kapitalmärkten dahinschmelzen, vertraglich zugesicherte Garantieverzinsungen sind gefährdet.
Doch der große Auszahlungs-Ansturm auf die privaten Lebens- und Rentenversicherungen steht erst noch bevor - spätestens in 25 Jahren ist es so weit.
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