Die Computertechnik verleitet brave Bürger zu bislang ungekannter Raffsucht. Sie holen sich Software aus dem Internet, so viel sie nur kriegen können - gern auch Raubkopien mächtiger Programme. Bloß wofür? Um den Einkaufszettel geheimdienstsicher zu verschlüsseln?
Die deutsche Computerpresse hat das Internet zum Plündern freigegeben. "Alles gratis!", orgelt das Magazin "PC Shopping". "Illegale Software aus dem Web", verkündet die "PC go!" in fetten Lettern. Zu "geheimen Quellen im Internet" lockt die Zeitschrift "Chip".
Wie soll der brave Leser da nicht schwach werden? Seit Monaten gehen ihm die Sirenen der Halbwelt um die Ohren. Da draußen im Netz, so liest er auf den Titelseiten, warte reiche Beute für jedermann: Raubkopien mächtiger Programme, dazu Musik und Filme im Überfluss. Der Leser muss sich das Zeug nur mopsen.
Diese Magazine sind keine Untergrundkassiber, die man nach der Lektüre zerkaut und hinunterschluckt. Mit ihren Tipps fürs fröhliche Raffen erreichen sie ein Millionenpublikum. Halten sie die Leserschaft für ein Volk von Marodeuren?
Ganz falsch lägen sie damit nicht. Ein bislang unerforschter Menschenschlag, genannt "Power-Sauger", versetzte gerade erst deutsche Internet-Anbieter in Schrecken. Die hatten schnellen Netzzugang zum Pauschaltarif versprochen. Sofort hängten sich ungebetene Sauger Tag und Nacht an die Leitung; kein Gebührenzähler hemmte sie mehr. Manche pumpten im Monat rund 60 Gigabyte an Software und Musik auf ihre Rechner. Das entspricht der Füllung von beinahe 100 Daten-CDs. Fast alle Pauschalangebote wurden darum ganz schnell wieder vom Markt genommen.
In den USA sind selbst die Hochleistungsnetze der Unis oft schon heillos überlastet. Die Studenten laden sich MP3-Musik und ganze Fernsehserien gratis aus dem Internet. Die Universität von Delaware hat ihren Power-Saugern jetzt ein Limit von einem Gigabyte pro Tag auferlegt. Das reicht immerhin noch für einen Spielfilm, 100 Musikstücke und ein tüchtiges Stück Software freier Wahl.
Exzesse noch weit größeren Ausmaßes sind technisch kein Problem mehr. Die Leute zapfen das Netz über flotte DSL-Leitungen an; ihre Beute bunkern sie auf den riesigen 80-Gigabyte-Speicherplatten, mit denen ein leistungsfähiger PC heute bestückt ist.
Wer solche Mittel hat, blickt mit ganz neuen Augen auf das Internet. Was er sieht, ist ein einziger endloser Schlussverkauf: Alle Wühltische gefüllt, alle Preise auf null. Besonders verlockend sind die dunklen Reviere: Gewisse Netzadressen halten Tausende von geknackten Seriennummern feil. Damit lassen sich Probeversionen teurer Software unbefristet freischalten.
Wo das nicht geht, öffnen kleine Einbruchsprogramme, genannt Cracks, wie ein Dietrich den Zugang. Und schon besitzt der Schnäppchenjäger eine begehrte Trophäe wie die Grafiksoftware Photoshop, die sonst mehr als tausend Euro kostet.
Die Szene hat inzwischen ihr eigenes Beschaffungswesen aufgebaut. Suchmaschinen durchforsten den Untergrund nach frischer Ware. Ehrenamtliche Zuträger pflegen Sammlungen von Links, die auch den Unbedarften zu den Quellen lotsen. Das ist nicht ganz einfach, denn die Anbieter müssen häufig ihre Adressen wechseln.
Die populärste deutsche Anlaufstelle betreibt ein gesetzter Herr mittleren Alters aus dem Rheinland. Unter dem Pseudonym Cosmo Connor bemüht sich der Mann, im Hauptberuf Mediziner, nach Feierabend um seine Klientel. Dazu zählen, sagt er, Männer jeden Alters, jeder Schicht. Alle werden mal schwach, der Schüler wie der Familienvater. In so manchem Paps steckt unerkannt ein Freibeuter, der in wüsten Nächten da draußen manch stolze Tabellenkalkulation gekapert hat.
Auf Beutefahrt heißt es allerdings Strapazen erdulden: Unaufhörlich springen dem Abenteurer nackte Ballonbrüste und kopulierende Paare entgegen. Flackernde Werbefenster pflastern seinen Monitor; sie verheißen ihm Sexfilme, Peepshows, Orgien aller Sorten - alles gratis, alles frei.
Das kommt, weil die meisten Anbieter von Cracks ihr Geld als Zutreiber der Porno-Industrie verdienen. In der Branche heißen sie "Klickfarmer". Ihr Job ist es, möglichst viele Dumme einzufangen, die auf jede Nackte klicken. Die Opfer werden dann zu kostenpflichtigen Angeboten bugsiert.
Die Nachbarschaft von Sex und Cracks kommt nicht von ungefähr: Der verbotene Blick auf eine geile Faxsoftware, das ist der Softporno des Power-Saugers. Wenn er seinen Schatz dann in Sicherheit hat, kann er unumschränkt fummeln in den Tiefen der Einstellungsmenüs. Aber so weit gelangt der Sauger selten. "90 Prozent der vermeintlichen Anbieter", sagt Connor, "haben in Wahrheit gar keine Ware." Sie treiben nur die Kundschaft im Kreis herum.
Es gibt nicht viele Wege, dem Fegefeuer der Fensterwerbung zu entkommen. Der bekannteste führt in spezielle Diskussionsforen des Internet. Dort wird auch Software umgeschlagen; es gibt ganze Büropakete wie Office XP von Microsoft werbefrei zu erhaschen - aber um den Preis unendlicher Mühsal. Damit die Programmkolosse durch die Nachrichtenkanäle passen, werden sie zuvor in Hunderte Teile zerstückelt.
Die Jäger und Sauger müssen tagelang die nummerierte Häckselware zusammenkratzen. Und hinterher erschallt noch lange das Geheul der armen Seelen, denen die Teile R14 bis R16 der Lieferung 45/57 entgangen sind.
Dies ist die wahre Hölle des Saugers: Er muss Hunger leiden bis in alle Ewigkeit. Es ist dafür gesorgt, dass er niemals satt wird.
Im wirklichen Leben stößt jeder Sammler an Grenzen: Irgendwann ist der Keller voll oder die Geldbörse leer. Dem Sauger wird diese Gnade nicht zuteil. Geht sein Sammeltrieb mit ihm durch, hält nichts ihn auf. Er kann endlos raffen. Was immer er herbeischaufelt - der Computer schluckt es gleichmütig weg. Er wird einfach nicht voll. Und er bleibt dabei die unscheinbare Kiste, die er immer war.
Bis vor kurzem war Speicherplatz ein stets knappes Gut. Nun herrscht auf den meisten Platten schaurige Leere. 80 Gigabyte - das ist eine Einladung zur lebenslänglichen Freibeuterei. Und schon sind Platten mit 400 Gigabyte in Arbeit.
In der Not nimmt mancher Sauger mit legaler Ware vorlieb. Im Kaufhaus hat er die Wahl zwischen Programmen wie dem "Handy Klingelton Studio" oder der Software "3D Garten Genie" zur optimalen Planung des Rhabarberbeetes.
Eine ganze Branche lebt von Software, die niemand braucht - außer als Füllstoff. Allein die Weltzentrale der Sauger bietet im Internet unter www.download.com gut 20.000 Programme an, großteils gratis oder gegen geringes Entgelt. Auch die Computermagazine sorgen für Nachschub: Kaum mehr ein Heft, dem nicht ein, zwei CDs beiliegen, vollgestopft mit Billigsoftware oder Demo-Versionen (die Leser können sich dann im Internet den Crack dazu besorgen).
Aus diesem Schüttgut bauen die Sauger gewaltige Arsenale auf. In einem gewöhnlichen PC stecken heute, unter anderem, die Ausrüstung für einen Zeitschriftenverlag (mitsamt Layout und Buchhaltung) sowie ein 12-Spur-Musikstudio, falls dem Eigner mal ein Hit einfiele.
Ein Wink, und der Computer würde seinem Gebieter auch anstandslos ein Serienfax verschicken an alle Mecklenburger, deren Name mit A beginnt, falls das mal nötig sein sollte. Und danach würde er die Ausflugsroute zu Tante Edeltraud logistisch optimieren. Der Computer könnte ihm sogar seinen Einkaufszettel so trickreich verschlüsseln, dass kein Geheimdienst ihn mehr zu knacken vermag.
Falls, würde, könnte - der Mensch von heute ist, vermöge seines Rechners, ein großer Potentat im Reich der Konjunktive. Theoretisch ist er der Allmacht nahe: Was immer geschehen mag, er hätte die passende Software parat. Aber leider geschieht nichts.
Fallweise weht den Sauger an, was Philosophen die "Melancholie der Erfüllung" nennen: Was anfangen mit dem ganzen Reichtum, wenn er endlich eingesackt ist? Das schiere Besitzen von Daten macht wenig Freude; sie sind spukhaft und abstrakt. Der Sauger kann ja nicht einmal, wie Dagobert Duck, in seinem Schatzspeicher herumwühlen und sich die Gigabyte auf den Kopf prasseln lassen. Er muss seine Programme schon anwerfen, er muss etwas tun.
Vielleicht möchte der Herr aus Langeweile einmal eine selbst gemachte Grußkarte verschicken? Bitte sehr: Fürs Dekor steht ihm eine CD-Sammlung mit 1 250 000 Schnipselbildern zu Gebot, die es irgendwo mal zu kaufen gab. Vor dieser Fülle muss dem Datenmagnaten vollends der Mut sinken. Wie könnte er ihr gerecht werden?
Das ist das fundamentale Dilemma des Computerbesitzers: Je mehr die Maschine ihm möglich macht, desto lachhafter der Anteil, den er verwirklichen kann. Die Quote geht langsam, aber stetig gegen null. All die schöne Software: totes Kapital. Sein Rechner: eine Geisterfabrik, die er kaum noch begreift.
Der Normalmensch, stumpf wie er ist, ignoriert die Demütigung. Der Sauger aber sucht den Fehler bei sich selber: Er hat eben noch nicht die richtige Software gefunden, noch nicht die wahren Möglichkeiten geweckt. Es gibt immer Programme, die noch viel mehr können, und irgendwo da draußen warten sie schon.
Die US-Psychologin Sherry Turkle nennt den Computer eine "Wunschmaschine" - nicht weil er jeden Wunsch erfüllt. Im Gegenteil: weil er immer neue Wünsche weckt.
Die eifrigsten Sauger haben sich ganz dem Ergattern verschrieben. Sie jagen nach Programmen, die einfach nur selten und teuer sind. Die Dutzendware, die einem nachgeworfen wird, lassen sie verächtlich beiseite. Für sie kommt nur das Allerneueste vom Schwarzmarkt in Frage. Den besten Kick verschaffen ihnen die "Zero Day Warez". Das ist heiße Ware vom Tage null, geknackt und im Netz feilgeboten binnen 24 Stunden nach Erscheinen. Wenig später tauchen die Programme dann bereits auf zahlreichen Computerfestplatten auf, werden kurz ausprobiert, verstaut und vergessen.
Diese Extremsportler des Saugens stehen für einen asketischen Dienst am Rechner, der dem gewöhnlichen Schnäppchenjäger zunehmend fremd wird. Der hortet inzwischen eher Musik als Software, und sein Lieblingsrevier sind Tauschbörsen wie Morpheus, an denen er seinesgleichen trifft.
Diese Börsen neuen Typs kommen, anders als der Vorgänger Napster, ohne Zentralrechner aus, die man per Richterspruch stilllegen könnte. Das Netz von Morpheus ist direkt zwischen den Computern der Tauschpartner geknüpft, die sich gerade zugeschaltet haben. Das sind bereits durchschnittlich eine halbe Million Sauger. Sie finden neben Musik und Software aller Art auch die neuesten Filme. Selbst "Der Herr der Ringe" ist schon in mehreren Versionen verfügbar.
Der Mensch klickt einfach auf die Artikel, die er haben will; die Tauschsoftware organisiert das Verschieben des Stoffs. So wird das Dauersaugen zu einer bequemen Sache. Das lockt nun auch all die Faulen, die bisher immun waren gegen die Anfechtungen der Raffgier. Aber ein Schlaraffenleben, wo einem die gebratenen Raubkopien ins Maul fliegen, lässt selbst sie nicht kalt.
Früher oder später wird jeder den Stoff finden, der seinen Erwerbstrieb stimuliert. Wenn nicht die Musik, dann vielleicht die Videos, die gerade im Kommen sind. Bis zu 500 000 Filme werden bereits täglich gesaugt, schätzt die US-Beratungsfirma Viant.
Schon die Festplatten der übernächsten Generation werden vermutlich überhaupt nicht mehr gefüllt werden können. Sie schlucken 100 000 selbst geknipste Digitalfotos, tausend Stunden Musik, Videos für zwölf Wochenenden rund um die Uhr, und sind immer noch fast leer. Was dann?