Die Privatverschuldung steigt - Deutschland ist im Begriff, die Fehler der USA zu wiederholen. Warum ein Boom auf Pump langfristig schadet
von Jeremy Rifkin
Für die deutsche Wirtschaft sieht es zurzeit etwas besser aus als in den letzten Jahren. Lager und Maschinenparks werden aufgestockt, die Investitionen in ein paar Schlüsselsektoren steigen langsam, die Produktivität nimmt leicht zu. Das Wachstum zeigt Anzeichen für eine Belebung und die Arbeitslosigkeit geht etwas zurück. Und just im vergangenen Monat überholte Deutschland die USA und wurde zur führenden Exportnation der Welt. Hat sich Deutschland endlich von der Rezession verabschiedet, die in den letzten drei Jahren einen Großteil Europas und der Welt blockierte? Die deutschen Wirtschaftslenker scheinen das zu glauben. Das Vertrauen in die Geschäftsentwicklung stieg im Oktober zum sechsten Mal in Folge. Ist also die Zeit zum Feiern gekommen? Vielleicht doch noch nicht.
Ein genauer Blick auf die deutsche Wirtschaft zeigt einen störenden Trend, eine unheimliche Erinnerung an das, was in den USA während des Booms der späten neunziger Jahre passierte. Wir dachten nach der tiefen Rezession Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre ebenfalls, wir seien auf dem Weg der Besserung. 1995 begann die amerikanische Volkswirtschaft, sich zu erholen. Unsere Politiker und Wirtschaftsführer sprachen atemlos von einem "amerikanischen Wunder", und einige Wirtschaftsforscher prognostizierten gar ein Ende der traditionellen Konjunkturzyklen. Es schien, als hätten die USA einen Weg gefunden, praktisch unbegrenztes Wachstum sicherzustellen. Ende der Neunziger war die Arbeitslosenquote auf vier Prozent gesunken und der Dow-Jones-Index hatte die 10 000er-Marke durchbrochen. Konnte noch irgendjemand an dieser amerikanischen Erfolgsstory zweifeln?
In der Rückschau wissen wir heute, dass die Dinge nicht ganz so waren, wie sie damals gezeichnet wurden. Ein Großteil des so genannten amerikanischen Wirtschaftswunders der späten neunziger Jahre, einschließlich der zeitweiligen Beschäftigungsblase, war reine Illusion. Es waren nicht so sehr Amerikas überlegene Management-Tugenden, unternehmerische Fähigkeiten und Produktivitätszuwächse, die die Expansion beflügelten, sondern eine noch nie da gewesene Ausweitung der Konsumentenkredite. Nur sie erlaubten den Amerikanern, auf ausgedehnte Einkaufstouren zu gehen. Das amerikanische Wunder beruhte in erheblichem Umfang auf Pump. In der Tat ist es unmöglich, den zeitweiligen Rückgang der Arbeitslosigkeit in den USA während der späten neunziger Jahre zu verstehen, ohne die enge Beziehung zwischen der Schaffung von Jobs und dem Anhäufen privater Rekordschulden zu untersuchen. Die Konsumentenkredite stiegen in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre dramatisch an. Die Explosion der Verbraucherausgaben brachte den Leuten für einige Jahre wieder Arbeit, weil sie all die Güter produzieren und Dienstleistungen erbringen durften, die auf Kredit gekauft wurden. Das Ergebnis war, dass die Sparquote der privaten Haushalte zwischen den frühen 90ern und 2001 von rund acht auf etwa zwei Prozent sank.
Es scheint so, als ob Deutschland in den gleichen Schlamassel tappt. In den 90ern haben sich die Schulden der privaten Haushalte nahezu verdoppelt. Laut OECD beliefen sich die Verbindlichkeiten aller deutschen Haushalte im Jahr 2001 auf 112 Prozent des Gesamteinkommens. Zehn Jahre zuvor waren es noch 85 Prozent. Die Durchschnittsverschuldung deutscher Privathaushalte beträgt mittlerweile 40 000 Euro. Und wie in den USA sinkt die Sparquote. 1991 betrug sie noch gut 13 Prozent, heute nur noch 10,3 Prozent. Das bedeutet einen Rückgang der Sparleistung um ein Fünftel in nur einer Dekade. Schlimmer noch: 51 Prozent der Deutschen verfügen über gar keine Ersparnisse. Natürlich regen Ausgaben, selbst wenn man sich für sie hoch verschulden muss, die Wirtschaft zumindest für eine gewisse Zeit an, aber um welchen Preis?
Eine analoge Situation gab es in den USA schon einmal, Mitte der zwanziger Jahre. Wie die heutige Zeit waren die Zwanziger eine Periode heftiger technischer Veränderungen. Elektrizität ersetzte in fast allen bedeutenden Branchen die Dampfkraft und steigerte die produktiven Kapazitäten Amerikas gewaltig. Die Produktivitätszunahmen gingen jedoch nicht mit einer kräftigen Anhebung der Löhne einher. Stattdessen blieben die Lohnsummen ziemlich stabil, weil viele Arbeiter durch billigere und effizientere Maschinen ersetzt wurden. Ende der zwanziger Jahre arbeitete die amerikanische Industrie in den meisten Schlüsselsektoren der Wirtschaft nur noch mit 75 Prozent Kapazitätsauslastung. Die Früchte dieser neuen Produktivitätsgewinne waren nicht breit genug unter den Arbeitern verteilt worden, der Konsum erhöhte sich nicht, Händler blieben auf ihren Waren sitzen. Besorgt über die zu geringe Verbrauchernachfrage vergaben der Bankensektor und der Einzelhandel billige Ratenkredite, um so die Arbeiter zum Kaufen zu ermuntern und die Wirtschaft in Gang zu halten.
Kaufen per Ratenzahlung war verführerisch, und für viele wurde es zur Sucht. Binnen nicht einmal zehn Jahren verwandelte sich eine Nation hart arbeitender und bescheidener Amerikaner in ein hedonistisches Volk, das auf ständig neuen Wegen sofortige Befriedigung anstrebte. Zur Zeit des großen Börsen-Crashs wurden 60 Prozent der Radios, Autos und Möbel in den USA per Ratenkredit gekauft. Ende 1929 waren die Verbraucherschulden so hoch, dass es so nicht mehr weitergehen konnte. Selbst die Hausse an den Börsen beruhte auf Rekordkäufen von Aktien über so genannte Margin Accounts - das heißt, die Aktienkäufer machten, wenn sie Wertpapiere erwarben, nur eine Anzahlung auf das Konto eines Brokers und hinterlegten die Wertpapiere. Schließlich brach das Ganze wie ein Kartenhaus zusammen.
Das gleiche Phänomen kann man auch heute beobachten. Die Produktivitätszuwächse durch die Informations- und Telekommunikationsrevolution machen sich bemerkbar. Das Problem besteht darin, dass praktisch jede Branche mit einer globalen Unterauslastung und einer unzureichenden Verbrauchernachfrage konfrontiert ist. Amerikanische Hersteller berichten, dass sie im Oktober 2003 nur 73 Prozent ihrer Kapazitäten genutzt haben. Wieder einmal sind in den USA Konsumentenkredite zu einer Art Allheilmittel geworden, einer Methode, die Wirtschaftsmaschine in Gang zu halten, zumindest für eine gewisse Zeit. Verbraucherkredite legen jährlich um erstaunliche neun Prozent zu, und gleichzeitig steigt die Zahl privater Insolvenzen.
Während die Baisse des Jahres 2000 den Wohlstand von 50 Prozent der Bevölkerung, die Wertpapiere besaßen, erheblich reduzierte, konnten viele Amerikaner sich - trotz der Entlassungen - sanieren, indem sie von den niedrigen Zinsen profitierten und ihre Hypotheken umschuldeten. Die Refinanzierung der Eigenheim-Hypotheken und die Stimulierung durch Steuersenkungen pumpen jährlich 300 Milliarden Dollar in die Wirtschaft. Diese Bargeldspritze versickert jedoch schnell. Und mit zunehmender Verschuldung über Kreditkarten fragt sich jeder in der Wall Street: Wo kommt das ganze Geld her, das die Verbraucherausgaben hochhält? David Rosenberg, der Chefvolkswirt von Merrill Lynch, sorgt sich: "Wenn erst einmal das Doping aus der Eigenheim-Refinanzierung und den Steuersenkungen nachlässt, wird die Wirtschaftsentwicklung sich wahrscheinlich abkühlen." Eine weitere Steuersenkung in den USA sei unwahrscheinlich, sagen Washingtoner Insider, weil die Militärausgaben im Mittleren Osten und anderswo ins Kraut schießen und das Budgetdefizit der Regierung explodiert; die Schätzungen nur für 2004 belaufen sich inzwischen auf mehr als 370 Milliarden Dollar.
Noch unheilvoller dürfte für Millionen Amerikaner, die mit Rekordschulden belastet sind, die Tatsache sein, dass selbst eine kurzfristige Arbeitslosigkeit sie in die Katastrophe führen kann. Nach einer Gallup-Befragung aus diesem Jahr sagen vier von zehn Amerikanern, sie könnten ohne Job lediglich rund einen Monat durchhalten, bevor sie "erhebliche finanzielle Härten in Kauf nehmen" müssten.
Es kann daher nicht überraschen, dass die Zahl der Amerikaner, die ihre Zahlungsunfähigkeit erklären müssen, dramatisch ansteigt. 1994 waren es noch 780 000, 2002 stieg die Zahl der Pleiten auf 1 576 133. Auch in Deutschland leisteten im Jahr 2002 über 900 000 Personen den Offenbarungseid, 9,3 Prozent mehr als im Vorjahr.
Doch die USA und Deutschland sind nicht die einzigen Länder, die in die Konsumenten-Schuldenfalle tappen. Auch in Großbritannien wurden die Verbraucherkredite mächtig ausgeweitet, um die Wirtschaft zu stärken. Kurzfristig war diese Politik erfolgreich. Die Arbeitslosigkeit in Großbritannien ist eine der niedrigsten auf der ganzen Welt. Das Problem ist, dass das britische Wirtschaftswunder wie das der USA weniger mit cleverem Management und stromlinienförmiger Regierungskunst zu tun hat als mit großzügigen Krediten und steigenden Schulden. Die Verschuldung der Haushalte hat eine Rekordsumme von 1,4 Billionen US-Dollar erreicht. Der Durchschnittsbrite gibt zurzeit 120 bis 130 Prozent seines Jahreseinkommens aus und benutzt dabei die gleichen Kreditinstrumente, in die die Amerikaner so vernarrt sind: Kreditkarten, Refinanzierung durch Hypotheken, Verbraucherkredite und Kontoüberziehungen. Die britischen Konsumenten erfreuen sich des zweifelhaften Ruhms, dass ihre privaten Schulden noch schneller steigen als die der Amerikaner.
Dies ist denn auch die Warnung: Wenn in Deutschland die private Sparquote weiter von zehn Prozent gegen null sinkt, wie es in den USA geschehen ist, könnte das kurzfristig zu Wirtschaftswachstum und einem Sinken der Arbeitslosigkeit führen. Millionen Menschen, die - auf Kredit - Geld ausgeben, würden zwar Millionen deutschen Arbeitern wieder Jobs verschaffen, um die Güter zu produzieren und die Dienstleistungen zu erbringen, die auf Kredit gekauft werden. Doch dem US-Vorbild zu folgen brächte nur kurzfristig Besserung - dafür aber die Gefahr einer langfristigen Periode noch größerer ökonomischer Instabilität. Die Kreditausweitung könnte an ihre Grenzen stoßen, die Verbraucher in Zahlungsverzug geraten und die Volkswirtschaft in eine Abwärtsspirale stürzen. Genau das passierte in den USA Ende der zwanziger, Anfang der dreißiger Jahre.
Übersetzung: Bruni Lenkheit
WamS.de
von Jeremy Rifkin
Für die deutsche Wirtschaft sieht es zurzeit etwas besser aus als in den letzten Jahren. Lager und Maschinenparks werden aufgestockt, die Investitionen in ein paar Schlüsselsektoren steigen langsam, die Produktivität nimmt leicht zu. Das Wachstum zeigt Anzeichen für eine Belebung und die Arbeitslosigkeit geht etwas zurück. Und just im vergangenen Monat überholte Deutschland die USA und wurde zur führenden Exportnation der Welt. Hat sich Deutschland endlich von der Rezession verabschiedet, die in den letzten drei Jahren einen Großteil Europas und der Welt blockierte? Die deutschen Wirtschaftslenker scheinen das zu glauben. Das Vertrauen in die Geschäftsentwicklung stieg im Oktober zum sechsten Mal in Folge. Ist also die Zeit zum Feiern gekommen? Vielleicht doch noch nicht.
Ein genauer Blick auf die deutsche Wirtschaft zeigt einen störenden Trend, eine unheimliche Erinnerung an das, was in den USA während des Booms der späten neunziger Jahre passierte. Wir dachten nach der tiefen Rezession Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre ebenfalls, wir seien auf dem Weg der Besserung. 1995 begann die amerikanische Volkswirtschaft, sich zu erholen. Unsere Politiker und Wirtschaftsführer sprachen atemlos von einem "amerikanischen Wunder", und einige Wirtschaftsforscher prognostizierten gar ein Ende der traditionellen Konjunkturzyklen. Es schien, als hätten die USA einen Weg gefunden, praktisch unbegrenztes Wachstum sicherzustellen. Ende der Neunziger war die Arbeitslosenquote auf vier Prozent gesunken und der Dow-Jones-Index hatte die 10 000er-Marke durchbrochen. Konnte noch irgendjemand an dieser amerikanischen Erfolgsstory zweifeln?
In der Rückschau wissen wir heute, dass die Dinge nicht ganz so waren, wie sie damals gezeichnet wurden. Ein Großteil des so genannten amerikanischen Wirtschaftswunders der späten neunziger Jahre, einschließlich der zeitweiligen Beschäftigungsblase, war reine Illusion. Es waren nicht so sehr Amerikas überlegene Management-Tugenden, unternehmerische Fähigkeiten und Produktivitätszuwächse, die die Expansion beflügelten, sondern eine noch nie da gewesene Ausweitung der Konsumentenkredite. Nur sie erlaubten den Amerikanern, auf ausgedehnte Einkaufstouren zu gehen. Das amerikanische Wunder beruhte in erheblichem Umfang auf Pump. In der Tat ist es unmöglich, den zeitweiligen Rückgang der Arbeitslosigkeit in den USA während der späten neunziger Jahre zu verstehen, ohne die enge Beziehung zwischen der Schaffung von Jobs und dem Anhäufen privater Rekordschulden zu untersuchen. Die Konsumentenkredite stiegen in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre dramatisch an. Die Explosion der Verbraucherausgaben brachte den Leuten für einige Jahre wieder Arbeit, weil sie all die Güter produzieren und Dienstleistungen erbringen durften, die auf Kredit gekauft wurden. Das Ergebnis war, dass die Sparquote der privaten Haushalte zwischen den frühen 90ern und 2001 von rund acht auf etwa zwei Prozent sank.
Es scheint so, als ob Deutschland in den gleichen Schlamassel tappt. In den 90ern haben sich die Schulden der privaten Haushalte nahezu verdoppelt. Laut OECD beliefen sich die Verbindlichkeiten aller deutschen Haushalte im Jahr 2001 auf 112 Prozent des Gesamteinkommens. Zehn Jahre zuvor waren es noch 85 Prozent. Die Durchschnittsverschuldung deutscher Privathaushalte beträgt mittlerweile 40 000 Euro. Und wie in den USA sinkt die Sparquote. 1991 betrug sie noch gut 13 Prozent, heute nur noch 10,3 Prozent. Das bedeutet einen Rückgang der Sparleistung um ein Fünftel in nur einer Dekade. Schlimmer noch: 51 Prozent der Deutschen verfügen über gar keine Ersparnisse. Natürlich regen Ausgaben, selbst wenn man sich für sie hoch verschulden muss, die Wirtschaft zumindest für eine gewisse Zeit an, aber um welchen Preis?
Eine analoge Situation gab es in den USA schon einmal, Mitte der zwanziger Jahre. Wie die heutige Zeit waren die Zwanziger eine Periode heftiger technischer Veränderungen. Elektrizität ersetzte in fast allen bedeutenden Branchen die Dampfkraft und steigerte die produktiven Kapazitäten Amerikas gewaltig. Die Produktivitätszunahmen gingen jedoch nicht mit einer kräftigen Anhebung der Löhne einher. Stattdessen blieben die Lohnsummen ziemlich stabil, weil viele Arbeiter durch billigere und effizientere Maschinen ersetzt wurden. Ende der zwanziger Jahre arbeitete die amerikanische Industrie in den meisten Schlüsselsektoren der Wirtschaft nur noch mit 75 Prozent Kapazitätsauslastung. Die Früchte dieser neuen Produktivitätsgewinne waren nicht breit genug unter den Arbeitern verteilt worden, der Konsum erhöhte sich nicht, Händler blieben auf ihren Waren sitzen. Besorgt über die zu geringe Verbrauchernachfrage vergaben der Bankensektor und der Einzelhandel billige Ratenkredite, um so die Arbeiter zum Kaufen zu ermuntern und die Wirtschaft in Gang zu halten.
Kaufen per Ratenzahlung war verführerisch, und für viele wurde es zur Sucht. Binnen nicht einmal zehn Jahren verwandelte sich eine Nation hart arbeitender und bescheidener Amerikaner in ein hedonistisches Volk, das auf ständig neuen Wegen sofortige Befriedigung anstrebte. Zur Zeit des großen Börsen-Crashs wurden 60 Prozent der Radios, Autos und Möbel in den USA per Ratenkredit gekauft. Ende 1929 waren die Verbraucherschulden so hoch, dass es so nicht mehr weitergehen konnte. Selbst die Hausse an den Börsen beruhte auf Rekordkäufen von Aktien über so genannte Margin Accounts - das heißt, die Aktienkäufer machten, wenn sie Wertpapiere erwarben, nur eine Anzahlung auf das Konto eines Brokers und hinterlegten die Wertpapiere. Schließlich brach das Ganze wie ein Kartenhaus zusammen.
Das gleiche Phänomen kann man auch heute beobachten. Die Produktivitätszuwächse durch die Informations- und Telekommunikationsrevolution machen sich bemerkbar. Das Problem besteht darin, dass praktisch jede Branche mit einer globalen Unterauslastung und einer unzureichenden Verbrauchernachfrage konfrontiert ist. Amerikanische Hersteller berichten, dass sie im Oktober 2003 nur 73 Prozent ihrer Kapazitäten genutzt haben. Wieder einmal sind in den USA Konsumentenkredite zu einer Art Allheilmittel geworden, einer Methode, die Wirtschaftsmaschine in Gang zu halten, zumindest für eine gewisse Zeit. Verbraucherkredite legen jährlich um erstaunliche neun Prozent zu, und gleichzeitig steigt die Zahl privater Insolvenzen.
Während die Baisse des Jahres 2000 den Wohlstand von 50 Prozent der Bevölkerung, die Wertpapiere besaßen, erheblich reduzierte, konnten viele Amerikaner sich - trotz der Entlassungen - sanieren, indem sie von den niedrigen Zinsen profitierten und ihre Hypotheken umschuldeten. Die Refinanzierung der Eigenheim-Hypotheken und die Stimulierung durch Steuersenkungen pumpen jährlich 300 Milliarden Dollar in die Wirtschaft. Diese Bargeldspritze versickert jedoch schnell. Und mit zunehmender Verschuldung über Kreditkarten fragt sich jeder in der Wall Street: Wo kommt das ganze Geld her, das die Verbraucherausgaben hochhält? David Rosenberg, der Chefvolkswirt von Merrill Lynch, sorgt sich: "Wenn erst einmal das Doping aus der Eigenheim-Refinanzierung und den Steuersenkungen nachlässt, wird die Wirtschaftsentwicklung sich wahrscheinlich abkühlen." Eine weitere Steuersenkung in den USA sei unwahrscheinlich, sagen Washingtoner Insider, weil die Militärausgaben im Mittleren Osten und anderswo ins Kraut schießen und das Budgetdefizit der Regierung explodiert; die Schätzungen nur für 2004 belaufen sich inzwischen auf mehr als 370 Milliarden Dollar.
Noch unheilvoller dürfte für Millionen Amerikaner, die mit Rekordschulden belastet sind, die Tatsache sein, dass selbst eine kurzfristige Arbeitslosigkeit sie in die Katastrophe führen kann. Nach einer Gallup-Befragung aus diesem Jahr sagen vier von zehn Amerikanern, sie könnten ohne Job lediglich rund einen Monat durchhalten, bevor sie "erhebliche finanzielle Härten in Kauf nehmen" müssten.
Es kann daher nicht überraschen, dass die Zahl der Amerikaner, die ihre Zahlungsunfähigkeit erklären müssen, dramatisch ansteigt. 1994 waren es noch 780 000, 2002 stieg die Zahl der Pleiten auf 1 576 133. Auch in Deutschland leisteten im Jahr 2002 über 900 000 Personen den Offenbarungseid, 9,3 Prozent mehr als im Vorjahr.
Doch die USA und Deutschland sind nicht die einzigen Länder, die in die Konsumenten-Schuldenfalle tappen. Auch in Großbritannien wurden die Verbraucherkredite mächtig ausgeweitet, um die Wirtschaft zu stärken. Kurzfristig war diese Politik erfolgreich. Die Arbeitslosigkeit in Großbritannien ist eine der niedrigsten auf der ganzen Welt. Das Problem ist, dass das britische Wirtschaftswunder wie das der USA weniger mit cleverem Management und stromlinienförmiger Regierungskunst zu tun hat als mit großzügigen Krediten und steigenden Schulden. Die Verschuldung der Haushalte hat eine Rekordsumme von 1,4 Billionen US-Dollar erreicht. Der Durchschnittsbrite gibt zurzeit 120 bis 130 Prozent seines Jahreseinkommens aus und benutzt dabei die gleichen Kreditinstrumente, in die die Amerikaner so vernarrt sind: Kreditkarten, Refinanzierung durch Hypotheken, Verbraucherkredite und Kontoüberziehungen. Die britischen Konsumenten erfreuen sich des zweifelhaften Ruhms, dass ihre privaten Schulden noch schneller steigen als die der Amerikaner.
Dies ist denn auch die Warnung: Wenn in Deutschland die private Sparquote weiter von zehn Prozent gegen null sinkt, wie es in den USA geschehen ist, könnte das kurzfristig zu Wirtschaftswachstum und einem Sinken der Arbeitslosigkeit führen. Millionen Menschen, die - auf Kredit - Geld ausgeben, würden zwar Millionen deutschen Arbeitern wieder Jobs verschaffen, um die Güter zu produzieren und die Dienstleistungen zu erbringen, die auf Kredit gekauft werden. Doch dem US-Vorbild zu folgen brächte nur kurzfristig Besserung - dafür aber die Gefahr einer langfristigen Periode noch größerer ökonomischer Instabilität. Die Kreditausweitung könnte an ihre Grenzen stoßen, die Verbraucher in Zahlungsverzug geraten und die Volkswirtschaft in eine Abwärtsspirale stürzen. Genau das passierte in den USA Ende der zwanziger, Anfang der dreißiger Jahre.
Übersetzung: Bruni Lenkheit
WamS.de