Großanleger halten sich zurück, Analysten verstehen die Aktienwelt nicht mehr, Tagesspekulanten und Trendjäger beherrschen die Börse. Eine echte Erholung wird noch Jahre dauern
Als die Börse so tief gefallen war wie seit acht Jahren nicht mehr, gab Andreas Utermann eine ungewöhnliche Anweisung: Der Chefinvestor der Allianz Dresdner Asset Management (Adam) ließ die Computerschirme ausschalten. Mehr als 350 Milliarden Euro steuert Utermann von seinen Büros in London, Frankfurt oder New York aus, mehr als 330 Portfolio-Manager der Allianz berichten ihm täglich, in welchen Aktien sie das Geld der Versicherten oder Fondskunden anlegen. Ihr wichtigstes Hilfsmittel sind die Kursinformationen der Computerterminals, ihre wichtigste Aufgabe ist es, ruhig zu bleiben. Doch von Ruhe kann an der Börse in diesen Tagen keine Rede sein.
Rot, rot, rot, meldeten die Computer in der vergangenen Woche, sieben Tage hintereinander krachten die Börsen weltweit – und niemand wusste, warum. „We can’t bear watching these screens anymore“, stöhnten die Londoner Adam-Manager, „wir können es einfach nicht mehr sehen“. Ungläubiges Erstaunen über den Absturz der Kurse, fassungsloses Bangen, wie tief die Aktien noch fallen werden. Wenn selbst Finanzprofis den Mut verlieren, muss eine Entscheidung her. Also: Computer aus. Und wenn es nur symbolisch ist. Das war am Mittwoch.
Grün, grün, grün, melden die Terminals seit Donnerstag vergangener Woche. Die Kurse steigen, und zwar rasant. Der europäische Aktienindex EuroStoxx 50 gewann binnen vier Tagen mehr als 20 Prozent, der deutsche Dax mehr als 15. Gut möglich, dass die Börse auch in den kommenden Tagen zulegt. Zu tief sind vor allem die deutschen Aktien gefallen.
Allerdings: Nichts spricht dafür, dass es nach einem schnellen Anstieg genauso schnell weitergeht. Im Gegenteil. Die Aktionäre werden sich an magere Jahre gewöhnen müssen.
Schon ein einziges Gerücht lässt die Spekulanten umschwenken
Es gibt zwei unterschiedliche Erklärungen für das Jojo der Kurse. Die erste: Die Angst vor einem Krieg im Irak hat die Kurse zu stark abstürzen lassen. Nun sehen die Börsianer, wie tief die Aktien vor allem in Europa stehen, sie spekulieren auf die Zeit nach einem Krieg. Die Dividendenrendite der Unternehmen in den großen europäischen Indizes übersteigt die Rendite der zehnjährigen Staatsanleihen, das gab es zuletzt in den fünfziger Jahren. Das Kurs-Gewinn-Verhältnis auf Basis der Analystenschätzungen für 2004 liegt für den Dax bei neun – so niedrig wie seit Anfang der Achtziger nicht mehr. Würde man die großen deutschen Unternehmen in ihre Einzelteile zerlegen und verkaufen, wären sie mehr wert, als sie als Ganzes derzeit an der Börse kosten. Günstige Bewertungen locken Börsianer immer. Also werden jetzt Aktien gekauft. Also steigen jetzt die Kurse.
Es ist das Szenario der Optimisten.
Die zweite Erklärung für das dramatische Ab und Auf: Selbst die Finanzprofis haben den Überblick verloren. Sie haben resigniert und wissen nicht, worauf sie sich verlassen sollen. Der Markt ist in der Hand von Spekulanten. Diese haben auf einen langwierigen Konflikt gewettet, mit steigenden Ölpreisen und wirtschaftlichen Verwerfungen. Deshalb krachten die Kurse, deshalb erreichte der Index der Investmentbank Credit Suisse First Boston, die wöchentlich den Risikoappetit der globalen Investoren misst, zuletzt fast Panikniveau.
Schon ein einziges Gerücht lässt die Spekulanten umschwenken – dann steigen die Kurse plötzlich kräftig. Vergangenen Donnerstag hieß es, die Vereinigten Staaten stünden in Geheimverhandlungen mit irakischen Generälen. Es war das Zeichen zum Kauf. Langfristig orientierte Investoren dagegen, die sonst die hektischen Kursausschläge ausgleichen – also Versicherer, Fondsgesellschaften oder Privatanleger –, bleiben dem Aktienmarkt fern. So wie nach der Ölkrise 1973/74: Damals brauchte die Börse fast eine Anlegergeneration, um sich zu erholen. Wegen des niedrigen Handelsvolumens schwankten die Kurse heftig, starken Einbrüchen folgten regelmäßig kräftige Gewinne. Bis die Kurse wieder krachten.
Es ist das Szenario der Pessimisten. Und es ist ziemlich nah an der Realität.
An der Börse herrscht eine Situation wie in den letzten Tagen vor dem Platzen der großen Spekulationsblase am Aktienmarkt – nur unter umgekehrten Vorzeichen. Im Frühjahr 2000 schwärmten die Ökonomen von den Segnungen der New Economy mit ihrem unendlichen Wachstum. Die Kurse kletterten und kletterten, obwohl sie schon so hoch waren wie nie zuvor. Fondsmanager und Analysten starrten auf ihre Computerschirme und verstanden die Welt nicht mehr. Drei Jahre später sind sie ebenso ratlos.
Die Fondsmanager und Analysten haben den Glauben an die Bewertungsrelationen verloren. „Die haben Ende der neunziger Jahre als Richtschnur versagt, warum sollte man sich jetzt auf sie verlassen?“, fragt Conrad Mattern, Chefvolkswirt der Fondsgesellschaft Activest. Die Aktienanalysten von ABN Amro stellen ihren verunsicherten Kunden gar die provokante Frage, ob Aktien überhaupt noch fundamental zu bewerten seien. Die meisten Anleger handelten nur noch nach schnell entworfenen Taktiken, wie Währungsspekulanten.
„Seit 1997 können Investoren mit Trendfolgemodellen die Aktienindizes schlagen“, sagt Jürgen Callies, Leiter Research bei der Fondsgesellschaft MEAG. Während früher die Unternehmensgewinne die Hauptrolle spielten, seien seit sechs Jahren prozyklische Strategien immer erfolgreicher. Das heißt: Man kauft, wenn die Kurse steigen, und verkauft, wenn die Kurse fallen. Damit ähneln Aktien tatsächlich Devisen: Bis heute gibt es keine Theorie, die erklärt, warum sich Währungen über Jahre anders entwickeln, als volkswirtschaftliche Daten vorgeben.
Vor allem mit deutschen Aktien wird gern gezockt. „Wenn große Investoren schnell Aktien verkaufen wollen, suchen sie sich den deutschen Markt aus“, sagt Peter Knacke, Wertpapierstratege der Commerzbank. Das hat verschiedene Gründe: In Deutschland haben die Verkäufer nach zwei Tagen das Geld auf dem Konto, in anderen Ländern gelten zum Teil längere Fristen. Und: Die deutsch-schweizerische Terminbörse Eurex ist mittlerweile der größte Handelsplatz für Optionsgeschäfte, mit denen sich die Finanzprofis gegen Kursschwankungen absichern. Je größer das Handelsvolumen an der Terminbörse, desto größer sind auch die Kursschwankungen am normalen Aktienmarkt.
Das Ratespiel heißt: Wer kauft auf Dauer überhaupt noch Aktien?
Mehr als 70 Prozent hat der Dax seit dem Höchststand vor drei Jahren verloren. Der japanische Topix, der ebenfalls 70 Prozent verlor, hat dafür 13 Jahre gebraucht. Der britische Footsie wiederum ist seit dem Hoch vom März 2000 um 50 Prozent gefallen, der amerikanische Dow Jones gar nur um 30.
Die kräftigen Kurssteigerungen der vergangenen Tage haben im besten Fall die Wende markiert. Im schlechtesten Fall waren sie nur die fünfte Gegenbewegung in dem seit drei Jahren gültigen Abwärtstrend. Auf alle Fälle sind sie kein Aufbruchsignal, dafür bleiben die Rahmenbedingungen zu schlecht – ganz unabhängig vom Ausgang des Irak-Konflikts.
So sind die krisengeschüttelten Banken und Versicherer im Dax – im Gegensatz zu anderen Indizes – überproportional vertreten. Die Banken aber leiden unter der Rekordzahl an Firmenpleiten, sie müssen so viele Kredite abschreiben wie selten zuvor. Die Versicherer wiederum leiden, weil sie so viele Aktien besitzen, speziell Bankwerte. Die Verflechtung der Geldhäuser ist ein Teufelskreis. Kein Wunder, dass drei der vier schlechtesten Dax-Werte der vergangenen zwölf Monate Finanzwerte sind: HypoVereinsbank (minus 80 Prozent), Allianz (minus 80 Prozent), Münchener Rück (minus 75 Prozent).
Nur mit einem kräftigen Wirtschaftswachstum lässt sich dieser Teufelskreis durchbrechen. Dann steigen die Gewinne der Unternehmen, gehen die Pleiten zurück und schreiben die Banken weniger Kredite ab. Dann steigen die Gewinne der Geldhäuser, und damit steigt der Aktienmarkt insgesamt. Doch danach sieht es nicht aus.
„Warum fallen die Renditen der Staatsanleihen auf ein 40-Jahres-Tief und die der Unternehmensanleihen auf ein 35-Jahres-Tief, während gleichzeitig die Aktienkurse krachen?“, fragt Michael Hartnett, Aktienstratege bei Merrill Lynch. „Weil alle die Deflation erwarten“ – also fallende Preise, gepaart mit Rezession. Es sind die Nachwehen der gigantischen Aktienblase: Das wachsende Leistungsbilanzdefizit der Vereinigten Staaten und der Verfall des Dollarkurses, die Zurückhaltung der amerikanischen Verbraucher und der überteuerte US-Immobilienmarkt. All das spricht nicht gerade für Impulse aus Amerika. Und dass Europa aus sich heraus Wachstum entfalten könnte, wagt niemand zu hoffen.
So lautet das beliebteste Ratespiel unter den Geldmanagern derzeit: Wer kauft auf Dauer überhaupt noch Aktien? Die Privatanleger sind immer nur Trendverstärker, nie Initiatoren einer Wende. Und institutionelle Investoren wie Versicherer oder Pensionsfonds überdenken im Augenblick ihr Engagement an der Börse. So ist die Aktienquote der latent aktienbegeisterten britischen Lebensversicherer auf 50 Prozent gesunken, das niedrigste Niveau seit zwei Jahrzehnten. „Wahrscheinlich wird der Gesetzgeber in einigen Ländern künftig für Altersvorsorgeprodukte sogar niedrigere Quoten vorschreiben“, vermutet Adam-Chefinvestor Utermann. Viele Unternehmen hätten einen zu großen Teil ihrer Reserven in Aktien angelegt. „Jetzt gibt es bei den Pensionsverpflichtungen große Deckungslücken.“ Wenn die langfristigen Investoren fehlen, fällt es den Hegdefonds leichter, mit ihren Wetten den Markt zu dominieren.
Selbst ohne diese Probleme müssten sich Altaktionäre lange gedulden. Langfristig wachsen die Gewinne der Unternehmen nicht schneller als die Volkswirtschaft an sich – im Schnitt der vergangenen Jahrzehnte um drei bis vier Prozent jährlich. Rechnet man noch die Inflation und eine Zitterprämie hinzu, die jeder Käufer verlangt, um überhaupt in riskante Aktien zu investieren und nicht in sichere Staatsanleihen, kommt eine Rendite von sieben bis acht Prozent im Jahr heraus. Jedoch: Selbst bei Steigerungen von acht Prozent jährlich würde der Dax 16 Jahre benötigen, um sein Allzeithoch von 8136 Punkten überhaupt wieder zu erreichen.
Anderthalb Jahrzehnte hat es in der Vergangenheit im Schnitt gedauert, bis die Aktienkurse nach großen Crashs wieder ihr altes Niveau erreichten. Nach dem Crash 1929 waren es sogar fast 30 Jahre.