ENERGIE
Brüchige Kolosse
Von Andrea Brandt, Frank Dohmen und Guido Kleinhubbert
Der Energiemulti RWE hatte über Jahre ein gravierendes Sicherheitsproblem mit seinem Hochspannungsnetz. Nach internen Studien waren bis zu 60 Prozent der Masten von einem Materialfehler betroffen. Selbst heute könnten noch etliche knicken.
Das Chaos war gewaltig: Sechs Tage lang lebte das sonst so idyllische Münsterland im Ausnahmezustand. 50 Strommasten des Energiemultis RWE waren unter den ersten Schneefällen des Jahres eingeknickt wie Streichhölzer. Es gab keinen Strom, kein Licht, keine Wärme.
Umgeknickte RWE-Strommast im Münsterland: Gravierende Materialfehler
Tausende Menschen campierten in Turnhallen und Notunterkünften. Bundeswehr und Technisches Hilfswerk versorgten die Menschen mit heißen Suppen. Landwirte mussten das Wasser für Kühe und Schweine in Metalleimern heranschleppen, weil die Pumpen streikten. In Fabriken standen Fließbänder still, Restaurants und Supermärkte sortierten angetautes Tiefkühlfleisch aus. "Wer soll das alles bezahlen", fragt Franz-Josef Melis, Bürgermeister der Stadt Ochtrup.
Erst seit Donnerstag vergangener Woche können die Münsterländer wieder zu Hause heizen, kochen und warm duschen - in einigen Außenbezirken noch immer nur per Notstromaggregat.
Während die 250.000 Betroffenen der Region sich von dem Schrecken erholen und zugleich die Wut auf RWE stetig wächst, bietet der Essener Stromversorger eher hilflose Erklärungsversuche für die Katastrophe. Grund für den Zusammenbruch seien weder mangelhafte Netze noch Fehler in der Organisation. Nein, schuld sei das Wetter.
Der unerwartete Wintereinbruch habe dazu geführt, dass die Leitungen so stark vereist gewesen seien, dass sie zum Teil ein vielfach höheres Gewicht zu tragen gehabt hätten, als die gesetzlichen Höchstgrenzen verlangen. Schadensersatzansprüche würden deshalb abgelehnt. Der Blackout sei eine Folge "höherer Gewalt". Gegen die sei man bekanntlich machtlos.
Noch vor knapp zwei Jahren hatte sich das ganz anders angehört. Damals war in weiten Teilen Italiens das Stromnetz zusammengebrochen. Und die RWE-Manager hatten mit großer Überheblichkeit kommentiert, wie das Land jenseits der Alpen im Chaos versank.
FERNSEHTIPP
Mehr zu diesem Thema am Sonntag, 04.12.2005 um 23.00 Uhr im SPIEGEL TV Magazin auf RTL
Solche großflächigen Stromausfälle seien hierzulande nicht vorstellbar. Immerhin würden kontinuierlich große Summen in die Netztechnik und -sicherheit investiert. Auch deshalb sei Energie hierzulande eben etwas teurer als in den europäischen Nachbarstaaten. Es war der schlappe Versuch, die stetig steigenden Strompreise mal anders zu rechtfertigen.
Doch die Zweifel an solchen Erklärungen wachsen, seit im Münsterland unterm ersten Schnee des Jahres gleich reihenweise RWE-Masten umknickten. Inzwischen fordert die nordrhein-westfälische Wirtschaftsministerin Christa Thoben "schnelle und detaillierte Antworten" des Konzerns auf die Frage, in welchem Umfang RWE in der Vergangenheit ins Stromnetz investiert habe. Auch die Bundesnetzagentur in Bonn dürfte als zuständige Aufsichtsbehörde kritische Fragen stellen.
Denn offenbar hat RWE der Bevölkerung über Jahre hinweg verschwiegen, dass in ihrem 12 000 Kilometer langen Stromnetz gravierende Sicherheitsprobleme lauern und deshalb unzählige Menschen in der gesamten Republik möglicherweise Risiken für Leib und Leben ausgesetzt wurden. Diesen schwerwiegenden Verdacht zumindest nähren keine Öko-Querulanten, sondern interne RWE-Unterlagen aus dem Jahr 2003, die dem SPIEGEL vorliegen. Aus den brisanten Papieren ergibt sich, dass
* rund 60 Prozent aller Hochspannungsmasten im RWE-Versorgungsgebiet einen schwerwiegenden Materialfehler aufweisen und möglicherweise akut einsturzgefährdet sind;
* viele Masten nicht einmal mehr 40 Prozent der normalen Zuglast standhalten, wobei die gesetzlich vorgeschriebene Norm deutlich unterschritten wird;
* der erste Mann im Unternehmen seit Ende 2003 über die Zustände informiert ist: Konzernchef Harry Roels.
Die RWE-Manager beschreiben in ihren Notizen auch ein "Worst-Case-Szenario", den aus ihrer Sicht schlimmsten Verlauf eines Unfalls mit den gewaltigen Stahlständern. Dagegen nehmen sich die Vorfälle im Münsterland wie kleine Haushaltsunfälle aus. Bei extremen Wetterlagen könnte es aufgrund der vorhandenen Materialfehler zu "flächenhaften Mastumbrüchen" kommen, heißt es RWE-intern. Allein die Wiederherstellung des Netzes würde "rund 350 Millionen Euro" kosten. Auch "strafrechtliche Haftungsrisiken durch Personenschäden" kalkulierten die Manager in ihrer Analyse ein.
Konkret bedeutet das: Menschen könnten durch umfallende Masten und Hochspannungsleitungen verletzt oder sogar getötet werden. Selbst die Wahrscheinlichkeit eines solchen Falls haben die RWE-Ingenieure akkurat bestimmt: "bis zu 10 Prozent". Die Gefahr, dass einzelne Masten selbst schon bei "gewöhnlichen Wetterlagen" umkippen, wird in der Risikoanalyse mit einer Wahrscheinlichkeit von immerhin "bis zu 50 Prozent" angegeben.
Der Grund für den maroden Zustand der RWE-Stromnetze ist offenbar ein simpler Fehler, der in die Gründungsjahre der Bundesrepublik zurückreicht. Um die Stromversorgung im jungen Westdeutschland aufzubauen, bauten die Rheinisch-Westfälischen-Elektrizitätswerke damals zahlreiche neue Hochspannungstrassen.
Überall in der Republik waren Bautrupps unterwegs, um die gewaltigen Masten zu errichten, mit deren Hilfe der Strom von den großen Kraftwerken im Ruhrgebiet und im Rheinland in Städte und Gemeinden geleitet werden sollte.
Verwendet wurde dabei bis zum Jahr 1965 der sogenannte Thomasstahl. Der Baustoff entsprach dem Stand der damaligen Technik. Heute jedoch entpuppt er sich als unkalkulierbares Risiko. Denn Thomasstahl hat einen recht hohen Stickstoffgehalt - und das hat gravierende Langzeitfolgen.
Im Laufe der Jahrzehnte würden die Masten spröde, warnten RWE-Sicherheitsingenieure in Notizen an den RWE-Vorstand bereits in den Jahren 2000 und 2001. Die Folge: Statt sich bei Belastung "plastisch zu verformen", fallen die brüchigen Kolosse einfach in sich zusammen - nicht nur unter Extrembelastungen.
In Vorstandsberichten heißt es: "Versuche mit eigenem Mastmaterial" hätten gezeigt, dass "versprödete Bauteile schon bei 40 Prozent ihrer theoretischen Bruchfestigkeit brechen und somit die Sicherheitsreserve weit unterschritten" würde. Damit werde gegen die einschlägige Bestimmung des Energiewirtschaftsgesetzes verstoßen, urteilten die RWE-Techniker.
Dass Unglücke durch spröden Stahl nicht nur theoretische Möglichkeiten sind, schreiben die Techniker dem damaligen Vorstand der Netzsparte sogar detailliert auf. Seit 1986 seien bei RWE 27 "Mastumbrüche" registriert worden, "allesamt lassen sich auf Versprödung in tragenden Mastbauteilen zurückführen". Anstatt die Risiken schnellstmöglich zu beheben und die erkannten Gefahren umgehend zu beseitigen, ließ sich RWE offenbar erstaunlich viel Zeit.
Ein Jahr nach dem erschreckenden Befund wird dem Vorstand im Juli 2002 ein weiterer, umfangreicher "Risikobericht zur Maststahlversprödung" vorgelegt. Er bestätigt die Befürchtungen nicht nur. Er konkretisiert sie sogar.
Die notwendigen Konsequenzen zieht der Konzern aber auch zu diesem Zeitpunkt nicht. Im Gegenteil: "Eine sofortige Sanierung" aller gefährdeten Masten sei "nicht möglich, da nicht genügend interne und externe Berechnungsressourcen vorhanden sind", heißt es in dem Papier. Außerdem sei "der sofortige Neubau der sprödbruchgefährdeten Masten nicht finanzierbar".
Bis Ende 2003 ändert sich am gefährlich schlechten Zustand des Netzes nichts Grundlegendes. Spätestens zu diesem Zeitpunkt erreichen die Warnungen der Techniker auch den Holdingvorstand des Konzerns und dessen Chef Roels. In einer 25-seitigen Präsentation erläutern die Ingenieure dem Niederländer das Problem. Zu diesem Zeitpunkt sind die Techniker der Netzsparte bereits aufs Höchste alarmiert. Denn erstmals sind in der Presse Hinweise auf mögliche Materialfehler bei Hochspannungsmasten aufgetaucht.
Entsprechend genau wird der RWE-Chef informiert: Der Vorstand sieht zahlreiche Bilder von gebrochenen Strommasten. Die Spezialisten erläutern die Dimension: Rund 25 000 Masten im bundesweiten Versorgungsgebiet der RWE seien bedroht, also 57 Prozent aller Hochspannungsträger von "Sprödbruch gefährdet".
Zwar wurde ein Sanierungsplan besprochen. Doch der sollte wohl vor allem dazu dienen, die Kosten für den Konzern so gering wie möglich zu halten.
Eingespart: Investitionen der RWE
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DER SPIEGEL
Eingespart: Investitionen der RWE
Anders ist kaum zu erklären, dass in einem ersten Schritt von "drei bis vier Jahren" lediglich die "Masten mit dem höchsten strafrechtlichen Risiko" repariert werden sollten. Das sind laut damaliger Aufstellung nur 2700 Stück. Die Kosten für die Aktion werden in dem Papier auf nur 40 Millionen Euro geschätzt.
In einer "Langfristplanung" sollten dann die nächsten 4500 Masten mit den "höchsten privatrechtlichen Risiken" für weitere 70 Millionen Euro in Ordnung gebracht werden. Die Sanierung des kompletten Netzes - nach damaliger Schätzung rund 1,2 Milliarden Euro teuer - sollte dagegen auf rund 25 Jahre gestreckt werden.
Die geheime Planung ist umso erstaunlicher, weil eine solche Summe für den RWE-Konzern finanziell keine allzu gewaltige Herausforderung dargestellt hätte. Seit Jahren fährt der Konzern durch ständig steigende Strompreise immer neue Rekordgewinne ein. Allein 2004 strich das Essener Unternehmen einen Gewinn vor Steuern von rund 3,7 Milliarden Euro ein.
Warum also ordnete Roels nicht unmittelbar die Sanierung des Gesamtnetzes an? Warum gab der RWE-Chef keine Informationen an Behörden und die Öffentlichkeit über den desolaten Zustand des Stromnetzes? An der Höhe der notwendigen Investitionen könne es kaum gelegen haben, glauben Insider. Roels scheute womöglich eventuelle Kursverluste an den Börsen, die sich aus Meldungen über ein Sicherheitsrisiko wohl fast unvermeidlich eingestellt hätten.
RWE weist solche Überlegungen als völlig "unzutreffend" zurück und bemüht sich gleichzeitig, die brisanten Vorstandspapiere herunterzuspielen. In den vergangenen beiden Jahren sei die Sanierung der betroffenen Masten mit allem Hochdruck vorangetrieben worden.
So seien beispielsweise externe Gutachter der Universität Duisburg eingeschaltet worden, um den Bestand in einem zertifizierten Verfahren genau zu analysieren und in Gefahrenklassen einzuteilen.
In diesem Zusammenhang seien auch die Masten im Münsterland untersucht und als unbedenklich eingestuft worden. Immerhin: Auch dort brachen unter anderem Konstruktionen aus den Jahren 1950/51 und 1960 ein.
Außerdem wurden nach Angaben des Konzerns Prioritätenlisten aufgestellt. Dabei wurden 2900 Masten als vorrangig eingeordnet. Bei ihnen handelt es sich um Stahlträger, die zum Beispiel direkt an Häusern oder Straßenkreuzungen stehen.
Nach ursprünglicher Planung sollte diese Gruppe schon bis Ende dieses Jahres ausgewechselt werden. Wegen technischer Probleme musste jedoch ein Rest der Arbeiten in das Jahr 2006 verschoben werden. Dieser "Rest" beläuft sich auf 30 Prozent.
Konkret bedeutet das: Seit den ersten Hinweisen auf eine mögliche Gefahr im Jahr 2000 hat RWE es bis heute nicht einmal geschafft, wenigstens jene Masten komplett zu sanieren, die das höchste Gefährdungspotential aufweisen. Bis alle potentiell brüchigen Stahlriesen ausgewechselt sind, werden selbst nach heutiger Planung noch zehn Jahre vergehen.
Eine Gefährdung für die Bevölkerung habe es trotzdem nicht gegeben, beteuert der Konzern. Durch das neue "Untersuchungskonzept" könne man Risiken frühzeitig erkennen. Insofern habe auch keinerlei Veranlassung bestanden, Bevölkerung oder Behörden aktiv zu informieren. Auf gezielte Anfragen der Presse (siehe SPIEGEL 41/2003) habe man das Thema zumindest nicht verheimlicht.
Und mit Angst vor den Kosten, wie sie in den Vorstandspapieren aus dem Jahr 2003 noch vermerkt werden, habe die schleppende Sanierung ohnehin nichts zu tun. Im Gegenteil: Es gebe sogar eindeutige Vorstandsbeschlüsse, nach denen die Sanierung des Netzes von allen Sparbeschlüssen des Konzerns ausgenommen worden sei. Insgesamt seien inzwischen rund 550 Millionen Euro für die Mastarbeiten bereitgestellt worden.
Andererseits: Nur ein Jahr nachdem Roels die dringenden Warnungen seiner Ingenieure auf den Tisch bekam, stutzte der RWE-Chef die Investitionen in seiner Netzsparte radikal zusammen. Statt wie im Jahr 2003 rund 1,65 Milliarden Euro investierte der Essener Energie-Gigant im Jahr 2004 nur noch eine Milliarde Euro in die wichtige Tochter. Das sind gut 38 Prozent weniger als im Vorjahr.
www.spiegel.de/spiegel/0,1518,388269,00.html
Brüchige Kolosse
Von Andrea Brandt, Frank Dohmen und Guido Kleinhubbert
Der Energiemulti RWE hatte über Jahre ein gravierendes Sicherheitsproblem mit seinem Hochspannungsnetz. Nach internen Studien waren bis zu 60 Prozent der Masten von einem Materialfehler betroffen. Selbst heute könnten noch etliche knicken.
Das Chaos war gewaltig: Sechs Tage lang lebte das sonst so idyllische Münsterland im Ausnahmezustand. 50 Strommasten des Energiemultis RWE waren unter den ersten Schneefällen des Jahres eingeknickt wie Streichhölzer. Es gab keinen Strom, kein Licht, keine Wärme.
Umgeknickte RWE-Strommast im Münsterland: Gravierende Materialfehler
Tausende Menschen campierten in Turnhallen und Notunterkünften. Bundeswehr und Technisches Hilfswerk versorgten die Menschen mit heißen Suppen. Landwirte mussten das Wasser für Kühe und Schweine in Metalleimern heranschleppen, weil die Pumpen streikten. In Fabriken standen Fließbänder still, Restaurants und Supermärkte sortierten angetautes Tiefkühlfleisch aus. "Wer soll das alles bezahlen", fragt Franz-Josef Melis, Bürgermeister der Stadt Ochtrup.
Erst seit Donnerstag vergangener Woche können die Münsterländer wieder zu Hause heizen, kochen und warm duschen - in einigen Außenbezirken noch immer nur per Notstromaggregat.
Während die 250.000 Betroffenen der Region sich von dem Schrecken erholen und zugleich die Wut auf RWE stetig wächst, bietet der Essener Stromversorger eher hilflose Erklärungsversuche für die Katastrophe. Grund für den Zusammenbruch seien weder mangelhafte Netze noch Fehler in der Organisation. Nein, schuld sei das Wetter.
Der unerwartete Wintereinbruch habe dazu geführt, dass die Leitungen so stark vereist gewesen seien, dass sie zum Teil ein vielfach höheres Gewicht zu tragen gehabt hätten, als die gesetzlichen Höchstgrenzen verlangen. Schadensersatzansprüche würden deshalb abgelehnt. Der Blackout sei eine Folge "höherer Gewalt". Gegen die sei man bekanntlich machtlos.
Noch vor knapp zwei Jahren hatte sich das ganz anders angehört. Damals war in weiten Teilen Italiens das Stromnetz zusammengebrochen. Und die RWE-Manager hatten mit großer Überheblichkeit kommentiert, wie das Land jenseits der Alpen im Chaos versank.
FERNSEHTIPP
Mehr zu diesem Thema am Sonntag, 04.12.2005 um 23.00 Uhr im SPIEGEL TV Magazin auf RTL
Solche großflächigen Stromausfälle seien hierzulande nicht vorstellbar. Immerhin würden kontinuierlich große Summen in die Netztechnik und -sicherheit investiert. Auch deshalb sei Energie hierzulande eben etwas teurer als in den europäischen Nachbarstaaten. Es war der schlappe Versuch, die stetig steigenden Strompreise mal anders zu rechtfertigen.
Doch die Zweifel an solchen Erklärungen wachsen, seit im Münsterland unterm ersten Schnee des Jahres gleich reihenweise RWE-Masten umknickten. Inzwischen fordert die nordrhein-westfälische Wirtschaftsministerin Christa Thoben "schnelle und detaillierte Antworten" des Konzerns auf die Frage, in welchem Umfang RWE in der Vergangenheit ins Stromnetz investiert habe. Auch die Bundesnetzagentur in Bonn dürfte als zuständige Aufsichtsbehörde kritische Fragen stellen.
Denn offenbar hat RWE der Bevölkerung über Jahre hinweg verschwiegen, dass in ihrem 12 000 Kilometer langen Stromnetz gravierende Sicherheitsprobleme lauern und deshalb unzählige Menschen in der gesamten Republik möglicherweise Risiken für Leib und Leben ausgesetzt wurden. Diesen schwerwiegenden Verdacht zumindest nähren keine Öko-Querulanten, sondern interne RWE-Unterlagen aus dem Jahr 2003, die dem SPIEGEL vorliegen. Aus den brisanten Papieren ergibt sich, dass
* rund 60 Prozent aller Hochspannungsmasten im RWE-Versorgungsgebiet einen schwerwiegenden Materialfehler aufweisen und möglicherweise akut einsturzgefährdet sind;
* viele Masten nicht einmal mehr 40 Prozent der normalen Zuglast standhalten, wobei die gesetzlich vorgeschriebene Norm deutlich unterschritten wird;
* der erste Mann im Unternehmen seit Ende 2003 über die Zustände informiert ist: Konzernchef Harry Roels.
Die RWE-Manager beschreiben in ihren Notizen auch ein "Worst-Case-Szenario", den aus ihrer Sicht schlimmsten Verlauf eines Unfalls mit den gewaltigen Stahlständern. Dagegen nehmen sich die Vorfälle im Münsterland wie kleine Haushaltsunfälle aus. Bei extremen Wetterlagen könnte es aufgrund der vorhandenen Materialfehler zu "flächenhaften Mastumbrüchen" kommen, heißt es RWE-intern. Allein die Wiederherstellung des Netzes würde "rund 350 Millionen Euro" kosten. Auch "strafrechtliche Haftungsrisiken durch Personenschäden" kalkulierten die Manager in ihrer Analyse ein.
Konkret bedeutet das: Menschen könnten durch umfallende Masten und Hochspannungsleitungen verletzt oder sogar getötet werden. Selbst die Wahrscheinlichkeit eines solchen Falls haben die RWE-Ingenieure akkurat bestimmt: "bis zu 10 Prozent". Die Gefahr, dass einzelne Masten selbst schon bei "gewöhnlichen Wetterlagen" umkippen, wird in der Risikoanalyse mit einer Wahrscheinlichkeit von immerhin "bis zu 50 Prozent" angegeben.
Der Grund für den maroden Zustand der RWE-Stromnetze ist offenbar ein simpler Fehler, der in die Gründungsjahre der Bundesrepublik zurückreicht. Um die Stromversorgung im jungen Westdeutschland aufzubauen, bauten die Rheinisch-Westfälischen-Elektrizitätswerke damals zahlreiche neue Hochspannungstrassen.
Überall in der Republik waren Bautrupps unterwegs, um die gewaltigen Masten zu errichten, mit deren Hilfe der Strom von den großen Kraftwerken im Ruhrgebiet und im Rheinland in Städte und Gemeinden geleitet werden sollte.
Verwendet wurde dabei bis zum Jahr 1965 der sogenannte Thomasstahl. Der Baustoff entsprach dem Stand der damaligen Technik. Heute jedoch entpuppt er sich als unkalkulierbares Risiko. Denn Thomasstahl hat einen recht hohen Stickstoffgehalt - und das hat gravierende Langzeitfolgen.
Im Laufe der Jahrzehnte würden die Masten spröde, warnten RWE-Sicherheitsingenieure in Notizen an den RWE-Vorstand bereits in den Jahren 2000 und 2001. Die Folge: Statt sich bei Belastung "plastisch zu verformen", fallen die brüchigen Kolosse einfach in sich zusammen - nicht nur unter Extrembelastungen.
In Vorstandsberichten heißt es: "Versuche mit eigenem Mastmaterial" hätten gezeigt, dass "versprödete Bauteile schon bei 40 Prozent ihrer theoretischen Bruchfestigkeit brechen und somit die Sicherheitsreserve weit unterschritten" würde. Damit werde gegen die einschlägige Bestimmung des Energiewirtschaftsgesetzes verstoßen, urteilten die RWE-Techniker.
Dass Unglücke durch spröden Stahl nicht nur theoretische Möglichkeiten sind, schreiben die Techniker dem damaligen Vorstand der Netzsparte sogar detailliert auf. Seit 1986 seien bei RWE 27 "Mastumbrüche" registriert worden, "allesamt lassen sich auf Versprödung in tragenden Mastbauteilen zurückführen". Anstatt die Risiken schnellstmöglich zu beheben und die erkannten Gefahren umgehend zu beseitigen, ließ sich RWE offenbar erstaunlich viel Zeit.
Ein Jahr nach dem erschreckenden Befund wird dem Vorstand im Juli 2002 ein weiterer, umfangreicher "Risikobericht zur Maststahlversprödung" vorgelegt. Er bestätigt die Befürchtungen nicht nur. Er konkretisiert sie sogar.
Die notwendigen Konsequenzen zieht der Konzern aber auch zu diesem Zeitpunkt nicht. Im Gegenteil: "Eine sofortige Sanierung" aller gefährdeten Masten sei "nicht möglich, da nicht genügend interne und externe Berechnungsressourcen vorhanden sind", heißt es in dem Papier. Außerdem sei "der sofortige Neubau der sprödbruchgefährdeten Masten nicht finanzierbar".
Bis Ende 2003 ändert sich am gefährlich schlechten Zustand des Netzes nichts Grundlegendes. Spätestens zu diesem Zeitpunkt erreichen die Warnungen der Techniker auch den Holdingvorstand des Konzerns und dessen Chef Roels. In einer 25-seitigen Präsentation erläutern die Ingenieure dem Niederländer das Problem. Zu diesem Zeitpunkt sind die Techniker der Netzsparte bereits aufs Höchste alarmiert. Denn erstmals sind in der Presse Hinweise auf mögliche Materialfehler bei Hochspannungsmasten aufgetaucht.
Entsprechend genau wird der RWE-Chef informiert: Der Vorstand sieht zahlreiche Bilder von gebrochenen Strommasten. Die Spezialisten erläutern die Dimension: Rund 25 000 Masten im bundesweiten Versorgungsgebiet der RWE seien bedroht, also 57 Prozent aller Hochspannungsträger von "Sprödbruch gefährdet".
Zwar wurde ein Sanierungsplan besprochen. Doch der sollte wohl vor allem dazu dienen, die Kosten für den Konzern so gering wie möglich zu halten.
Eingespart: Investitionen der RWE
Großbildansicht
DER SPIEGEL
Eingespart: Investitionen der RWE
Anders ist kaum zu erklären, dass in einem ersten Schritt von "drei bis vier Jahren" lediglich die "Masten mit dem höchsten strafrechtlichen Risiko" repariert werden sollten. Das sind laut damaliger Aufstellung nur 2700 Stück. Die Kosten für die Aktion werden in dem Papier auf nur 40 Millionen Euro geschätzt.
In einer "Langfristplanung" sollten dann die nächsten 4500 Masten mit den "höchsten privatrechtlichen Risiken" für weitere 70 Millionen Euro in Ordnung gebracht werden. Die Sanierung des kompletten Netzes - nach damaliger Schätzung rund 1,2 Milliarden Euro teuer - sollte dagegen auf rund 25 Jahre gestreckt werden.
Die geheime Planung ist umso erstaunlicher, weil eine solche Summe für den RWE-Konzern finanziell keine allzu gewaltige Herausforderung dargestellt hätte. Seit Jahren fährt der Konzern durch ständig steigende Strompreise immer neue Rekordgewinne ein. Allein 2004 strich das Essener Unternehmen einen Gewinn vor Steuern von rund 3,7 Milliarden Euro ein.
Warum also ordnete Roels nicht unmittelbar die Sanierung des Gesamtnetzes an? Warum gab der RWE-Chef keine Informationen an Behörden und die Öffentlichkeit über den desolaten Zustand des Stromnetzes? An der Höhe der notwendigen Investitionen könne es kaum gelegen haben, glauben Insider. Roels scheute womöglich eventuelle Kursverluste an den Börsen, die sich aus Meldungen über ein Sicherheitsrisiko wohl fast unvermeidlich eingestellt hätten.
RWE weist solche Überlegungen als völlig "unzutreffend" zurück und bemüht sich gleichzeitig, die brisanten Vorstandspapiere herunterzuspielen. In den vergangenen beiden Jahren sei die Sanierung der betroffenen Masten mit allem Hochdruck vorangetrieben worden.
So seien beispielsweise externe Gutachter der Universität Duisburg eingeschaltet worden, um den Bestand in einem zertifizierten Verfahren genau zu analysieren und in Gefahrenklassen einzuteilen.
In diesem Zusammenhang seien auch die Masten im Münsterland untersucht und als unbedenklich eingestuft worden. Immerhin: Auch dort brachen unter anderem Konstruktionen aus den Jahren 1950/51 und 1960 ein.
Außerdem wurden nach Angaben des Konzerns Prioritätenlisten aufgestellt. Dabei wurden 2900 Masten als vorrangig eingeordnet. Bei ihnen handelt es sich um Stahlträger, die zum Beispiel direkt an Häusern oder Straßenkreuzungen stehen.
Nach ursprünglicher Planung sollte diese Gruppe schon bis Ende dieses Jahres ausgewechselt werden. Wegen technischer Probleme musste jedoch ein Rest der Arbeiten in das Jahr 2006 verschoben werden. Dieser "Rest" beläuft sich auf 30 Prozent.
Konkret bedeutet das: Seit den ersten Hinweisen auf eine mögliche Gefahr im Jahr 2000 hat RWE es bis heute nicht einmal geschafft, wenigstens jene Masten komplett zu sanieren, die das höchste Gefährdungspotential aufweisen. Bis alle potentiell brüchigen Stahlriesen ausgewechselt sind, werden selbst nach heutiger Planung noch zehn Jahre vergehen.
Eine Gefährdung für die Bevölkerung habe es trotzdem nicht gegeben, beteuert der Konzern. Durch das neue "Untersuchungskonzept" könne man Risiken frühzeitig erkennen. Insofern habe auch keinerlei Veranlassung bestanden, Bevölkerung oder Behörden aktiv zu informieren. Auf gezielte Anfragen der Presse (siehe SPIEGEL 41/2003) habe man das Thema zumindest nicht verheimlicht.
Und mit Angst vor den Kosten, wie sie in den Vorstandspapieren aus dem Jahr 2003 noch vermerkt werden, habe die schleppende Sanierung ohnehin nichts zu tun. Im Gegenteil: Es gebe sogar eindeutige Vorstandsbeschlüsse, nach denen die Sanierung des Netzes von allen Sparbeschlüssen des Konzerns ausgenommen worden sei. Insgesamt seien inzwischen rund 550 Millionen Euro für die Mastarbeiten bereitgestellt worden.
Andererseits: Nur ein Jahr nachdem Roels die dringenden Warnungen seiner Ingenieure auf den Tisch bekam, stutzte der RWE-Chef die Investitionen in seiner Netzsparte radikal zusammen. Statt wie im Jahr 2003 rund 1,65 Milliarden Euro investierte der Essener Energie-Gigant im Jahr 2004 nur noch eine Milliarde Euro in die wichtige Tochter. Das sind gut 38 Prozent weniger als im Vorjahr.
www.spiegel.de/spiegel/0,1518,388269,00.html