Ich weiß nicht, ob ich mich heute auch einer historischen Entgleisung schuldig mache, doch ich werde auf jeden Fall nichts über Sterne, sondern nur über Dolchstoßlegenden schreiben. Erinnern wir uns kurz: Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs wurde die Politik und Administration aus Armee und nationalem Lager heftig angegriffen, die im Felde unbesiegte Armee am Verhandlungstisch von Versailles mitsamt des ganzen Volkes verkauft zu haben. In Wirklichkeit, so lautete damals der Vorwurf, habe sie und nicht der Gegner Armee und Volk den wahren Dolchstoß zugefügt.
Schaut man sich heute einmal die wirtschaftliche und börsliche Szenerie an, so kann man nicht nur aus dem Datenkranz, sondern auch aus der öffentlichen Stimmung ganz Ähnliches herauslesen wie damals.
Konkret: Alles könnte so schön sein, die Börsen- und Wirtschaftsentwicklung, wenn nicht:
(1) die bösen Terroristen die Wirtschaft und Börse mit ihren kriminellen Machenschaften verunsichern würden,
(2)die Politiker mit ihren unsäglichen Fehlentscheidungen unsere wirtschaftliche Zukunft vernichten und
(3) Alan Greenspan mit seiner unverantwortlichen Geldpolitik, die zu einer riesigen Blase geführt hat, sowieso der Oberschuldige wäre.
Ich will damit natürlich keinesfalls den Terrorismus verharmlosen und schon gar nicht der Politik Lob zollen, doch ich halte das, was unsere veröffentlichte Meinung so an jedem Tag herausposaunt nicht nur für grundfalsch, sondern auch für eine billige Seifenoper, um von den wirklichen Problemen, mit denen wir gegenwärtig konfrontiert sind, abzulenken.
Jeden Tag aufs Neue können wir heute die folgende Schlagzeile lesen: "Märkte fallen aufgrund neuer Kriegsängste". In dieser Woche habe ich sogar Folgendes gelesen: "Kriegsangst lähmt Euro-Konjunktur". Niemand scheint dabei auf die Idee kommen zu wollen, dass hier nur Vogelscheuchen aufgestellt werden, die letztlich den Aposteln der freien Marktes als Ausrede dafür dienen, dass das Futter in der letzten Zeit spärlicher geworden ist. Und niemand scheint auf die Idee kommen zu wollen, dass wir es hier nicht mit einem exogenen Schock zu tun haben, der auf die Märkte einwirkt, sondern dass die gegenwärtige Krise eine marktendogene Entwicklung ist – und zwar gleich in zweifacher Hinsicht: einmal als konjunkturelle und ein andermal als strukturelle Krise.
Fokussieren wir uns auf die strukturellen Merkmale: Es herrscht in allen modernen Industrieländern eine große Diskrepanz zwischen riesigen Vermögensbergen auf der einen und immer geringeren Investitionsmöglichkeiten auf der anderen Seite. Bis in die 70er Jahre hinein lag die Investitionsquote in Deutschland bei 28 Prozent mit einem Anteil der Erweiterungsinvestitionen von 40 bis 50 Prozent. Heute hingegen sind es durchschnittlich nur noch 18 Prozent mit einem Anteil der Erweiterungsinvestitionen, der auf 10 Prozent dieser schon geschrumpften Quote geschrumpft ist. Es wird also überall in Hinsicht auf Erweiterungen gespart, unser Vermögen, sprich Kapital, findet immer weniger Verwendung in der Wirtschaft und muss sich zudem aufgrund der ständig zunehmenden Konkurrenz mit immer geringeren Renditen abfinden.
Salopp gesprochen heißt das: Nicht uns, sondern unserem Vermögen geht es jetzt an den Kragen. Und das, was wir gegenwärtig spüren, sind die ersten Anzeichen der uns in den nächsten zehn bis zwanzig Jahren erwartenden Marktlösung, den "Vermögensüberhang" über die Verwendungsmöglichkeiten sukzessive wieder abzubauen. So ist es eben in einer Marktwirtschaft, und daran sind weder die Terroristen noch die Politiker Schuld.
Bleibt Alan Greenspan. Seit seinem Amtsantritt im Jahre 1987 hat sich die Geldbasis in den USA, also die enge und nur durch die Zentralbank steuerbare Geldmenge, so wird ihm heute vorgeworfen, beinahe verdreifacht. Schaut man sich die Zahlen jedoch einmal genauer an, findet man Erstaunliches: So haben sich die wirklich wichtigen Größen wie Bankreserven und Sichtguthaben der Haushalte bei den Banken in diesem Zeitraum nur um ein Prozent (!) respektive um 2,7 Prozent (!) erhöht. Gestiegen ist einzig und alleine der Bargeldbestand, der sich sogar deutlich mehr als verdreifacht hat. Doch wie hätte in Rußland und im gesamten weiteren Ostblock nach 1989 der Kapitalismus einziehen können, wenn nicht per Dollarschein in der Hand?
Es sieht also alles danach aus, als ob uns auch hier nur eine weitere Dolchstoßlegende aufgetischt wird. Kommen wir daher an dieser Stelle noch einmal kurz auf die Deutsche Geschichte nach 1918 zu sprechen, dann können wir sicherlich mit gutem Recht folgern, dass die Wahrscheinlichkeit sehr groß ist, dass auch dieses Mal der Dolchstoßlegende wieder eine Zeitenwende folgen wird.
Bernd Niquet, im Dezember 2002
Schaut man sich heute einmal die wirtschaftliche und börsliche Szenerie an, so kann man nicht nur aus dem Datenkranz, sondern auch aus der öffentlichen Stimmung ganz Ähnliches herauslesen wie damals.
Konkret: Alles könnte so schön sein, die Börsen- und Wirtschaftsentwicklung, wenn nicht:
(1) die bösen Terroristen die Wirtschaft und Börse mit ihren kriminellen Machenschaften verunsichern würden,
(2)die Politiker mit ihren unsäglichen Fehlentscheidungen unsere wirtschaftliche Zukunft vernichten und
(3) Alan Greenspan mit seiner unverantwortlichen Geldpolitik, die zu einer riesigen Blase geführt hat, sowieso der Oberschuldige wäre.
Ich will damit natürlich keinesfalls den Terrorismus verharmlosen und schon gar nicht der Politik Lob zollen, doch ich halte das, was unsere veröffentlichte Meinung so an jedem Tag herausposaunt nicht nur für grundfalsch, sondern auch für eine billige Seifenoper, um von den wirklichen Problemen, mit denen wir gegenwärtig konfrontiert sind, abzulenken.
Jeden Tag aufs Neue können wir heute die folgende Schlagzeile lesen: "Märkte fallen aufgrund neuer Kriegsängste". In dieser Woche habe ich sogar Folgendes gelesen: "Kriegsangst lähmt Euro-Konjunktur". Niemand scheint dabei auf die Idee kommen zu wollen, dass hier nur Vogelscheuchen aufgestellt werden, die letztlich den Aposteln der freien Marktes als Ausrede dafür dienen, dass das Futter in der letzten Zeit spärlicher geworden ist. Und niemand scheint auf die Idee kommen zu wollen, dass wir es hier nicht mit einem exogenen Schock zu tun haben, der auf die Märkte einwirkt, sondern dass die gegenwärtige Krise eine marktendogene Entwicklung ist – und zwar gleich in zweifacher Hinsicht: einmal als konjunkturelle und ein andermal als strukturelle Krise.
Fokussieren wir uns auf die strukturellen Merkmale: Es herrscht in allen modernen Industrieländern eine große Diskrepanz zwischen riesigen Vermögensbergen auf der einen und immer geringeren Investitionsmöglichkeiten auf der anderen Seite. Bis in die 70er Jahre hinein lag die Investitionsquote in Deutschland bei 28 Prozent mit einem Anteil der Erweiterungsinvestitionen von 40 bis 50 Prozent. Heute hingegen sind es durchschnittlich nur noch 18 Prozent mit einem Anteil der Erweiterungsinvestitionen, der auf 10 Prozent dieser schon geschrumpften Quote geschrumpft ist. Es wird also überall in Hinsicht auf Erweiterungen gespart, unser Vermögen, sprich Kapital, findet immer weniger Verwendung in der Wirtschaft und muss sich zudem aufgrund der ständig zunehmenden Konkurrenz mit immer geringeren Renditen abfinden.
Salopp gesprochen heißt das: Nicht uns, sondern unserem Vermögen geht es jetzt an den Kragen. Und das, was wir gegenwärtig spüren, sind die ersten Anzeichen der uns in den nächsten zehn bis zwanzig Jahren erwartenden Marktlösung, den "Vermögensüberhang" über die Verwendungsmöglichkeiten sukzessive wieder abzubauen. So ist es eben in einer Marktwirtschaft, und daran sind weder die Terroristen noch die Politiker Schuld.
Bleibt Alan Greenspan. Seit seinem Amtsantritt im Jahre 1987 hat sich die Geldbasis in den USA, also die enge und nur durch die Zentralbank steuerbare Geldmenge, so wird ihm heute vorgeworfen, beinahe verdreifacht. Schaut man sich die Zahlen jedoch einmal genauer an, findet man Erstaunliches: So haben sich die wirklich wichtigen Größen wie Bankreserven und Sichtguthaben der Haushalte bei den Banken in diesem Zeitraum nur um ein Prozent (!) respektive um 2,7 Prozent (!) erhöht. Gestiegen ist einzig und alleine der Bargeldbestand, der sich sogar deutlich mehr als verdreifacht hat. Doch wie hätte in Rußland und im gesamten weiteren Ostblock nach 1989 der Kapitalismus einziehen können, wenn nicht per Dollarschein in der Hand?
Es sieht also alles danach aus, als ob uns auch hier nur eine weitere Dolchstoßlegende aufgetischt wird. Kommen wir daher an dieser Stelle noch einmal kurz auf die Deutsche Geschichte nach 1918 zu sprechen, dann können wir sicherlich mit gutem Recht folgern, dass die Wahrscheinlichkeit sehr groß ist, dass auch dieses Mal der Dolchstoßlegende wieder eine Zeitenwende folgen wird.
Bernd Niquet, im Dezember 2002