Erwerbslose sollen Billigjobs annehmen, fordert der Kanzler. Wie sehen diese Jobs aus, und wie kann man davon leben?
Von Christian Tenbrock
Bis zu zwölf Stunden steht Susanne Schwab* auf den Beinen, schaut, prüft, kontrolliert. Zwölf Stunden täglich, von morgens sechs bis abends sechs, sechs Tage in der Woche, dann hat sie drei Tage frei. Schwab steht an einem Eingang des Berliner Reichstags an der Röntgen-Schleuse, dort, wo die Touristen und Bundestags-Besucher hereinkommen. Manchmal auch die Politiker. Friedrich Merz von der CDU hat sie schon mal gesehen, auch Guido Westerwelle von der FDP.
Für jede Stunde Arbeit bekommt Susanne Schwab vier Euro neunzig Cent. Etwa 240 Stunden kommen im Monat zusammen, das macht dann rund 1175 Euro – brutto. Netto bleiben ihr weniger als 1000. Dafür steht sie morgens um halb fünf auf und nimmt um fünf den Bus und die S-Bahn, um von ihrer Wohnung weit draußen im Berliner Osten rechtzeitig zum Reichstag zu kommen. Abends die gleiche Tour zurück. Zwei der fünf Kinder leben noch zu Hause.
Sie komme hin, sagt Schwab, gerade so eben, und nur, weil der Lebensgefährte Arbeitslosengeld beziehe. Fleisch gibt es einmal die Woche, das Bierchen mit den Kollegen einmal im Monat, neue Kleidung einmal im Jahr, und den Besuch im Kino oder im Restaurant nie. Im Urlaub war die 46-Jährige zuletzt 1988. Zwei Wochen an der Ostsee.
Susanne Schwab ist das, was in Deutschland „Billiglöhner“ heißt. Einer jener Menschen, von denen es nach Meinung vieler Politiker und Ökonomen mehr geben sollte. Um die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, fordern sie, müsse der Niedriglohnsektor in Deutschland ausgeweitet werden. Es müssten mehr Jobs her mit einem Verdienst, der irgendwo zwischen der Sozialhilfe und dem niedrigsten Tariflohn liegt. Und um die Menschen zu bewegen, solche Jobs anzunehmen, müssten sie dazu gezwungen werden – durch weniger Arbeitslosengeld und weniger Arbeitslosenhilfe. So will es auch der Kanzler mit seiner Agenda 2010.
Blutspenden frischen die Haushaltskasse auf
Dabei gibt es in Deutschland schon jetzt Millionen Beschäftigte wie Susanne Schwab. Doris Malert zum Beispiel: In einem Kaufhaus-Restaurant in Kiel spült sie und putzt die Tische ab. 836 Euro bleiben ihr am Monatsende, 400 nach Abzug von Miete, Telefon und Versicherungen. Oder Annelie Kaslak, die für 5 Euro in der Stunde Blumen in einem Geschäft in der Nähe von Zwickau verkauft; ohne den Verdienst ihres Freundes, der Rasen mäht und Hauswartsarbeiten erledigt, könnte sie nicht überleben. Oder Michael Möller, 48, ausgebildeter Elektriker, ein schmaler Mann mit kräftigen Händen: 6,90 Euro verdiente Möller als Zeitarbeiter in Plauen, bevor er vor wenigen Wochen auch diese Arbeit verlor.
In Amerika würde man Schwab, Kaslak, Malert oder Möller „arbeitende Arme“ nennen – Beschäftigte, die am Monatsende so wenig Geld nach Hause bringen, dass sie unter die Armutsgrenze fallen. Die liegt in Deutschland bei etwas mehr als 1200 Euro brutto, der Hälfte eines deutschen Durchschnittseinkommens. Nimmt man diese Grenze als Maßstab, dann arbeiten allein im Westen der Republik 12 Prozent aller Vollzeit-Beschäftigten zum Armutslohn, sagt Claus Schäfer vom gewerkschaftsnahen Forschungsinstitut WSI in Düsseldorf. Das wären 2,2 Millionen Menschen nur in den alten Bundesländern. Im Osten ist der Anteil der Billiglöhner weitaus höher.
Im Vogtlandkreis bei Zwickau beispielsweise verdienten im Jahr 2001 – neuere Statistiken gibt es nicht – 56 Prozent aller Beschäftigten weniger als 910 Euro netto im Monat. „Über Niedriglöhne muss man mir nichts mehr erzählen“, sagt Sabine Zimmermann, DGB-Chefin in Zwickau. Der Floristin Annelie Kaslak auch nicht. 27 Euro bleiben ihr von ihrem Monatslohn, nachdem sie die Miete, die Versicherungen und die Kosten für das Auto bezahlt hat, das sie braucht, um zum Job zu kommen. Zwölfmal hat sie in den letzten Monaten Blut gespendet, pro Spende gibt es 15 Euro extra. Der größte Luxus im letzten Jahr? „Eine neue Brille.“ Markenjeans? „Niemals.“ Ein anderer, besser bezahlter Job? „Wo denn?“
44935 Arbeitslosen im Arbeitsamtsbezirk Zwickau standen im April nur 2520 offene Stellen gegenüber. In Plauen kamen auf 24697 Menschen ohne Arbeit gerade mal 1158 freie Stellen. Dabei müsste das der Theorie nach ganz anders sein. Theoretisch müsste die Zahl der Arbeitsplätze steigen, wenn die Löhne niedrig sind. So sagen es zumindest all jene Ökonomen, die einen größeren Niedriglohnsektor in Deutschland fordern. Hans-Werner Sinn etwa, der Chef des Münchner Ifo-Instituts, spricht von 2,3 Millionen zusätzlicher Jobs, wenn die Löhne gering genug wären und Menschen ohne Arbeit zu ihrem Arbeitsglück gezwungen würden. Auch Klaus Zimmermann, der Leiter des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin, hält zahllose neue Billig-Arbeitsplätze für möglich: „Potenziell 2 Millionen.“
Hinter den Modellen der Theoretiker stehen ein paar simple Annahmen und der Blick ins Ausland: Erstens seien einfachere Jobs in Deutschland dank zu hoher Tariflöhne auch im untersten Bereich zu teuer geworden, also wurden sie wegrationalisiert und Hilfsarbeiter aufs Arbeitsamt geschickt. Zweitens sei die bisherige Arbeitslosen- und Sozialhilfe zu hoch, deshalb gebe es für die Empfänger staatlicher Leistungen nicht genügend „Anreize“, einen auch gering entlohnten Job anzunehmen. Und drittens existiere in Deutschland eine „Dienstleistungslücke“: Während zum Beispiel in den USA die in der Industrie verlorenen Stellen durch zahlreiche neue Arbeitsplätze ersetzt worden seien – im Handel, in der Gastronomie oder im Gesundheitswesen –, sei dies hierzulande nur unterdurchschnittlich geschehen. Wiederum auch deshalb, weil die Löhne in solchen Jobs angeblich zu hoch sind.
Die Therapie: Verkürzung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes einerseits, Reduzierung der Arbeitslosenhilfe auf Sozialhilfeniveau andererseits. So steht es in der Agenda 2010, so will der Kanzler den Druck auf die Arbeitsfähigen erhöhen, tatsächlich nach einem Job zu suchen. Ifo-Chef Sinn geht noch weiter und will zusätzlich die Sozialhilfe um etwa ein Viertel absenken. Und DIW-Leiter Zimmermann möchte die Bezieher staatlicher Stütze zu einer Art staatlichem Arbeitsdienst verpflichten; auch das, so seine Hoffnung, werde sie am Ende dazu bewegen, einen regulären Job anzunehmen – jeden Job.
Würden sich Arbeitslose oder Menschen auf Sozialhilfe nur billig genug verdingen, würden diese Jobs auch geschaffen, sind die Therapeuten überzeugt. „Tankwarte, Parkplatzwächter, Tüten-Einpacker, Türöffner am Kaufhaus“, zählt Hilmar Schneider vom Forschungsinstitut Zukunft der Arbeit in Bonn auf. Oder auch Haushaltshilfen, Kinderbetreuer, Pfleger und Pizza-Lieferanten. „Potenziell rentable Arbeitsplätze gibt es in den Köpfen der Arbeitgeber genug“, glaubt Hans-Werner Sinn.
Wirklich?
So bestechend die Erfahrungen mit Billiglöhnern im Ausland auch sein mögen, als Blaupause für Deutschland taugen sie nur bedingt. Denn Deutschlands ökonomisches Dilemma ist der Osten. Dort fehlt es nicht an Druck auf Arbeitslose, dort fehlt es an Jobs – ganz gleich, wie günstig die Arbeitskräfte sind.
Die Vorstellung, in den neuen Bundesländern könne ein noch höheres und noch billigeres Angebot an Arbeitskräften quasi automatisch auch eine starke, Zehntausende Arbeitsplätze schaffende Nachfrage nach ihnen in Gang setzen, „ist absurd“, sagt Burkhard Lutz, Professor am Zentrum für Sozialforschung in Halle. In der gewerblichen Wirtschaft, berichtet die DGB-Frau Zimmermann, seien längst Absetzbewegungen der Betriebe in Niedrigstlohnländer wie Tschechien und Polen im Gange, wo Bandarbeiter weniger als zwei Euro die Stunde verdienen. Und bei den Dienstleistungen fehlt schlicht die Nachfrage derer, die sie bezahlen müssten – der privaten Haushalte also. „Man möchte die Kunden manchmal fast nötigen, einen Strauß Blumen zu kaufen“, sagt die Floristin Kaslak. „Aber man weiß eben auch, dass ihnen die Tüte Semmeln wichtiger ist.“
Und im Westen? Die Küchenhilfe Doris Malert bekommt einen Tariflohn von unter sieben Euro. „Allein kann ich davon leben“, sagt sie, „man richtet sich ein.“ Urlaub ist nicht drin, und auch der Kauf von teuren Gesundheitsschuhen nicht, die sie eigentlich nötig hätte. Wenn nun aber Malerts Lohn auf sechs oder sogar fünf Euro sänke oder die Lohnnebenkosten fielen – würden dann sofort mehr Küchenhilfen eingestellt? Kaum, sagt Hans Detlef Rahr, Betriebsratschef und Aufsichtsrat in dem Unternehmen, das die Spülerin beschäftigt. Auch Ingrid Hartges, Geschäftsführerin des Hotel- und Gaststättenverbands Dehoga, verspricht alles andere als massenhaft neue Jobs: „Wenn kein Geschäft da ist, werden keine Arbeitskräfte benötigt.“
Wenig Chancen für Einpackhelfer oder Tütenschlepper
Im Einzelhandel wiederum sind „die Niedriglohnjobs bereits besetzt“, sagt Heribert Jöris, Tarifexperte beim Einzelhandelsverband HDE. Ganz gering entlohnte Tätigkeiten wie die von „Regalpflegern“ – Beschäftigte, die Dosen und Kartons nachlegen – werden überdies meist von Minijobbern erledigt, und die sind in der Regel nicht ehemalige Arbeitslose, sondern Hausfrauen oder Studenten. Die Schaffung weiterer Billigjobs, etwa für Einpackhelfer oder Tütenschlepper, scheitert nach Jöris’ Worten zudem an der Unwilligkeit der Kundschaft, diesen Service mit einem kleinen Aufschlag auf die Warenpreise zu honorieren. Wenn es aber schon solche Jobs kaum gibt, dann bleibt wohl auch die Hoffnung, dass künftig Tausende Türöffner, Tankwarte oder Parkwächter neu eingestellt werden, genau das: die reine Hoffnung.
Selbst dort, wo auch Kritiker einer Niedriglohnstrategie noch die größten Chancen sehen, viele Arbeitsplätze zu schaffen und Schwarzarbeiter in die Legalität zu bringen, ist Vorsicht angebracht. 500000 neue Stellen könnten in privaten Haushalten für Putzhilfen eingerichtet werden, lautet die Vision von DIW-Chef Zimmermann. Viel zu optimistisch, nennt das Claudia Weinkopf, die für das Institut für Arbeit und Technik in Gelsenkirchen die bisherigen Erfahrungen in dieser Branche untersucht hat. Ihr Fazit: Auch dann, wenn professionelle und legale Putzarbeiten vom Staat hoch subventioniert werden – in einem Versuch in Rheinland-Pfalz zum Beispiel mit 50 Prozent –, liegen die Kosten für den Arbeitgeber oft deutlich über den üblichen Schwarzmarktpreisen. Keiner der mit viel Tamtam eingerichteten und staatlich bezuschussten „Dienstleistungspools“, in denen Reinigungskräfte für Privathaushalte ähnlich wie in Zeitarbeitsfirmen beschäftigt werden, konnte bislang Kostendeckung erreichen. „Wer eine halbe Million Putzjobs erwartet“, sagt Weinkopf, „geht von völlig unrealistischen Annahmen aus.“
Ohne Nachfrage kein Wachstum – und auch keine neuen Jobs
Das alles heißt nicht, dass es überhaupt keine zusätzlichen Stellen für Arbeitnehmer geben wird, die mit fünf Euro pro Stunde zufrieden sein müssen. Wer es sich leisten kann, lässt sich Bier und Butter von einem Online-Supermarkt frei Haus liefern und zahlt dafür den Menschen, der die Kisten und Tüten auch in den fünften Stock schleppt. Wer genügend Geld hat, wird einen Kinderbetreuer oder eine Pflegerin für seine Eltern beschäftigen. Man braucht also Besserverdienende, die die schlechter Verdienenden bezahlen können. Ökonomisch formuliert heißt das: Man braucht Wachstum.
Selbst DIW-Chef Zimmermann räumt ein, dass ein Billigjobwunder à la Amerika zwei Dinge benötige: mehr Anreize für die Arbeitgeber, diese Jobs zu schaffen – und gleichzeitig eine starke Nachfrage. Aber die fehlt in Deutschland. Tatsächlich halten sich die Menschen mit Ausgaben zurück, die Sparquote ist so hoch wie lange nicht mehr, die Wirtschaft stagniert. Nur um 0,5 Prozent, schätzen Konjunkturforscher, wird Deutschlands Wirtschaft in diesem Jahr wachsen; doch um auch nur ein paar hunderttausend Jobs für die zwei Millionen niedrig qualifizierten Arbeitslosen und arbeitsfähigen Sozialhilfebezieher zu schaffen, braucht es schon ein Wachstum von drei oder vier Prozent. Und auch dann sind es zunächst nicht die gering Qualifizierten, die als Erste eingestellt werden. Call-Center beispielsweise, hat Claudia Weinkopf herausgefunden, rekrutieren ihre Angestellten vornehmlich aus den inzwischen ebenfalls massenhaft zur Verfügung stehenden Arbeitslosen mit Ausbildung und Vorkenntnissen.
Mit alldem ist die Debatte um die Ausweitung des Niedriglohnsektors viel mehr als ein rein ökonomisches oder arbeitsmarktpolitisches Thema. Es geht auch um die Frage, „wie sehr viele arbeitende Menschen in Deutschland künftig leben sollen“, sagt Gerhard Bäcker, Sozialexperte der Universität Duisburg-Essen. Gibt es ein massenhaftes Angebot an Billig-Arbeitskräften, würden selbst jene geringen Tariflöhne unter Druck geraten, die schon jetzt nur ein Einkommen unter, an oder knapp über der Armutsgrenze ermöglichen. Würde das passieren, wäre die Gesellschaft von morgen eine andere als die von heute. Das ist kein Argument gegen Billigjobs. Bloß ein Hinweis, darauf, dass es dann noch mehr Menschen geben wird, die so leben wie Schwab, Kaslak, Malert und Möller – oder noch ein bisschen schlechter.
Michael Möller sagt, es sei ein Glück, dass er sich noch zu DDR-Zeiten ein kleines Häuschen gebaut habe, neun mal neun Meter Grundfläche. Das kostet nur die 100 Euro Kreditrate pro Monat, nötige Renovierungen mache er eben nach und nach. Als der ehemalige Elektriker noch als Zeitarbeiter unterwegs war, brachte er immerhin zwischen 800 und 1200 Euro im Monat nach Hause. Das habe gereicht, zusammen mit dem Arbeitslosengeld der Frau. Vier-, fünfmal im Jahr seien sie sogar essen gegangen.
Jetzt hat Möller keine Arbeit mehr. Die Frau bezieht nur noch Arbeitslosenhilfe, 3,90 Euro am Tag. Auch die Tochter lebt wieder zu Hause, nachdem ihre Stelle in einem Restaurant gestrichen wurde. Vor ein paar Tagen war Möller zum ersten Mal in seinem Leben auf dem Sozialamt, um Wohngeld zu beantragen. Befragt, was wäre, wenn er einen Job für 5 Euro annehmen müsste, nachdem in elf Monaten das Arbeitslosengeld ausläuft und die Arbeitslosenhilfe zum Leben nicht reicht, schaut der 48-Jährige nach unten, knetet die Hände. „Ich bin doch Familienvater, ich muss für meine Familie sorgen“, sagt er. Aber wenn er mit 5 Euro brutto heimkomme, dann sei das unwürdig. „Dann bin ich kein Versorger mehr.“
Von Christian Tenbrock
Bis zu zwölf Stunden steht Susanne Schwab* auf den Beinen, schaut, prüft, kontrolliert. Zwölf Stunden täglich, von morgens sechs bis abends sechs, sechs Tage in der Woche, dann hat sie drei Tage frei. Schwab steht an einem Eingang des Berliner Reichstags an der Röntgen-Schleuse, dort, wo die Touristen und Bundestags-Besucher hereinkommen. Manchmal auch die Politiker. Friedrich Merz von der CDU hat sie schon mal gesehen, auch Guido Westerwelle von der FDP.
Für jede Stunde Arbeit bekommt Susanne Schwab vier Euro neunzig Cent. Etwa 240 Stunden kommen im Monat zusammen, das macht dann rund 1175 Euro – brutto. Netto bleiben ihr weniger als 1000. Dafür steht sie morgens um halb fünf auf und nimmt um fünf den Bus und die S-Bahn, um von ihrer Wohnung weit draußen im Berliner Osten rechtzeitig zum Reichstag zu kommen. Abends die gleiche Tour zurück. Zwei der fünf Kinder leben noch zu Hause.
Sie komme hin, sagt Schwab, gerade so eben, und nur, weil der Lebensgefährte Arbeitslosengeld beziehe. Fleisch gibt es einmal die Woche, das Bierchen mit den Kollegen einmal im Monat, neue Kleidung einmal im Jahr, und den Besuch im Kino oder im Restaurant nie. Im Urlaub war die 46-Jährige zuletzt 1988. Zwei Wochen an der Ostsee.
Susanne Schwab ist das, was in Deutschland „Billiglöhner“ heißt. Einer jener Menschen, von denen es nach Meinung vieler Politiker und Ökonomen mehr geben sollte. Um die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, fordern sie, müsse der Niedriglohnsektor in Deutschland ausgeweitet werden. Es müssten mehr Jobs her mit einem Verdienst, der irgendwo zwischen der Sozialhilfe und dem niedrigsten Tariflohn liegt. Und um die Menschen zu bewegen, solche Jobs anzunehmen, müssten sie dazu gezwungen werden – durch weniger Arbeitslosengeld und weniger Arbeitslosenhilfe. So will es auch der Kanzler mit seiner Agenda 2010.
Blutspenden frischen die Haushaltskasse auf
Dabei gibt es in Deutschland schon jetzt Millionen Beschäftigte wie Susanne Schwab. Doris Malert zum Beispiel: In einem Kaufhaus-Restaurant in Kiel spült sie und putzt die Tische ab. 836 Euro bleiben ihr am Monatsende, 400 nach Abzug von Miete, Telefon und Versicherungen. Oder Annelie Kaslak, die für 5 Euro in der Stunde Blumen in einem Geschäft in der Nähe von Zwickau verkauft; ohne den Verdienst ihres Freundes, der Rasen mäht und Hauswartsarbeiten erledigt, könnte sie nicht überleben. Oder Michael Möller, 48, ausgebildeter Elektriker, ein schmaler Mann mit kräftigen Händen: 6,90 Euro verdiente Möller als Zeitarbeiter in Plauen, bevor er vor wenigen Wochen auch diese Arbeit verlor.
In Amerika würde man Schwab, Kaslak, Malert oder Möller „arbeitende Arme“ nennen – Beschäftigte, die am Monatsende so wenig Geld nach Hause bringen, dass sie unter die Armutsgrenze fallen. Die liegt in Deutschland bei etwas mehr als 1200 Euro brutto, der Hälfte eines deutschen Durchschnittseinkommens. Nimmt man diese Grenze als Maßstab, dann arbeiten allein im Westen der Republik 12 Prozent aller Vollzeit-Beschäftigten zum Armutslohn, sagt Claus Schäfer vom gewerkschaftsnahen Forschungsinstitut WSI in Düsseldorf. Das wären 2,2 Millionen Menschen nur in den alten Bundesländern. Im Osten ist der Anteil der Billiglöhner weitaus höher.
Im Vogtlandkreis bei Zwickau beispielsweise verdienten im Jahr 2001 – neuere Statistiken gibt es nicht – 56 Prozent aller Beschäftigten weniger als 910 Euro netto im Monat. „Über Niedriglöhne muss man mir nichts mehr erzählen“, sagt Sabine Zimmermann, DGB-Chefin in Zwickau. Der Floristin Annelie Kaslak auch nicht. 27 Euro bleiben ihr von ihrem Monatslohn, nachdem sie die Miete, die Versicherungen und die Kosten für das Auto bezahlt hat, das sie braucht, um zum Job zu kommen. Zwölfmal hat sie in den letzten Monaten Blut gespendet, pro Spende gibt es 15 Euro extra. Der größte Luxus im letzten Jahr? „Eine neue Brille.“ Markenjeans? „Niemals.“ Ein anderer, besser bezahlter Job? „Wo denn?“
44935 Arbeitslosen im Arbeitsamtsbezirk Zwickau standen im April nur 2520 offene Stellen gegenüber. In Plauen kamen auf 24697 Menschen ohne Arbeit gerade mal 1158 freie Stellen. Dabei müsste das der Theorie nach ganz anders sein. Theoretisch müsste die Zahl der Arbeitsplätze steigen, wenn die Löhne niedrig sind. So sagen es zumindest all jene Ökonomen, die einen größeren Niedriglohnsektor in Deutschland fordern. Hans-Werner Sinn etwa, der Chef des Münchner Ifo-Instituts, spricht von 2,3 Millionen zusätzlicher Jobs, wenn die Löhne gering genug wären und Menschen ohne Arbeit zu ihrem Arbeitsglück gezwungen würden. Auch Klaus Zimmermann, der Leiter des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin, hält zahllose neue Billig-Arbeitsplätze für möglich: „Potenziell 2 Millionen.“
Hinter den Modellen der Theoretiker stehen ein paar simple Annahmen und der Blick ins Ausland: Erstens seien einfachere Jobs in Deutschland dank zu hoher Tariflöhne auch im untersten Bereich zu teuer geworden, also wurden sie wegrationalisiert und Hilfsarbeiter aufs Arbeitsamt geschickt. Zweitens sei die bisherige Arbeitslosen- und Sozialhilfe zu hoch, deshalb gebe es für die Empfänger staatlicher Leistungen nicht genügend „Anreize“, einen auch gering entlohnten Job anzunehmen. Und drittens existiere in Deutschland eine „Dienstleistungslücke“: Während zum Beispiel in den USA die in der Industrie verlorenen Stellen durch zahlreiche neue Arbeitsplätze ersetzt worden seien – im Handel, in der Gastronomie oder im Gesundheitswesen –, sei dies hierzulande nur unterdurchschnittlich geschehen. Wiederum auch deshalb, weil die Löhne in solchen Jobs angeblich zu hoch sind.
Die Therapie: Verkürzung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes einerseits, Reduzierung der Arbeitslosenhilfe auf Sozialhilfeniveau andererseits. So steht es in der Agenda 2010, so will der Kanzler den Druck auf die Arbeitsfähigen erhöhen, tatsächlich nach einem Job zu suchen. Ifo-Chef Sinn geht noch weiter und will zusätzlich die Sozialhilfe um etwa ein Viertel absenken. Und DIW-Leiter Zimmermann möchte die Bezieher staatlicher Stütze zu einer Art staatlichem Arbeitsdienst verpflichten; auch das, so seine Hoffnung, werde sie am Ende dazu bewegen, einen regulären Job anzunehmen – jeden Job.
Würden sich Arbeitslose oder Menschen auf Sozialhilfe nur billig genug verdingen, würden diese Jobs auch geschaffen, sind die Therapeuten überzeugt. „Tankwarte, Parkplatzwächter, Tüten-Einpacker, Türöffner am Kaufhaus“, zählt Hilmar Schneider vom Forschungsinstitut Zukunft der Arbeit in Bonn auf. Oder auch Haushaltshilfen, Kinderbetreuer, Pfleger und Pizza-Lieferanten. „Potenziell rentable Arbeitsplätze gibt es in den Köpfen der Arbeitgeber genug“, glaubt Hans-Werner Sinn.
Wirklich?
So bestechend die Erfahrungen mit Billiglöhnern im Ausland auch sein mögen, als Blaupause für Deutschland taugen sie nur bedingt. Denn Deutschlands ökonomisches Dilemma ist der Osten. Dort fehlt es nicht an Druck auf Arbeitslose, dort fehlt es an Jobs – ganz gleich, wie günstig die Arbeitskräfte sind.
Die Vorstellung, in den neuen Bundesländern könne ein noch höheres und noch billigeres Angebot an Arbeitskräften quasi automatisch auch eine starke, Zehntausende Arbeitsplätze schaffende Nachfrage nach ihnen in Gang setzen, „ist absurd“, sagt Burkhard Lutz, Professor am Zentrum für Sozialforschung in Halle. In der gewerblichen Wirtschaft, berichtet die DGB-Frau Zimmermann, seien längst Absetzbewegungen der Betriebe in Niedrigstlohnländer wie Tschechien und Polen im Gange, wo Bandarbeiter weniger als zwei Euro die Stunde verdienen. Und bei den Dienstleistungen fehlt schlicht die Nachfrage derer, die sie bezahlen müssten – der privaten Haushalte also. „Man möchte die Kunden manchmal fast nötigen, einen Strauß Blumen zu kaufen“, sagt die Floristin Kaslak. „Aber man weiß eben auch, dass ihnen die Tüte Semmeln wichtiger ist.“
Und im Westen? Die Küchenhilfe Doris Malert bekommt einen Tariflohn von unter sieben Euro. „Allein kann ich davon leben“, sagt sie, „man richtet sich ein.“ Urlaub ist nicht drin, und auch der Kauf von teuren Gesundheitsschuhen nicht, die sie eigentlich nötig hätte. Wenn nun aber Malerts Lohn auf sechs oder sogar fünf Euro sänke oder die Lohnnebenkosten fielen – würden dann sofort mehr Küchenhilfen eingestellt? Kaum, sagt Hans Detlef Rahr, Betriebsratschef und Aufsichtsrat in dem Unternehmen, das die Spülerin beschäftigt. Auch Ingrid Hartges, Geschäftsführerin des Hotel- und Gaststättenverbands Dehoga, verspricht alles andere als massenhaft neue Jobs: „Wenn kein Geschäft da ist, werden keine Arbeitskräfte benötigt.“
Wenig Chancen für Einpackhelfer oder Tütenschlepper
Im Einzelhandel wiederum sind „die Niedriglohnjobs bereits besetzt“, sagt Heribert Jöris, Tarifexperte beim Einzelhandelsverband HDE. Ganz gering entlohnte Tätigkeiten wie die von „Regalpflegern“ – Beschäftigte, die Dosen und Kartons nachlegen – werden überdies meist von Minijobbern erledigt, und die sind in der Regel nicht ehemalige Arbeitslose, sondern Hausfrauen oder Studenten. Die Schaffung weiterer Billigjobs, etwa für Einpackhelfer oder Tütenschlepper, scheitert nach Jöris’ Worten zudem an der Unwilligkeit der Kundschaft, diesen Service mit einem kleinen Aufschlag auf die Warenpreise zu honorieren. Wenn es aber schon solche Jobs kaum gibt, dann bleibt wohl auch die Hoffnung, dass künftig Tausende Türöffner, Tankwarte oder Parkwächter neu eingestellt werden, genau das: die reine Hoffnung.
Selbst dort, wo auch Kritiker einer Niedriglohnstrategie noch die größten Chancen sehen, viele Arbeitsplätze zu schaffen und Schwarzarbeiter in die Legalität zu bringen, ist Vorsicht angebracht. 500000 neue Stellen könnten in privaten Haushalten für Putzhilfen eingerichtet werden, lautet die Vision von DIW-Chef Zimmermann. Viel zu optimistisch, nennt das Claudia Weinkopf, die für das Institut für Arbeit und Technik in Gelsenkirchen die bisherigen Erfahrungen in dieser Branche untersucht hat. Ihr Fazit: Auch dann, wenn professionelle und legale Putzarbeiten vom Staat hoch subventioniert werden – in einem Versuch in Rheinland-Pfalz zum Beispiel mit 50 Prozent –, liegen die Kosten für den Arbeitgeber oft deutlich über den üblichen Schwarzmarktpreisen. Keiner der mit viel Tamtam eingerichteten und staatlich bezuschussten „Dienstleistungspools“, in denen Reinigungskräfte für Privathaushalte ähnlich wie in Zeitarbeitsfirmen beschäftigt werden, konnte bislang Kostendeckung erreichen. „Wer eine halbe Million Putzjobs erwartet“, sagt Weinkopf, „geht von völlig unrealistischen Annahmen aus.“
Ohne Nachfrage kein Wachstum – und auch keine neuen Jobs
Das alles heißt nicht, dass es überhaupt keine zusätzlichen Stellen für Arbeitnehmer geben wird, die mit fünf Euro pro Stunde zufrieden sein müssen. Wer es sich leisten kann, lässt sich Bier und Butter von einem Online-Supermarkt frei Haus liefern und zahlt dafür den Menschen, der die Kisten und Tüten auch in den fünften Stock schleppt. Wer genügend Geld hat, wird einen Kinderbetreuer oder eine Pflegerin für seine Eltern beschäftigen. Man braucht also Besserverdienende, die die schlechter Verdienenden bezahlen können. Ökonomisch formuliert heißt das: Man braucht Wachstum.
Selbst DIW-Chef Zimmermann räumt ein, dass ein Billigjobwunder à la Amerika zwei Dinge benötige: mehr Anreize für die Arbeitgeber, diese Jobs zu schaffen – und gleichzeitig eine starke Nachfrage. Aber die fehlt in Deutschland. Tatsächlich halten sich die Menschen mit Ausgaben zurück, die Sparquote ist so hoch wie lange nicht mehr, die Wirtschaft stagniert. Nur um 0,5 Prozent, schätzen Konjunkturforscher, wird Deutschlands Wirtschaft in diesem Jahr wachsen; doch um auch nur ein paar hunderttausend Jobs für die zwei Millionen niedrig qualifizierten Arbeitslosen und arbeitsfähigen Sozialhilfebezieher zu schaffen, braucht es schon ein Wachstum von drei oder vier Prozent. Und auch dann sind es zunächst nicht die gering Qualifizierten, die als Erste eingestellt werden. Call-Center beispielsweise, hat Claudia Weinkopf herausgefunden, rekrutieren ihre Angestellten vornehmlich aus den inzwischen ebenfalls massenhaft zur Verfügung stehenden Arbeitslosen mit Ausbildung und Vorkenntnissen.
Mit alldem ist die Debatte um die Ausweitung des Niedriglohnsektors viel mehr als ein rein ökonomisches oder arbeitsmarktpolitisches Thema. Es geht auch um die Frage, „wie sehr viele arbeitende Menschen in Deutschland künftig leben sollen“, sagt Gerhard Bäcker, Sozialexperte der Universität Duisburg-Essen. Gibt es ein massenhaftes Angebot an Billig-Arbeitskräften, würden selbst jene geringen Tariflöhne unter Druck geraten, die schon jetzt nur ein Einkommen unter, an oder knapp über der Armutsgrenze ermöglichen. Würde das passieren, wäre die Gesellschaft von morgen eine andere als die von heute. Das ist kein Argument gegen Billigjobs. Bloß ein Hinweis, darauf, dass es dann noch mehr Menschen geben wird, die so leben wie Schwab, Kaslak, Malert und Möller – oder noch ein bisschen schlechter.
Michael Möller sagt, es sei ein Glück, dass er sich noch zu DDR-Zeiten ein kleines Häuschen gebaut habe, neun mal neun Meter Grundfläche. Das kostet nur die 100 Euro Kreditrate pro Monat, nötige Renovierungen mache er eben nach und nach. Als der ehemalige Elektriker noch als Zeitarbeiter unterwegs war, brachte er immerhin zwischen 800 und 1200 Euro im Monat nach Hause. Das habe gereicht, zusammen mit dem Arbeitslosengeld der Frau. Vier-, fünfmal im Jahr seien sie sogar essen gegangen.
Jetzt hat Möller keine Arbeit mehr. Die Frau bezieht nur noch Arbeitslosenhilfe, 3,90 Euro am Tag. Auch die Tochter lebt wieder zu Hause, nachdem ihre Stelle in einem Restaurant gestrichen wurde. Vor ein paar Tagen war Möller zum ersten Mal in seinem Leben auf dem Sozialamt, um Wohngeld zu beantragen. Befragt, was wäre, wenn er einen Job für 5 Euro annehmen müsste, nachdem in elf Monaten das Arbeitslosengeld ausläuft und die Arbeitslosenhilfe zum Leben nicht reicht, schaut der 48-Jährige nach unten, knetet die Hände. „Ich bin doch Familienvater, ich muss für meine Familie sorgen“, sagt er. Aber wenn er mit 5 Euro brutto heimkomme, dann sei das unwürdig. „Dann bin ich kein Versorger mehr.“