DER SPIEGEL 1/2002 - 29. Dezember 2001
URL: www.spiegel.de/spiegel/0,1518,174694,00.html
Studie
An der Realität vorbei
Eine geheime Studie der Bundesanstalt für Arbeit zeigt, weshalb 30 Prozent der Arbeitslosen gar keinen Job suchen. Behördenchef Bernhard Jagoda steckt nun in der Klemme.
Nürnberg - Wenn es um den Ruf der Arbeitslosen geht, legt sich Bernhard Jagoda sogar mit dem Bundeskanzler an. "Alles Vorurteile", schimpfte der Chef der Nürnberger Bundesanstalt für Arbeit, als Gerhard Schröder im Frühsommer über die Faulenzer unter Deutschlands Stempelgängern herzog. Völliger Blödsinn, befand damals der Behördenboss. Die Zahl der Unwilligen sei "eher gering".
Jetzt muss Jagoda wohl selbst sein Bild der Wirklichkeit korrigieren. Auf seinem Schreibtisch liegt eine brisante Studie des Bonner Meinungsforschungsinstituts Infas, die genau das belegt, was Jagoda vehement bestreitet: Ein erheblicher Teil der Arbeitslosen, so die Kernbotschaft des Papiers, sucht in Wahrheit keine neue Stelle.
Grund der Job-Unlust ist jedoch weder notorische Faulheit noch Drückebergerei, sondern vor allem die Folge widersinniger Sozialgesetze. Viele Stempelgänger, so ermittelten die Infas-Experten, melden sich nur deshalb erwerbslos, weil sie Sozial-Ansprüche wahren oder die Zeit bis zur Rente überbrücken wollen.
Die Studie bringt Jagoda in die Klemme. Würde er tun, was die Forscher empfehlen, müsste er die umstrittenen Gruppen eigentlich aus seiner Statistik streichen. Doch in den Verdacht, er wolle ausgerechnet im Wahljahr die Arbeitslosenzahl schönen, mag der langjährige Anstaltschef auf keinen Fall geraten.
So hält Jagoda die Studie, die bereits seit diesem Frühjahr vorliegt, noch immer unter Verschluss. Dafür hat er das tabellengespickte Papier an seine Gremien überwiesen, damit die das brisante Werk schon mal in aller Stille kleinraspeln können. Als "untauglich" verwarf etwa der mächtige Verwaltungsrat der Behörde kurz vor Weihnachten die Forscher-Empfehlungen. "Keinen Handlungsbedarf" erkennt auch die stellvertretende Anstalts-Vorsitzende und DGB-Vizechefin Ursula Engelen-Kefer.
Dabei weisen die Infas-Forscher nach, wie sehr die Jagoda-Behörde bislang an der Wirklichkeit vorbei vermittelt hat. Von den fast 10 000 Arbeitslosen, die das Institut im Frühling des vergangenen Jahres befragt hat, suchen viele bestenfalls sporadisch einen Job:
15 Prozent wurden mit Abfindungen ihrer Betriebe in den Vorruhestand entlassen und gehen demnächst in Rente;
5 Prozent haben bereits einen neuen Arbeitsvertrag in der Tasche und wollen lediglich die Zeit bis zum nächsten Job überbrücken;
2 Prozent suchen nach meist langer Arbeitslosigkeit nur noch "mit geringer Aktivität" eine Stelle;
7 Prozent erziehen Kinder, pflegen Angehörige oder wollen ihren Familien Sozialansprüche sichern. Dazu zählen etwa Jugendliche über 18, die sich vor dem Start von Wehrdienst oder Studium arbeitslos melden, damit ihre Eltern weiter Kindergeld bekommen.
Insgesamt, so ermittelten die Forscher, wollen somit fast 30 Prozent aller Erwerbslosen gar nicht ernsthaft vermittelt werden. Kein Wunder: Vielen der knapp 1,1 Millionen Schein-Arbeitslosen geht es glänzend. Wer die Zeit bis zum nächsten Job überbrückt, kann im Durchschnitt auf einen monatlichen Nettoverdienst von über 3400 Mark zählen, ermittelte Infas. Wer auf die Rente wartet, wohnt zumeist in den eigenen vier Wänden und hat häufig zusätzliche Kapitaleinkünfte.
DPA
Behördenchef Jagoda: Weltbild korrigiert
Handlungsbedarf sehen die Infas-Experten aber auch bei der großen Mehrheit der Erwerbslosen, die tatsächlich einen Job suchen. Vor allem um jene 20 Prozent, die nur noch mit "mittlerer Aktivität" nach einer Stelle fahnden, müssten sich die Ämter verstärkt kümmern. So geht aus der Studie hervor: Wer mit Hochdruck sucht und sich ständig bewirbt, hat fünf- bis neunmal so gute Chancen auf einen Job wie jemand, der nur einmal alle zwei Monate ein Vorstellungsgespräch führt.
In der Praxis jedoch widmet sich Jagodas Behörde häufig gerade jener Klientel, bei der das erwiesenermaßen wenig fruchtet. So versuchen derzeit viele Ämter, unter dem Motto "50 plus - die können es" ihre Seniorenreserve zu reaktivieren. Damit soll der Fachkräftemangel in manchen Branchen und Regionen bekämpft werden. Die Betroffenen jedoch erleben die amtlichen Bemühungen oft als sinnfreien Arbeitszwang. Der arbeitslose Maschinenbau-Ingenieur Jan Bräuniger, 60, aus Kolberg bei Berlin zum Beispiel muss sich von seinem örtlichen Arbeitsamt seit Jahren von einer Fortbildungs- zur nächsten Beschäftigungsmaßnahme schicken lassen. Mal sollte er in einem Bauamt sinnlos Tausende von Akten in den Computer scannen, mal ließ ihn die Behörde aufwendig zum Sanitärtechniker umschulen.
Doch wenn sich der Arbeitslose dann mit seinen frisch erworbenen Zertifikaten bei Betrieben und Behörden vorstellte, lachten ihn die Personalchefs nur aus - wenn sie ihn überhaupt erst einluden. "Was wollen Sie denn hier?", bekam er zu hören. "Wir stellen ja schon keine 40-Jährigen mehr ein."
MICHAEL SAUGA
URL: www.spiegel.de/spiegel/0,1518,174694,00.html
Studie
An der Realität vorbei
Eine geheime Studie der Bundesanstalt für Arbeit zeigt, weshalb 30 Prozent der Arbeitslosen gar keinen Job suchen. Behördenchef Bernhard Jagoda steckt nun in der Klemme.
Nürnberg - Wenn es um den Ruf der Arbeitslosen geht, legt sich Bernhard Jagoda sogar mit dem Bundeskanzler an. "Alles Vorurteile", schimpfte der Chef der Nürnberger Bundesanstalt für Arbeit, als Gerhard Schröder im Frühsommer über die Faulenzer unter Deutschlands Stempelgängern herzog. Völliger Blödsinn, befand damals der Behördenboss. Die Zahl der Unwilligen sei "eher gering".
Jetzt muss Jagoda wohl selbst sein Bild der Wirklichkeit korrigieren. Auf seinem Schreibtisch liegt eine brisante Studie des Bonner Meinungsforschungsinstituts Infas, die genau das belegt, was Jagoda vehement bestreitet: Ein erheblicher Teil der Arbeitslosen, so die Kernbotschaft des Papiers, sucht in Wahrheit keine neue Stelle.
Grund der Job-Unlust ist jedoch weder notorische Faulheit noch Drückebergerei, sondern vor allem die Folge widersinniger Sozialgesetze. Viele Stempelgänger, so ermittelten die Infas-Experten, melden sich nur deshalb erwerbslos, weil sie Sozial-Ansprüche wahren oder die Zeit bis zur Rente überbrücken wollen.
Die Studie bringt Jagoda in die Klemme. Würde er tun, was die Forscher empfehlen, müsste er die umstrittenen Gruppen eigentlich aus seiner Statistik streichen. Doch in den Verdacht, er wolle ausgerechnet im Wahljahr die Arbeitslosenzahl schönen, mag der langjährige Anstaltschef auf keinen Fall geraten.
So hält Jagoda die Studie, die bereits seit diesem Frühjahr vorliegt, noch immer unter Verschluss. Dafür hat er das tabellengespickte Papier an seine Gremien überwiesen, damit die das brisante Werk schon mal in aller Stille kleinraspeln können. Als "untauglich" verwarf etwa der mächtige Verwaltungsrat der Behörde kurz vor Weihnachten die Forscher-Empfehlungen. "Keinen Handlungsbedarf" erkennt auch die stellvertretende Anstalts-Vorsitzende und DGB-Vizechefin Ursula Engelen-Kefer.
Dabei weisen die Infas-Forscher nach, wie sehr die Jagoda-Behörde bislang an der Wirklichkeit vorbei vermittelt hat. Von den fast 10 000 Arbeitslosen, die das Institut im Frühling des vergangenen Jahres befragt hat, suchen viele bestenfalls sporadisch einen Job:
15 Prozent wurden mit Abfindungen ihrer Betriebe in den Vorruhestand entlassen und gehen demnächst in Rente;
5 Prozent haben bereits einen neuen Arbeitsvertrag in der Tasche und wollen lediglich die Zeit bis zum nächsten Job überbrücken;
2 Prozent suchen nach meist langer Arbeitslosigkeit nur noch "mit geringer Aktivität" eine Stelle;
7 Prozent erziehen Kinder, pflegen Angehörige oder wollen ihren Familien Sozialansprüche sichern. Dazu zählen etwa Jugendliche über 18, die sich vor dem Start von Wehrdienst oder Studium arbeitslos melden, damit ihre Eltern weiter Kindergeld bekommen.
Insgesamt, so ermittelten die Forscher, wollen somit fast 30 Prozent aller Erwerbslosen gar nicht ernsthaft vermittelt werden. Kein Wunder: Vielen der knapp 1,1 Millionen Schein-Arbeitslosen geht es glänzend. Wer die Zeit bis zum nächsten Job überbrückt, kann im Durchschnitt auf einen monatlichen Nettoverdienst von über 3400 Mark zählen, ermittelte Infas. Wer auf die Rente wartet, wohnt zumeist in den eigenen vier Wänden und hat häufig zusätzliche Kapitaleinkünfte.
DPA
Behördenchef Jagoda: Weltbild korrigiert
Handlungsbedarf sehen die Infas-Experten aber auch bei der großen Mehrheit der Erwerbslosen, die tatsächlich einen Job suchen. Vor allem um jene 20 Prozent, die nur noch mit "mittlerer Aktivität" nach einer Stelle fahnden, müssten sich die Ämter verstärkt kümmern. So geht aus der Studie hervor: Wer mit Hochdruck sucht und sich ständig bewirbt, hat fünf- bis neunmal so gute Chancen auf einen Job wie jemand, der nur einmal alle zwei Monate ein Vorstellungsgespräch führt.
In der Praxis jedoch widmet sich Jagodas Behörde häufig gerade jener Klientel, bei der das erwiesenermaßen wenig fruchtet. So versuchen derzeit viele Ämter, unter dem Motto "50 plus - die können es" ihre Seniorenreserve zu reaktivieren. Damit soll der Fachkräftemangel in manchen Branchen und Regionen bekämpft werden. Die Betroffenen jedoch erleben die amtlichen Bemühungen oft als sinnfreien Arbeitszwang. Der arbeitslose Maschinenbau-Ingenieur Jan Bräuniger, 60, aus Kolberg bei Berlin zum Beispiel muss sich von seinem örtlichen Arbeitsamt seit Jahren von einer Fortbildungs- zur nächsten Beschäftigungsmaßnahme schicken lassen. Mal sollte er in einem Bauamt sinnlos Tausende von Akten in den Computer scannen, mal ließ ihn die Behörde aufwendig zum Sanitärtechniker umschulen.
Doch wenn sich der Arbeitslose dann mit seinen frisch erworbenen Zertifikaten bei Betrieben und Behörden vorstellte, lachten ihn die Personalchefs nur aus - wenn sie ihn überhaupt erst einluden. "Was wollen Sie denn hier?", bekam er zu hören. "Wir stellen ja schon keine 40-Jährigen mehr ein."
MICHAEL SAUGA