ftd.de, Mi, 2.4.2003, 2:00
Behavioral Finance: Alles unter Kontrolle?
Von Rüdiger von Nitzsch und Olaf Stotz
Kaufen, wenn die Kanonen donnern. Ist das die Börsenweisheit, die Anleger jetzt befolgen sollten? Die Psychologie der Kapitalmärkte legt dies nahe. Den Grund hierfür sehen Forscher in der Kontrollwahrnehmung der Menschen.
Investoren sind stets dann aktiv und risikobereit, wenn sie fühlen, die Situation unter Kontrolle zu haben. Nehmen wir die verhängnisvolle Euphorie am Neuen Markt. Viele Anleger erlebten einen Renditeerfolg nach dem anderen. Da dies gut für das Selbstwertgefühl ist, war der Grund für die guten Ergebnisse schnell gefunden: nicht Glück, sondern die eigenen Fähigkeiten.
Diese Illusion nährte das Kontrollgefühl stetig, bis sich das in der Psychologie bekannte Phänomen der erlernten Sorglosigkeit einstellte. Die Folge: Risiken wurden kaum noch wahrgenommen. Zugleich war die Handelsaktivität enorm.
Was jedoch passiert in längeren Abwärtstrends und Krisen? Investments führen nicht zu dem ersehnten Erfolg, und nach einiger Zeit schafft es der Mensch nicht mehr, nur noch das Pech für die Misserfolge verantwortlich zu machen. Die Situation scheint immer mehr aus dem Ruder zu laufen. Das für das Investmentverhalten wichtige Kontrollgefühl schwindet.
Solidarische Kontrollillusion
Was hier für den einzelnen beschrieben wird, gilt auch für den gesamten Markt. Euphorie führt zu einer solidarischen Kontrollillusion - jeder fühlt sich als der beste Investor, Risiken werden kaum wahrgenommen, und es werden geringe Prämien dafür verlangt. Die Folge: hohe Kurse. Hingegen führt die Unsicherheit in Krisen zu einem kollektiven Kontrollverlust - jeder will Risiken um jeden Preis vermeiden. Die Konsequenz: überhöhte Risikoprämien und niedrige Kurse.
Wie ist nun die aktuelle (Krisen-)Situation zu bewerten? Obwohl der Mensch in allen Krisen gleich funktioniert, kann jede nur in ihrem historischen Kontext analysiert werden. Anfang der 90er Jahre erlebten die Anleger eine weltweite Rezession, und die japanische Börsenblase begann zu platzen. Anleger scheuten das Risiko, die Risikoprämie war in Deutschland mit rund drei Prozent und in den USA mit etwa vier Prozent überdurchschnittlich hoch.
Im Laufe der 90er Jahre erholte sich die Weltwirtschaft (mit Ausnahme von Japan), die Anleger fassten neues Vertrauen, ihr Kontrollgefühl stieg, und die Risikoprämie sank stetig. Gegen Ende der 90er Jahre waren die Börsen in einem Hype und - dank Interneteuphorie und dem neuen Medienstar "Aktie" - wurden unbegrenzte Chancen gesehen und Risiken verdrängt. Die Risikoprämie sank auf zuvor nie da gewesene ein bis eineinhalb Prozent - ein schlechter Zeitpunkt für den Aktienkauf.
Crash auf Raten
Der danach einsetzende Crash war zunächst ein Crash auf Raten, der den Anlegern erst langsam, dann immer stärker das Vertrauen und somit ihr Kontrollgefühl entzog. Die Risikoprämien stiegen wieder an. In Deutschland liegen sie heute deutlich über ihrem Mittel. Im Grunde ein klares Indiz für den Einstieg in Aktien.
So zeigen Studien, dass hohe Risikoprämien von guten Aktienjahren gefolgt werden. Doch ein Blick nach Amerika trübt dieses Bild. Trotz dreijähriger Baisse liegt die Risikoprämie für US-Aktien immer noch unter ihrem langjährigen Mittel. Hier lauert Gefahr, sollten die Amerikaner aufwachen und sich ihrer Risiken (Leistungsbilanzdefizit, Terroranschläge, Bilanzskandale, Verschuldung) bewusst werden.
Da sich Deutschland den zu erwartenden schwachen Märkten in den USA nicht vollständig entziehen kann, können die Einstiegsmöglichkeiten hier noch besser werden als jetzt. Während die Kanonen donnern, sollten Anleger also ruhig noch warten.
Rüdiger von Nitzsch und Olaf Stotz gehören dem Vorstand des Forschungsinstituts für Asset Management an der RWTH Aachen an.
© 2003 Financial Times Deutschland
URL des Artikels: www.ftd.de/bm/ga/1048711356953.html
Behavioral Finance: Alles unter Kontrolle?
Von Rüdiger von Nitzsch und Olaf Stotz
Kaufen, wenn die Kanonen donnern. Ist das die Börsenweisheit, die Anleger jetzt befolgen sollten? Die Psychologie der Kapitalmärkte legt dies nahe. Den Grund hierfür sehen Forscher in der Kontrollwahrnehmung der Menschen.
Investoren sind stets dann aktiv und risikobereit, wenn sie fühlen, die Situation unter Kontrolle zu haben. Nehmen wir die verhängnisvolle Euphorie am Neuen Markt. Viele Anleger erlebten einen Renditeerfolg nach dem anderen. Da dies gut für das Selbstwertgefühl ist, war der Grund für die guten Ergebnisse schnell gefunden: nicht Glück, sondern die eigenen Fähigkeiten.
Diese Illusion nährte das Kontrollgefühl stetig, bis sich das in der Psychologie bekannte Phänomen der erlernten Sorglosigkeit einstellte. Die Folge: Risiken wurden kaum noch wahrgenommen. Zugleich war die Handelsaktivität enorm.
Was jedoch passiert in längeren Abwärtstrends und Krisen? Investments führen nicht zu dem ersehnten Erfolg, und nach einiger Zeit schafft es der Mensch nicht mehr, nur noch das Pech für die Misserfolge verantwortlich zu machen. Die Situation scheint immer mehr aus dem Ruder zu laufen. Das für das Investmentverhalten wichtige Kontrollgefühl schwindet.
Solidarische Kontrollillusion
Was hier für den einzelnen beschrieben wird, gilt auch für den gesamten Markt. Euphorie führt zu einer solidarischen Kontrollillusion - jeder fühlt sich als der beste Investor, Risiken werden kaum wahrgenommen, und es werden geringe Prämien dafür verlangt. Die Folge: hohe Kurse. Hingegen führt die Unsicherheit in Krisen zu einem kollektiven Kontrollverlust - jeder will Risiken um jeden Preis vermeiden. Die Konsequenz: überhöhte Risikoprämien und niedrige Kurse.
Wie ist nun die aktuelle (Krisen-)Situation zu bewerten? Obwohl der Mensch in allen Krisen gleich funktioniert, kann jede nur in ihrem historischen Kontext analysiert werden. Anfang der 90er Jahre erlebten die Anleger eine weltweite Rezession, und die japanische Börsenblase begann zu platzen. Anleger scheuten das Risiko, die Risikoprämie war in Deutschland mit rund drei Prozent und in den USA mit etwa vier Prozent überdurchschnittlich hoch.
Im Laufe der 90er Jahre erholte sich die Weltwirtschaft (mit Ausnahme von Japan), die Anleger fassten neues Vertrauen, ihr Kontrollgefühl stieg, und die Risikoprämie sank stetig. Gegen Ende der 90er Jahre waren die Börsen in einem Hype und - dank Interneteuphorie und dem neuen Medienstar "Aktie" - wurden unbegrenzte Chancen gesehen und Risiken verdrängt. Die Risikoprämie sank auf zuvor nie da gewesene ein bis eineinhalb Prozent - ein schlechter Zeitpunkt für den Aktienkauf.
Crash auf Raten
Der danach einsetzende Crash war zunächst ein Crash auf Raten, der den Anlegern erst langsam, dann immer stärker das Vertrauen und somit ihr Kontrollgefühl entzog. Die Risikoprämien stiegen wieder an. In Deutschland liegen sie heute deutlich über ihrem Mittel. Im Grunde ein klares Indiz für den Einstieg in Aktien.
So zeigen Studien, dass hohe Risikoprämien von guten Aktienjahren gefolgt werden. Doch ein Blick nach Amerika trübt dieses Bild. Trotz dreijähriger Baisse liegt die Risikoprämie für US-Aktien immer noch unter ihrem langjährigen Mittel. Hier lauert Gefahr, sollten die Amerikaner aufwachen und sich ihrer Risiken (Leistungsbilanzdefizit, Terroranschläge, Bilanzskandale, Verschuldung) bewusst werden.
Da sich Deutschland den zu erwartenden schwachen Märkten in den USA nicht vollständig entziehen kann, können die Einstiegsmöglichkeiten hier noch besser werden als jetzt. Während die Kanonen donnern, sollten Anleger also ruhig noch warten.
Rüdiger von Nitzsch und Olaf Stotz gehören dem Vorstand des Forschungsinstituts für Asset Management an der RWTH Aachen an.
© 2003 Financial Times Deutschland
URL des Artikels: www.ftd.de/bm/ga/1048711356953.html