Das Jahr Drei der Baisse übertrifft alles
Enttäuschte Erwartungen, ein tiefer Vertrauensverlust und Kriegsängste reißen die Börsen in ihren größten Abschwung seit den zwanziger Jahren. Da interessiert es wenig, ob Aktien über- oder unterbewertet sind. Öl, Gold und Anleihen profitieren von vielen Sorgen.
DÜSSELDORF. „Ein Boden ist gefunden. Angesichts der schlechten Börsenentwicklung wächst die Hoffnung, dass es nur noch besser werden kann. Der starke Optimismus aus den vergangenen Jahren ist aber verflogen.“ So lassen sich die Prognosen der Analysten zusammenfassen – allerdings nicht für 2003, sondern für das jetzt zu Ende gehende Jahr.
Vermeintlich noch so stabile Böden waren 2002 nicht tragfähig genug, um an den Börsen die Ertragseinbrüche der Unternehmen aufzufangen. Überkapazitäten, geringe Nachfrage und hohe Schulden zwingen zu Rationalisierungen und bremsen Innovationen, die Ende der neunziger Jahre einen Ertragsboom zur Folge hatten. Neue Tiefstände lösten aber vor allem die schwere Vertrauenskrise gegenüber Analysten mit ihren viel zu positiven Anlageurteilen sowie die Bilanzskandale bei den amerikanischen Unternehmen Enron und Worldcom aus. Das Ansehen der Börsen wurde nachhaltig beschädigt. Als auch noch Ängste vor einem Krieg im Irak aufkamen, büßten alle großen Indizes in der Welt prozentual zweistellig und kräftiger als in den vorangegangenen zwei Verlustjahren ein.
Gewinner: Öl und Euro
Wie schon 2000 und 2001 standen auch 2002 dieselben Anlagekategorien auf der Gewinner- und Verliererseite. Erstmals seit 1941 schlugen Staatsanleihen das dritte Jahr in Folge Aktien. Diese büßten gemeinsam mit Unternehmensanleihen ein. Letzteren gelang es immerhin, sich von der trüben Entwicklung an den Aktienmärkten abzukoppeln. Seitdem vor allem die gebeutelten Telekomfirmen den Fokus auf Konsolidierung und Schuldenabbau legen, erholen sich viele Anleihen.
Gewinner waren Öl – der Preis stieg auf Grund der Kriegsängste seit Jahresbeginn um 50 % –, der Euro – er profitierte von einem schwächeren Dollar und immer größeren ökonomischen Ungleichgewichten in den USA (Seite 39) – und Gold. Das Edelmetall legte nach einem Plus von 10 % im letzten Jahr weitere 25 % zu und notiert so hoch wie vor knapp sechs Jahren. Es profitierte in erster Linie von der Flucht vieler Anleger in eine vermeintlich sicherere Anlage, verbunden mit der Risikoscheu gegenüber Aktien.
Diese durchleiden ihre größte Baisse seit den zwanziger Jahren. Allein bei den 500 größten börsennotierten US-Unternehmen wurden 2002 mehr als 2 Bill. $ Anlegergeld vernichtet. Die verbliebenen 8 Bill. $ entsprechen 78 % des amerikanischen Bruttoinlandsprodukts (BIP) in diesem Jahr. In Deutschland sind die Relationen dramatischer: Der Deutsche Aktienindex (Dax) verlor 40 % an Anlagekapital. 300 Mrd. Euro wurden – zumindest vorübergehend – vernichtet. Die 30 größten deutschen Unternehmen sind nur noch 410 Mrd. Euro wert. Das macht 19 % des deutschen BIP aus. Auf dem Höhepunkt der Hausse im März 2000 waren die Firmen über 1 Bill. Euro oder mehr als 50 % des BIP wert.
Die Baisse nährt die Baisse
Die Börse geriet in eine Abwärtsspirale: Wegen der Verluste verkauften die Anleger, und es kam zu noch mehr Verlusten. In den USA ist das Vermögen der Privathaushalte jetzt so niedrig wie zuletzt 1995. Für die Hälfte des Rückgangs sind nach Angaben der US-Notenbank sinkende Aktienkurse verantwortlich. Ökonomen fürchten, dass ein Abschmelzen des Vermögens die Verbraucherausgaben, die zwei Drittel zur Wirtschaftskraft beitragen, künftig drosseln könnten. Geht das Szenario auf, dann nährt die Baisse sich selbst.
Das tat sie bereits in diesem Jahr. Die Sogwirkung der Devise „Raus aus Aktien!“ schlug sich dramatisch auf die Ergebnisse der Finanzhäuser nieder, die bis Ende der neunziger Jahre an Aktien kräftig verdient hatten. Im Herbst zogen immer mehr Versicherer die „Reißleine“: Sie sahen sich gezwungen, ihre Aktienbestände zu liquidieren, um die eigenen Bilanzen und Prämien der Versicherten nicht noch weiter zu gefährden. In einer wochenlang von Panik oder lähmendem Entsetzen gezeichneten Börse fiel der Dax am 9. Oktober bis auf 2 519, 30 Zähler. Erstmals in der Börsengeschichte notierte kein Dax- und M-Dax-Wert dreistellig. Über 70 % hatte das Börsenbarometer in zweieinhalb Jahren verloren. Als sich die Gerüchte um angebliche Banken-Pleiten in Deutschland überschlugen, holte die Finanzbranche, allen voran die Commerzbank, erfolgreich zum Gegenschlag aus und dementierte hartnäckig alle Spekulationen.
Trotz der anschließenden Erholung gehört der Dax unter allen Standardwerte-Indizes auf der Welt zu den größten Verlierern. Nur die Börsen in den wirtschaftspolitisch schwer gebeutelten Ländern Argentinien und Brasilien notieren etwas schwächer. Erstmals in der Geschichte beendet kein Dax-Titel das Jahr mit einem Gewinn. Selbst der viertbeste Wert, Altana, verliert mehr als 20 %. Fünf Aktien brechen um mehr als 50 % ein, Epcos und MLP sogar um mehr als 80 %.
Ursache für diese Misere ist die Zusammensetzung des Dax: Die vielen Banken und Technologie-Unternehmen litten stärker als traditionelle Firmen. Ölwerte, die anderen Indizes etwas Stabilität gaben, fehlen in Deutschland. Negativ wirkten auch die Verflechtungen der „Deutschland AG“: Finanzhäuser, die aus Sorge um ihre Bilanzen Aktien verkauften, warfen in erster Linie deutsche Titel auf den Markt – weil sie davon am meisten hatten. Diesen Schneeball-Effekt hielt niemand auf.
Ein paar nackte Zahlen machen Mut
Ausländische Großinvestoren machen um Deutschland einen immer größeren Bogen, wie Statistiken amerikanischer, britischer und japanischer Fonds zeigen. Sie verringern seit fünf Jahren den Anteil an deutschen Aktien ebenso kontinuierlich wie dramatisch. Die Gründe dafür waren spätestens im turbulenten Herbst auch außerhalb der Börse nicht mehr zu überhören: Deutschland vermittelt nach außen den Investoren ein schlechteres und verkrusteteres Bild als die übrigen Euro-Staaten.
Während der drohende Krieg im Irak die Börsen zum Jahresende erneut auf Talfahrt schickt, gibt es für das neue Jahr etwas Hoffnung. So erwarten Volkswirte – wie allerdings auch schon im letzten Jahr – einen Konjunkturaufschwung. An den Börsen stimmt die Statistik optimistisch, wonach der Dax noch nie vier Jahre hintereinander verloren hat. Dem Dow Jones war dies nur einmal, 1929 bis 1933, passiert.
Schließlich machen ein paar nackte Zahlen etwas Mut: Gemessen am Kurs-Gewinn-Verhältnis, an der Dividendenrendite und im Vergleich zu Staatsanleihen sind deutsche Aktien nach dem 60 %igen Fall gegenüber März 2000 so bewertet wie Ende der achtziger Jahre. Damals notierte der Dax knapp über 1 000 Punkte. Internet-Aktien gab es noch nicht.
Enttäuschte Erwartungen, ein tiefer Vertrauensverlust und Kriegsängste reißen die Börsen in ihren größten Abschwung seit den zwanziger Jahren. Da interessiert es wenig, ob Aktien über- oder unterbewertet sind. Öl, Gold und Anleihen profitieren von vielen Sorgen.
DÜSSELDORF. „Ein Boden ist gefunden. Angesichts der schlechten Börsenentwicklung wächst die Hoffnung, dass es nur noch besser werden kann. Der starke Optimismus aus den vergangenen Jahren ist aber verflogen.“ So lassen sich die Prognosen der Analysten zusammenfassen – allerdings nicht für 2003, sondern für das jetzt zu Ende gehende Jahr.
Vermeintlich noch so stabile Böden waren 2002 nicht tragfähig genug, um an den Börsen die Ertragseinbrüche der Unternehmen aufzufangen. Überkapazitäten, geringe Nachfrage und hohe Schulden zwingen zu Rationalisierungen und bremsen Innovationen, die Ende der neunziger Jahre einen Ertragsboom zur Folge hatten. Neue Tiefstände lösten aber vor allem die schwere Vertrauenskrise gegenüber Analysten mit ihren viel zu positiven Anlageurteilen sowie die Bilanzskandale bei den amerikanischen Unternehmen Enron und Worldcom aus. Das Ansehen der Börsen wurde nachhaltig beschädigt. Als auch noch Ängste vor einem Krieg im Irak aufkamen, büßten alle großen Indizes in der Welt prozentual zweistellig und kräftiger als in den vorangegangenen zwei Verlustjahren ein.
Gewinner: Öl und Euro
Wie schon 2000 und 2001 standen auch 2002 dieselben Anlagekategorien auf der Gewinner- und Verliererseite. Erstmals seit 1941 schlugen Staatsanleihen das dritte Jahr in Folge Aktien. Diese büßten gemeinsam mit Unternehmensanleihen ein. Letzteren gelang es immerhin, sich von der trüben Entwicklung an den Aktienmärkten abzukoppeln. Seitdem vor allem die gebeutelten Telekomfirmen den Fokus auf Konsolidierung und Schuldenabbau legen, erholen sich viele Anleihen.
Gewinner waren Öl – der Preis stieg auf Grund der Kriegsängste seit Jahresbeginn um 50 % –, der Euro – er profitierte von einem schwächeren Dollar und immer größeren ökonomischen Ungleichgewichten in den USA (Seite 39) – und Gold. Das Edelmetall legte nach einem Plus von 10 % im letzten Jahr weitere 25 % zu und notiert so hoch wie vor knapp sechs Jahren. Es profitierte in erster Linie von der Flucht vieler Anleger in eine vermeintlich sicherere Anlage, verbunden mit der Risikoscheu gegenüber Aktien.
Diese durchleiden ihre größte Baisse seit den zwanziger Jahren. Allein bei den 500 größten börsennotierten US-Unternehmen wurden 2002 mehr als 2 Bill. $ Anlegergeld vernichtet. Die verbliebenen 8 Bill. $ entsprechen 78 % des amerikanischen Bruttoinlandsprodukts (BIP) in diesem Jahr. In Deutschland sind die Relationen dramatischer: Der Deutsche Aktienindex (Dax) verlor 40 % an Anlagekapital. 300 Mrd. Euro wurden – zumindest vorübergehend – vernichtet. Die 30 größten deutschen Unternehmen sind nur noch 410 Mrd. Euro wert. Das macht 19 % des deutschen BIP aus. Auf dem Höhepunkt der Hausse im März 2000 waren die Firmen über 1 Bill. Euro oder mehr als 50 % des BIP wert.
Die Baisse nährt die Baisse
Die Börse geriet in eine Abwärtsspirale: Wegen der Verluste verkauften die Anleger, und es kam zu noch mehr Verlusten. In den USA ist das Vermögen der Privathaushalte jetzt so niedrig wie zuletzt 1995. Für die Hälfte des Rückgangs sind nach Angaben der US-Notenbank sinkende Aktienkurse verantwortlich. Ökonomen fürchten, dass ein Abschmelzen des Vermögens die Verbraucherausgaben, die zwei Drittel zur Wirtschaftskraft beitragen, künftig drosseln könnten. Geht das Szenario auf, dann nährt die Baisse sich selbst.
Das tat sie bereits in diesem Jahr. Die Sogwirkung der Devise „Raus aus Aktien!“ schlug sich dramatisch auf die Ergebnisse der Finanzhäuser nieder, die bis Ende der neunziger Jahre an Aktien kräftig verdient hatten. Im Herbst zogen immer mehr Versicherer die „Reißleine“: Sie sahen sich gezwungen, ihre Aktienbestände zu liquidieren, um die eigenen Bilanzen und Prämien der Versicherten nicht noch weiter zu gefährden. In einer wochenlang von Panik oder lähmendem Entsetzen gezeichneten Börse fiel der Dax am 9. Oktober bis auf 2 519, 30 Zähler. Erstmals in der Börsengeschichte notierte kein Dax- und M-Dax-Wert dreistellig. Über 70 % hatte das Börsenbarometer in zweieinhalb Jahren verloren. Als sich die Gerüchte um angebliche Banken-Pleiten in Deutschland überschlugen, holte die Finanzbranche, allen voran die Commerzbank, erfolgreich zum Gegenschlag aus und dementierte hartnäckig alle Spekulationen.
Trotz der anschließenden Erholung gehört der Dax unter allen Standardwerte-Indizes auf der Welt zu den größten Verlierern. Nur die Börsen in den wirtschaftspolitisch schwer gebeutelten Ländern Argentinien und Brasilien notieren etwas schwächer. Erstmals in der Geschichte beendet kein Dax-Titel das Jahr mit einem Gewinn. Selbst der viertbeste Wert, Altana, verliert mehr als 20 %. Fünf Aktien brechen um mehr als 50 % ein, Epcos und MLP sogar um mehr als 80 %.
Ursache für diese Misere ist die Zusammensetzung des Dax: Die vielen Banken und Technologie-Unternehmen litten stärker als traditionelle Firmen. Ölwerte, die anderen Indizes etwas Stabilität gaben, fehlen in Deutschland. Negativ wirkten auch die Verflechtungen der „Deutschland AG“: Finanzhäuser, die aus Sorge um ihre Bilanzen Aktien verkauften, warfen in erster Linie deutsche Titel auf den Markt – weil sie davon am meisten hatten. Diesen Schneeball-Effekt hielt niemand auf.
Ein paar nackte Zahlen machen Mut
Ausländische Großinvestoren machen um Deutschland einen immer größeren Bogen, wie Statistiken amerikanischer, britischer und japanischer Fonds zeigen. Sie verringern seit fünf Jahren den Anteil an deutschen Aktien ebenso kontinuierlich wie dramatisch. Die Gründe dafür waren spätestens im turbulenten Herbst auch außerhalb der Börse nicht mehr zu überhören: Deutschland vermittelt nach außen den Investoren ein schlechteres und verkrusteteres Bild als die übrigen Euro-Staaten.
Während der drohende Krieg im Irak die Börsen zum Jahresende erneut auf Talfahrt schickt, gibt es für das neue Jahr etwas Hoffnung. So erwarten Volkswirte – wie allerdings auch schon im letzten Jahr – einen Konjunkturaufschwung. An den Börsen stimmt die Statistik optimistisch, wonach der Dax noch nie vier Jahre hintereinander verloren hat. Dem Dow Jones war dies nur einmal, 1929 bis 1933, passiert.
Schließlich machen ein paar nackte Zahlen etwas Mut: Gemessen am Kurs-Gewinn-Verhältnis, an der Dividendenrendite und im Vergleich zu Staatsanleihen sind deutsche Aktien nach dem 60 %igen Fall gegenüber März 2000 so bewertet wie Ende der achtziger Jahre. Damals notierte der Dax knapp über 1 000 Punkte. Internet-Aktien gab es noch nicht.