Zitat Nr. 43: 5. August 2002
Altbundeskanzler Helmut Schmidt über den amerikanischen Raubtierkapitalismus
... Die europäischen Regierungen wären klug beraten, wenn sie die heutige amerikanische Entschlossenheit zum Alleingang als Tatsache ansähen und sich darauf einrichteten, dass der Unilateralismus auf lange Sicht, möglicherweise auf Jahrzehnte, in Washington die Oberhand behalten wird. Zwar sind weder die isolationistischen noch die internationalistischen Kräfte innerhalb der amerikanischen Gesellschaft untergegangen. Jedoch wird die voraussichtlich lange Dauer des islamistischen Terrorismus die imperiale Phase ausdehnen; vor allem wird wahrscheinlich das Hochgefühl uneingeschränkter Macht entscheidend zur Fortsetzung des Unilateralismus beitragen. Schon heute hört man Amerikaner ihr Land mit dem Weltreich des klassischen Rom vergleichen, dabei weisen sie ganz Europa die provinzielle Rolle Athens zu, wohin die römischen Patrizier ihre Söhne schickten, um Rhetorik und Philosophie zu studieren. Weil es noch lange dauern wird, bis die Europäische Union eine umfassende Handlungsfähigkeit nach außen erreicht, werden die Europäer sich mit diesem Zustand abfinden müssen. Allenfalls werden sie punktuell dann erfolgreich eingreifen können, wenn sie sich im Einzelfall zu gemeinsamem Handeln aufraffen.
Die Europäer haben es allerdings keineswegs nötig, sich selbst zu Instrumenten amerikanischer Weltpolizei zu machen oder machen zu lassen. Sie sind 1999 auf dem Gipfel zum fünfzigjährigen Jubiläum der Allianz mit der Ausrufung einer "neuen Nato" und mit ihren Reden über neue Verantwortungen schon viel zu weit gegangen. Gegen welchen Feind sollte sich die neue Nato richten? Etwa gegen alle sechs oder sieben der damals noch so genannten Schurkenstaaten? Oder hatten die versammelten Regierungschefs neue friedenschaffende militärische Interventionen außerhalb Europas im Sinn - à la Balkan oder à la Somalia oder Ruanda oder Timor? Oder à la Desert Storm im Irak?
Gegenwärtig bereitet sich Washington militärisch und logistisch auf einen abermaligen Krieg gegen den Irak vor. Ob und wann der Entschluss dazu tatsächlich gefasst werden wird, steht dahin. Auch ist offen, ob George Bush junior dazu, wie seinerzeit sein Vater, einen Beschluss des Sicherheitsrates der UN für nötig hält. Die amerikanische Öffentlichkeit wird heute zunehmend auf präventive Kriegsführung eingestimmt. Sogar vom Erstschlag mit nuklearen Waffen ist die Rede. Unklar ist, wie man sich die anschließende innenpolitische Situation im Irak oder in Saudi-Arabien vorstellt, im Libanon, in den von zwanzig Millionen Kurden bewohnten Teilen des Irak und der Türkei, in Israel, im Westjordanland und in Gaza - und wie Washington damit umgehen will.
Es gibt einige Einsichten, vor denen Washington die Augen nicht verschließen sollte:
1) Ein Krieg gegen den Irak kann zwar die beiden Risiken der Unberechenbarkeit des Machthabers Saddam Hussein und der irakischen Verfügung über Massenvernichtungswaffen beseitigen. Der Krieg kann aber nicht den vielfältigen islamistischen Terrorismus auslöschen, dieser würde vermutlich im Gegenteil von einem amerikanisch-irakischen Krieg eher noch angestachelt werden.
2) Die heterogenen islamistischen Terrorismen haben in manchen der über sechzig islamisch geprägten Staaten geheimen Unterschlupf gefunden. Sie werden erheblich aus einigen reich gewordenen Opec-Staaten finanziert. Neben mehreren religiös-fanatischen geistlichen Führern und Missionszentren spielt in den arabischen Staaten die Solidarisierung mit den Palästinensern eine entscheidende Rolle. Auf dem Nährboden der Armut, zumal in den übervölkerten Städten, bedroht der Extremismus fast überall den inneren Frieden und die Regierungen, die durch die einseitig proisraelische Politik der USA in Bedrängnis geraten. Ihnen kann nur durch eine weitsichtige Politik und finanzielle Unterstützung, nicht durch Raketenschläge geholfen werden.
3) Die USA besitzen im Mittleren Osten eine singuläre Einflussposition, nur sie können dort für Ordnung und Frieden sorgen; sie haben gute Beziehungen zu Israel, zu Saudi-Arabien, Ägypten und zur Türkei und verfügen außerdem in der Region über einzigartige militärische und finanzielle Hebel. Jedoch ist die Politik Washingtons gegenüber der komplexen Problematik im Mittleren Osten seit Jahrzehnten inkonsistent und ohne eindeutiges Ziel - und zwar weitgehend aus innenpolitischen Gründen. Solange es dabei bleibt, wird niemand sonst im Mittleren Osten eine friedliche Ordnung herstellen können.
4) Ein amerikanischer nuklearer Ersteinsatz - gegen wen auch immer - wäre eine globale Umwälzung der bisher von den USA, von allen Nato-Partnern und von Russland einvernehmlich verfolgten Nuklearstrategie der Nonproliferation. Er würde zugleich ein gefährliches Präjudiz für die anderen sieben Staaten, die heute über Nuklearwaffen verfügen.
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... Wir Europäer sollten aus Gründen der gemeinsamen Geschichte und der einander verwandten Kultur die Freundschaft und das Bündnis mit Amerika pflegen. Das muss uns nicht hindern zu erkennen, dass wir kein Interesse am Ausbau der amerikanischen Tendenz zum Alleingang oder gar zum Imperialismus haben. Wir müssen keineswegs jedweder außenpolitischen Wendung der USA folgen, so auch nicht dem Druck, künftig wieder mehr Geld für Rüstung auszugeben. Wir haben guten Grund, keineswegs den Beispielen der sehr hohen und täglich wachsenden Auslandsverschuldung der US-Wirtschaft oder der wachsenden Staatsverschuldung Amerikas oder den erschreckenden Auswüchsen des amerikanischen Raubtierkapitalismus zu folgen.
Die Textauszüge stammen aus einem längeren Beitrag, den Altbundeskanzler Helmut Schmidt am 1. August in der Wochenzeitung DIE ZEIT, zu deren Herausgebern er auch gehört, veröffentlichte. Der Beitrag stand unter dem Titel "Europa braucht keinen Vormund" und befasst sich insgesamt mit der wechselhaften Geschichte der US-Außenpolitik in den letzten 150 Jahren und der Rolle, welche die europäischen Staaten spielen sollten.
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