Aus der FTD vom 1.8.2002
Schröder steckt Wahlziel zurück
Von Tina Stadlmayer und Maike Rademaker, Berlin
Bundeskanzler Gerhard Schröder hat das Wahlziel seiner SPD zurückgesteckt. Damit fachte er Spekulationen über andere Koalitionen als Rot-Grün an.
"Unser Ziel ist, dass wir stärkste Partei werden und dass gegen die SPD keine Regierung gebildet wird", sagte Schröder am Mittwoch vor Journalisten in Berlin. Bislang hatte die SPD-Spitze stets das Ziel genannt, die rot-grüne Koalition fortzusetzen. Doch nun erwähnte Schröder die Option Rot-Grün überhaupt nicht mehr, die nach aktuellen Umfragen auch unmöglich erscheint.
Das zweite von Schröder genannte Teilziel - keine Regierung gegen die SPD - ist bescheiden: Es ließe sich sogar dann verwirklichen, wenn die Union stärkste Kraft würde, wie alle Umfragen es voraussagen. Die SPD könnte in der Regierung bleiben, wenn es statt eines Bündnisses von Union und FDP eine große Koalition von SPD und Union oder eine Ampelkoalition mit SPD, FDP und Grünen geben würde.
Bislang hat die SPD-Spitze ein solches Drei-Parteien-Bündnis als unerwünscht, unpraktikabel und wenig stabil bezeichnet. Inzwischen halten führende Sozialdemokraten eine "Ampel" aus SPD, FDP und Grünen dagegen für machbar.
Schröder selber öffnet mit seinen Bemerkungen Tür und Tor für Spekulationen über andere Koalitionen nach der Bundestagswahl am 22.September.
Provokation für die Grünen
Bisher wollten er und SPD-Generalsekretär Franz Müntefering solche Spekulationen unbedingt vermeiden. Noch vor zwei Monaten wurde der damalige brandenburgische Ministerpräsident Manfred Stolpe von Schröder zurückgepfiffen, als er eine große Koalition als möglich bezeichnete. Die schlechten Umfragewerte zwingen die SPD nun zu mehr Realismus.
Die Bereitschaft der SPD-Führung, andere Bündnisse als das rot-grüne anzupeilen, ist für die Grünen eine Provokation, die zu einem Schwenk in ihrem Wahlkampf führen könnte. Für den Notfall hat die Grünen-Führung sich auf einen Wahlkampf gegen eine große Koalition vorbereitet.
Wahlkampfschlager "Hartz" droht auszufallen
Schröders neue Bescheidenheit beim Wahlziel ist nicht nur die Folge der verschlechterten Umfragewerte für die SPD. Sie ist auch eine Reaktion darauf, dass die Hartz-Kommission zur Reform des Arbeitsmarktes als politischer Trumpf für die heiße Wahlkampfphase auszufallen droht. "Ich glaube nicht mehr, dass es einen einheitlichen Bericht geben wird", sagte Isolde Kunkel-Weber aus dem Vorstand der Gewerkschaft Verdi am Mittwoch nach einer Sitzung der Kommission in Berlin.
Erst vor wenigen Tagen hatte Schröder an die Kommission appelliert, sich zu einigen. Nur wenn Gewerkschaften und Arbeitgeber einen Konsens finden, kann der Kanzler mit den Hartz-Vorschlägen punkten.
Doch mit der Sitzung am Mittwoch schwinden diese Chancen. Auch Kommissionsmitglied Heinz Fischer, Personalvorstand der Deutschen Bank, äußerte sich enttäuscht, weil es zum Thema Leistungskürzungen bei Arbeitslosen erneut keine Einigung gab. Trotz dieser Differenzen wurde laut Kommissionsleiter Peter Hartz ein erster Reformentwurf als "Rohdiamant" vorgelegt.
Die Kommission reibt sich an der Frage auf, inwieweit Arbeitslose individuell oder generell Leistungskürzungen hinnehmen sollen. "Mir schien, dass das Fass in dieser Sitzung neu aufgemacht wurde", sagte Kunkel-Weber.
Die Verhärtung dürfte auch auf die jüngste Intervention der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände zurückzuführen sein. Ihr Präsident Dieter Hundt hatte am Montag generelle Leistungskürzungen gefordert und gedroht, andernfalls das Konzept nicht mitzutragen.
Schröder setzt auf den Schlussspurt
Schröder sagte am Mittwoch, die SPD habe ihr Wählerpotenzial noch nicht ausgeschöpft. Die meisten Wähler würden ihre Entscheidung in den letzten vier Wochen vor der Wahl treffen: "Es kommt jetzt alles auf die Endphase des Wahlkampfs an, da wird es eine starke Personalisierung geben." Immerhin liege er laut ZDF-Politbarometer bei der Frage, wen die Leute als Kanzler haben wollten, sieben Prozentpunkte vor Stoiber: "Wenn das Wahlergebnis auch so aussieht, bin ich zufrieden", witzelte der Kanzler.
Es sei richtig gewesen, den Startschuss für die heiße Phase des Wahlkampfs vorzuziehen, bekräftigte der SPD-Chef. Dies diene vor allem der Motivation der Wahlkämpfer vor Ort: "Je schlechter die Umfragen sind, desto wichtiger ist es zu sagen: Jetzt geht’s los."
© 2002 Financial Times Deutschland
Quelle: www.ftd.de/sp/ak/1027868056939.html?nv=hptn