Um den Täter kümmert man sich, aber das Opfer? Wie üblich in Deutschland! boomer
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Unsere Sophia hat ihre Kindheit verloren"
WELT am SONNTAG sprach mit Karin W., deren Tochter Sophia vier Tage in der Gewalt eines Sexualtäters war
Von Heike Vowinkel
Julia aus Biebertal ist tot. Soeben lief die Nachricht im Radio. Karin W., 35, hat sie gehört und nun sind die Magenschmerzen wieder da. Und die Angst, "die niemand nachvollziehen kann, der es nicht selbst durchlitten hat". Karin W. hat es durchlitten, vier Tage lang, vor sechs Monaten. Am 4. Januar wurde ihre jüngste Tochter, die neunjährige Sophia, auf dem Heimweg vom Kinderhort im Berliner Stadtteil Marzahn entführt.
Der 36-jährige Berto B., gelernter Schlosser, hatte Sophia 80 Meter vor ihrem Elternhaus aufgelauert, in seinen grünen BMW gezerrt und sie in seiner Ein-Zimmer-Wohnung im nahen Stadtteil Hellersdorf vier Tage festgehalten. Mehrere Male versuchte er sie zu vergewaltigen. Vier Tage später ließ er sie frei.
Ein glückliches Ende - und doch ist seitdem nichts, wie es früher war. Berto B. ist gefasst. Im Oktober steht er vor Gericht. Für den Täter wird sich die Öffentlichkeit weiter interessieren. An seinem Schicksal wird Anteil genommen. Doch was ist mit den Opfern? Ihren Familien? Wie geht deren Leben danach weiter?
"Nichts ist so, wie es früher war", sagt Karin W. Dabei hat sie jetzt, mit dem Abstand eines halben Jahres, fast das Gefühl, dass sie es schaffen - ihr Mann André, ein Hauptkommissar mit dem sie seit sechs Jahren zusammenlebt, die ältere Tochter Nicki, 14, und eben Sophia. Es gab Zeiten, da zweifelte Karin W. daran.
Erst war nur Euphorie: Sophia lebte, war äußerlich unverletzt. "Ich konnte es gar nicht glauben. Vier Tage der Verzweiflung, ein Albtraum, den man wie in Trance durchlebt, dann die erlösende Nachricht." Stundenlang wurde Sophia vernommen. Als sie am Nachmittag endlich nach Hause durfte, feierte die Familie mit Freunden und Verwandten. Doch bald kam die Ernüchterung.
Sophia war anders, ruhiger, in sich gekehrt. "Zuerst stand sie wohl noch unter Schock." Unverständlich war Karin W. damals das teilweise unsensible Verhalten der Polizeibeamten. Zwar war bei den Vernehmungen eine Psychologin zugegen, doch sie selbst durfte nicht dabei sein. Erst am dritten Tag nach Sophias Rückkehr konnte sie durchsetzen, dass die Vernehmung zu Hause im vertrauten Umfeld stattfand.
Sophia konnte sich an viele Details erinnern: An das wellige, dunkle Haar des Mannes, seinen Vollbart, den Plattenbau, in dem er sie festhielt, den roten Rahmen am Hauseingang ... Doch nur zögerlich erzählte sie ihrer Mutter auch von dem, was hinter der gelben Tür der Ein-Zimmer-Wohnung geschehen war. Von der Angst, die sie hatte, als er ihr mit einem Messer drohte, falls sie nicht täte, was er wollte. Davon, dass er ihr Essen kochte, sie fernsehen ließ und ihr sagte, wie süß sie sei und dass er mit ihr in Urlaub fahren wolle. Und schließlich erzählte sie auch, dass sie sich nachts zu ihm ins Bett legen musste, dass er mehrmals versuchte sie zu vergewaltigen, sie sich wehrte und weinte.
Hass kam in Karin W. damals hoch, und manchmal noch heute. "Wenn ich in den Protokollen lese, wie zuvorkommend er behandelt wird, wie man sich um ihn kümmert, bin ich einfach nur wütend." Um Sophia und ihre Familie kümmerte sich nach den Vernehmungen hingegen niemand mehr. Eine Adresse vom Weißen Ring bekamen sie noch genannt. Das war's.
Die Psychologen, bei denen die Familie zunächst gemeinsam eine Therapie machte, dann nur noch Karin W. und Sophia, mussten sie sich selbst suchen. Sophia kann seit jenen Tagen im Januar nur noch schlecht einschlafen, allein sowieso nicht, sie leidet unter Albträumen. "Sophia hat ihre Kindheit verloren. Und ich habe Angst, dass sie nie über das Erlebte hinwegkommt."
Fünf Monate lang war auch Karin W. krank geschrieben. "Ich konnte nicht mehr schlafen, litt unter Rücken-, Magen-, Kieferschmerzen. Sophias Schwester Nicki bekam eine Lungenentzündung. Es war, als brächen unsere Körper nach der Anspannung einfach zusammen."
An Ostern fuhr die Familie dann für zwei Wochen nach Spanien. "Ich hatte erst schreckliche Angst, dass fremde Menschen, ein fremder Ort uns nicht gut täte. Doch es war genau das Richtige." Nach dem Urlaub hatte die Familie das erste Mal wieder das Gefühl, Alltag leben zu können. Sophia ging wieder in die Schule. "Die ersten Tage bin ich mitgegangen, weil ich dachte, ich könnte sie nie mehr irgendwo allein lassen."
Heute arbeitet Karin W. zwar wieder, doch nur noch drei statt fünf Tage in der Woche. Morgens wird Sophia zur Schule gebracht, am Nachmittag vom Hort abgeholt. "Wir lassen sie nirgendwo mehr allein hingehen." Natürlich sei Sophia das langsam auch lästig. "Aber ich würde es anders nicht ertragen."
Doch am Schlimmsten seien im Moment die Nachrichten. Meldungen von vermissten Kindern - erst Ulrike, dann Peggy, Adelina und schließlich Julia. Als verschwänden seit jenen vier Tagen im Januar immer mehr Kinder. "Warum werden Sexualstraftäter überhaupt wieder freigelassen?", fragt sich Karin W. dann. Sophia versucht sie, von den Meldungen fernzuhalten. "Aber das geht bei einer Neunjährigen nicht. Tagelang fragt sie nach, ob das Kind gefunden, der Täter endlich gefasst ist", erzählt Karin W. Alles komme wieder hoch. In den Momenten hat Karin W. das Gefühl, zu lebenslänglicher Angst verdammt zu sein.
www.welt.de/daten/2001/07/08/0708pg266264.htx
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Unsere Sophia hat ihre Kindheit verloren"
WELT am SONNTAG sprach mit Karin W., deren Tochter Sophia vier Tage in der Gewalt eines Sexualtäters war
Von Heike Vowinkel
Julia aus Biebertal ist tot. Soeben lief die Nachricht im Radio. Karin W., 35, hat sie gehört und nun sind die Magenschmerzen wieder da. Und die Angst, "die niemand nachvollziehen kann, der es nicht selbst durchlitten hat". Karin W. hat es durchlitten, vier Tage lang, vor sechs Monaten. Am 4. Januar wurde ihre jüngste Tochter, die neunjährige Sophia, auf dem Heimweg vom Kinderhort im Berliner Stadtteil Marzahn entführt.
Der 36-jährige Berto B., gelernter Schlosser, hatte Sophia 80 Meter vor ihrem Elternhaus aufgelauert, in seinen grünen BMW gezerrt und sie in seiner Ein-Zimmer-Wohnung im nahen Stadtteil Hellersdorf vier Tage festgehalten. Mehrere Male versuchte er sie zu vergewaltigen. Vier Tage später ließ er sie frei.
Ein glückliches Ende - und doch ist seitdem nichts, wie es früher war. Berto B. ist gefasst. Im Oktober steht er vor Gericht. Für den Täter wird sich die Öffentlichkeit weiter interessieren. An seinem Schicksal wird Anteil genommen. Doch was ist mit den Opfern? Ihren Familien? Wie geht deren Leben danach weiter?
"Nichts ist so, wie es früher war", sagt Karin W. Dabei hat sie jetzt, mit dem Abstand eines halben Jahres, fast das Gefühl, dass sie es schaffen - ihr Mann André, ein Hauptkommissar mit dem sie seit sechs Jahren zusammenlebt, die ältere Tochter Nicki, 14, und eben Sophia. Es gab Zeiten, da zweifelte Karin W. daran.
Erst war nur Euphorie: Sophia lebte, war äußerlich unverletzt. "Ich konnte es gar nicht glauben. Vier Tage der Verzweiflung, ein Albtraum, den man wie in Trance durchlebt, dann die erlösende Nachricht." Stundenlang wurde Sophia vernommen. Als sie am Nachmittag endlich nach Hause durfte, feierte die Familie mit Freunden und Verwandten. Doch bald kam die Ernüchterung.
Sophia war anders, ruhiger, in sich gekehrt. "Zuerst stand sie wohl noch unter Schock." Unverständlich war Karin W. damals das teilweise unsensible Verhalten der Polizeibeamten. Zwar war bei den Vernehmungen eine Psychologin zugegen, doch sie selbst durfte nicht dabei sein. Erst am dritten Tag nach Sophias Rückkehr konnte sie durchsetzen, dass die Vernehmung zu Hause im vertrauten Umfeld stattfand.
Sophia konnte sich an viele Details erinnern: An das wellige, dunkle Haar des Mannes, seinen Vollbart, den Plattenbau, in dem er sie festhielt, den roten Rahmen am Hauseingang ... Doch nur zögerlich erzählte sie ihrer Mutter auch von dem, was hinter der gelben Tür der Ein-Zimmer-Wohnung geschehen war. Von der Angst, die sie hatte, als er ihr mit einem Messer drohte, falls sie nicht täte, was er wollte. Davon, dass er ihr Essen kochte, sie fernsehen ließ und ihr sagte, wie süß sie sei und dass er mit ihr in Urlaub fahren wolle. Und schließlich erzählte sie auch, dass sie sich nachts zu ihm ins Bett legen musste, dass er mehrmals versuchte sie zu vergewaltigen, sie sich wehrte und weinte.
Hass kam in Karin W. damals hoch, und manchmal noch heute. "Wenn ich in den Protokollen lese, wie zuvorkommend er behandelt wird, wie man sich um ihn kümmert, bin ich einfach nur wütend." Um Sophia und ihre Familie kümmerte sich nach den Vernehmungen hingegen niemand mehr. Eine Adresse vom Weißen Ring bekamen sie noch genannt. Das war's.
Die Psychologen, bei denen die Familie zunächst gemeinsam eine Therapie machte, dann nur noch Karin W. und Sophia, mussten sie sich selbst suchen. Sophia kann seit jenen Tagen im Januar nur noch schlecht einschlafen, allein sowieso nicht, sie leidet unter Albträumen. "Sophia hat ihre Kindheit verloren. Und ich habe Angst, dass sie nie über das Erlebte hinwegkommt."
Fünf Monate lang war auch Karin W. krank geschrieben. "Ich konnte nicht mehr schlafen, litt unter Rücken-, Magen-, Kieferschmerzen. Sophias Schwester Nicki bekam eine Lungenentzündung. Es war, als brächen unsere Körper nach der Anspannung einfach zusammen."
An Ostern fuhr die Familie dann für zwei Wochen nach Spanien. "Ich hatte erst schreckliche Angst, dass fremde Menschen, ein fremder Ort uns nicht gut täte. Doch es war genau das Richtige." Nach dem Urlaub hatte die Familie das erste Mal wieder das Gefühl, Alltag leben zu können. Sophia ging wieder in die Schule. "Die ersten Tage bin ich mitgegangen, weil ich dachte, ich könnte sie nie mehr irgendwo allein lassen."
Heute arbeitet Karin W. zwar wieder, doch nur noch drei statt fünf Tage in der Woche. Morgens wird Sophia zur Schule gebracht, am Nachmittag vom Hort abgeholt. "Wir lassen sie nirgendwo mehr allein hingehen." Natürlich sei Sophia das langsam auch lästig. "Aber ich würde es anders nicht ertragen."
Doch am Schlimmsten seien im Moment die Nachrichten. Meldungen von vermissten Kindern - erst Ulrike, dann Peggy, Adelina und schließlich Julia. Als verschwänden seit jenen vier Tagen im Januar immer mehr Kinder. "Warum werden Sexualstraftäter überhaupt wieder freigelassen?", fragt sich Karin W. dann. Sophia versucht sie, von den Meldungen fernzuhalten. "Aber das geht bei einer Neunjährigen nicht. Tagelang fragt sie nach, ob das Kind gefunden, der Täter endlich gefasst ist", erzählt Karin W. Alles komme wieder hoch. In den Momenten hat Karin W. das Gefühl, zu lebenslänglicher Angst verdammt zu sein.
www.welt.de/daten/2001/07/08/0708pg266264.htx