sehr schöner artikel zum feierabend...
SER Systems:Das Leben nach dem Neuen Markt
Die Firma pleite, der Ex-Chef flüchtig, Gerüchte um Mord und Totschlag. Wie es in Neustadt an der Wied, dem Firmensitz der Skandalfirma, weitergeht
Die Pleite von SER und Gerüchte um den angeblich gewaltsamen Tod eines
Mitarbeiters hinterlassen Spuren in Neustadt an der Wied. Die Bevölkerung konnte Aufstieg und Fall der Firma hautnah miterleben. Jetzt hoffen die 265
Mitarbeiter auf den Erhalt ihrer Arbeitsplätze.
Um Gottes willen, sein Name tue nichts zur Sache. "Nennen Sie mich
Willi Müller, wenn Sie wollen." Ein wenig verloren steht der 74-jährige
Rentner auf der Fußgängerbrücke über der Autobahn A3. Der Lärm der Autobahn ist ohrenbetäubend. Der ICE, der hier auf der neuen Hochgeschwindigkeits-Trasse Frankfurt-Köln mit 300 Sachen vorbeirauscht, ist da kaum noch zu hören.
Willi Müller sorgt sich um seinen Nachtschlaf. Die Autobahndirektion hat den Anwohnern nur eine billige Lärmschutzwand zugestanden. Und ihm wollen sie erzählen, dass die den Krach genauso abhält wie ein richtiger Wall mit Bäumen und Sträuchern. "Alles Lug und Trug", flüstert der untersetzte Mann mit dem schlohweißen Haar. "Genau wie bei denen da drüben." Er deutet auf die überdimensionale Werbetafel von SER Systems an der A3-Ausfahrt Neustadt/Wied. "Größenwahn", platzt es aus ihm heraus, "einfach Größenwahn."
"Die da drüben" sitzen im Innovationspark Rahms, knapp zwei Kilometer von der Autobahn-Abfahrt entfernt. Auch das Wort Innovationspark ist eine Nummer zu groß: Er besteht eigentlich nur aus dem Glaspalast von SER und ein paar darum herum drapierten firmeneigenen Flachdach-Bauten.
Ruhig sei es geworden in den vergangenen Wochen, dort oben in Rahms, sagt
Bürgermeister Siegfried Schmied von der Verbandsgemeinde Asbach, von der aus Neustadt an der Wied verwaltet wird. Verdächtig ruhig sogar. Noch keine zwei Jahre ist es her, da war der Bundeskanzler hier. Mit dem rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten Kurt Beck im Schlepptau, um das neue SER-Wissenszentrum einzuweihen. Rührselige Fotos erinnern an die goldenen Zeiten: Da ist zu sehen, wie Gerhard Schröder und der damals siebenjährige Imad, Adoptivsohn von Firmengründer Gert J. Reinhardt, das Band durchschneiden und unter dem Applaus von 300 Ehrengästen die neue SER-Academy ihrer Bestimmung übergeben.
Eine Szene mit Symbolcharakter. Das Band zwischen den Reinhardts und der Bevölkerung von Neustadt ist inzwischen ebenfalls zerschnitten. In der 7000-Seelen-Gemeinde im Westerwald will niemand mehr etwas zu tun haben mit dem Mann, der so plötzlich verschwand, wie er gekommen war. Nicht einmal bei SER selbst. Zu früheren Vorständen äußere man sich nicht, sagt Firmensprecherin Bärbel Heuser-Roth.
Noch keine zwei Monate ist es her, als der Staatsanwalt hier war: Mit 50 Polizeibeamten im Schlepptau, um die Firmenzentrale und die Wohnungen von 14 leitenden SER-Mitarbeitern zu durchsuchen. Was zwischen den beiden Staatsbesuchen in Rahms passierte, riecht nach einem der spektakulärsten Fälle von Wirtschaftskriminalität am Neuen Markt. Für Erika Cebulla, Sprecherin der Schutzgemeinschaft der Kleinaktionäre (SdK), sind die Machenschaften des ehemaligen SER-Chefs Reinhardt sogar "das Schlimmste, was mir in meiner 20-jährigen Tätigkeit untergekommen ist".
Wenn sich die Vorwürfe der Aktionärsschützer nur halbwegs bestätigen, haben Reinhardt und einige seiner Ex-Vorstandskollegen die Firma regelrecht ausgeplündert. So soll das Management Software-Rechte im Wert von mindestens 67 Millionen Euro zum Freundschaftspreis von 20 Millionen Euro an die US-Firma KES Acquisitions verkauft haben - obwohl das Landgericht Koblenz dies per Einstweiliger Verfügung untersagt hatte. Rein zufällig gehört dieses Unternehmen dem ehemaligen SER-Vorstandsmitglied Carl E. Mergele. Und rein zufällig fand sich kein anderer Interessent so schnell und spontan bereit, die Sahnestücke des ausblutenden Software-Imperiums zu übernehmen - angeblich.
Die Pleite von SER Ende 2001 hätte abgewendet werden können. "Einer unserer Kunden hatte ein konkretes Übernahme-Angebot vorgelegt", erklärt Reinhold Kaiser, Chef der Firma IPO Partner Consult im hessischen Schlangenbad. Die Verhandlungen scheiterten jedoch. Reinhardt sollte persönlich haften, falls er Risiken verschweigt. Das lehnte der SER-Boss ab.
Wörtlich habe Reinhardt gesagt: "Das kostet mich unter Umständen mehr, als es mir bringt", berichtet Kaiser. Davon erwähnte Reinhardt freilich nichts, als er sich auf einer außerordentlichen Hauptversammlung im April 2002 die Genehmigung besorgte, die Filetstücke des Unternehmens seinem Intimus Mergele zuzuschanzen. Mit dem Verkauf von Teilen der SER-Gruppe sei ein höherer Erlös zu erzielen
gewesen als durch eine Veräußerung des gesamten Unternehmens, rechnete
er den Aktionären vor. Worüber Reinhardt ebenfalls keine Silbe verlor:
Die Verträge sahen vor, dass die Mergele-Firma KES erst im Dezember 2002 bezahlen muss - viel zu spät, um die Pleite noch verhindern zu können.
Kaum war der Deal unter Dach und Fach, legte Reinhardt sein Amt als SER-Vorstands-Chef nieder und setzte sich ins Ausland ab. Offiziell hat er sich auf seinen Landsitz in der englischen Grafschaft Devon zurückgezogen. Kenner der Szene vermuten allerdings, dass er in den USA gemeinsam mit Mergele aus den verhökerten Sahnestücken von SER ein neues Unternehmen aufbauen will. IPO-Consult-Chef Kaiser: "Durch die Blume hat er schon im Dezember 2001 gesagt, dass er SER aushöhlen und unter dem Dach einer US-Tochter eine neue Gesellschaft gründen will." Immer wieder habe Reinhardt erklärt, es ziehe ihn in die USA, die Deutschen verstünden ihn einfach nicht.
In Neustadt an der Wied liegt derweil das Reinhardt-Anwesen einsam und
verlassen da. Der Zugang zu dem schmucken, aber keineswegs protzigen
Einfamilienhaus ist offen: keine hohen Mauern, kein Stacheldrahtzaun, keine "Warnung vor dem Hund". Im Prinzip könnte hier jeder einfach reinspazieren. Ungewöhnlich ungesichert für das Domizil, in dem der Chef des
einst fünftgrößten deutschen Software-Unternehmens wohnte.
Ob Reinhardt fliehen musste, weil er sich von gefrusteten Aktionären bedroht fühlte? Das glaubt niemand hier in Neustadt. Eher umgekehrt: Zu imposant war die Erscheinung Reinhardts, als dass einer gewagt hätte, ihm am Zeug zu flicken. "Allerdings", weiß die Wirtin des Westerwälder Hofs, "liefen hier einige durch den Ort, die überall herumposaunten, sie kämen gar nicht mehr zu ihrer normalen Arbeit, weil sie sich um ihre Aktien kümmern müssen."
Ein Blick zurück. Die SER-Aktie hat seit ihrem Hoch bei 74 Euro mehr als 99 Prozent verloren. Beim derzeitigen Kurs von fünf Cent können selbst diejenigen, die beim Börsengang zum Ausgabekurs von 4,35 Euro eine Zuteilung bekamen, von Totalverlust reden. Im Nachhinein gesehen war der Einstiegszeitpunkt egal: ob 99,0 oder 99,9 Prozent Verlust - das Geld ist weg.
Dass die geprellten Anleger eine Mordswut auf Reinhardt haben, ist verständlich. Doch verhalten sich alle mucksmäuschenstill. Die Berichte über den Tod eines SER-Mitarbeiters, der Einblick in das grausige Zahlenwerk des Firmenkonglomerats hatte (149 Millionen Euro Umsatz, 163 Millionen Euro Verlust), haben ihre Wirkung nicht verfehlt. "Den knall ich ab", soll Reinhardt bei einem seiner berüchtigten Wutausbrüche gebrüllt haben. Nach Polizei-Angaben ist der Mann eines natürlichen Todes gestorben: an Herzinfarkt. Doch die Gerüchteküche brodelt, auch wenn an der Mordtheorie nichts dran ist und gegen den damaligen SER-Chef bisher kein Haftbefehl vorliegt.
Neustadt ist eingeschüchtert. Die Angestellten am Schalter der Sparkasse verschlucken sich fast vor lauter "Dazu können wir keine Auskunft geben". Ob Herr Reinhardt hin und wieder persönlich in der Filiale vorbeigekommen sei? "Bankgeheimnis, Datenschutz." Irgendwie scheint aber - Datenschutz hin oder her - durchgesickert zu sein, dass die Sparkasse Neuwied und die Raiffeisenbank Asbach-Neustadt die ersten Gläubigerbanken waren, die SER, im Neustädter Volksjargon kurz Ser gesprochen, den Geldhahn zugedreht haben.
Ein ortsansässiger Geschäftsmann, dem die Leute nachsagen, er habe einen Haufen Geld mit SER-Aktien verloren, will Reinhardt kaum gekannt haben. Der habe ohnehin wenig Kontakt zur Bevölkerung geflegt. Auch die Verkäuferinnen beim benachbarten Metzger, im Blumenladen und im Getränkemarkt brechen die Mauer des Schweigens nicht. Alle arbeiten erst seit wenigen Wochen in Neustadt und wissen schon deshalb gar nichts. Komischer Zufall. Selbst ehemalige Geschäftspartner geben sich zugeknöpft. So wie Stephan Schilling, Chef der Dortmunder Comline AG, die SER die Tochter Quantum abkaufte. Brancheninsider berichten von "erheblichen bilanziellen Risiken", die mitverkauft wurden. Diese führten dazu, dass Quantum erst mal mit großem Aufwand saniert werden musste, um lebensfähig zu bleiben. Aber dazu will Schilling nichts sagen. Über den Deal sei Stillschweigen vereinbart worden.
Nico Lemmens, einst Finanzchef bei SER und heute Vorstandsvorsitzender von Tiscon in Neu-Ulm, beharrt auf der offiziellen Mitteilung, wonach man sich "einvernehmlich getrennt" habe. Den Rest überlasse er der Interpretation des Marktes. Nein, bei einem Unternehmen, bei dem er nichts bewegen könne, würde er nicht bleiben - ganz allgemein gesprochen natürlich.
Dabei ist es ein offenes Geheimnis, dass Reinhardt keine anderen Götter neben sich duldete. Seine analytischen Fähigkeiten seien brillant gewesen, erzählt ein ehemaliger Angestellter, der selbstverständlich anonym bleiben will. "Aber im Umgang mit Menschen eine Katastrophe." Es sei schon mal vorgekommen, dass er Mitarbeiter "einfach so auf dem Flur gefeuert" habe, wenn sein Temperament mit ihm durchging, berichtet der Ex-SER-Mann weiter.
Wie es zu der Insolvenz der Neustädter kommen konnte, bleibt ein Rätsel. Die Produkte genossen einen ausgezeichneten Ruf. Und Branchenkenner berichten von den "exzellenten, hoch qualifizierten Mitarbeitern". Der Niedergang, so ist in Internet-Boards zu lesen, habe zwei Hauptursachen: zügelloses Wachstum durch unkontrollierte Zukäufe und die Abkehr vom eigentlichen Kerngeschäft, der Dokumenten-Management-Software. Dem Thema Knowledge-Management habe Reinhardt alle anderen Unternehmensziele untergeordnet. Mit dem Produkt Brainware wollte er eine hyperintelligente Software auf den Markt werfen, die alles bisher Dagewesene in den Schatten stellt. Als zum Jahreswechsel 1999/2000 die Angst vor dem großen Computer-Crash regierte, wollte SER das gesamte Internet
abspeichern und eine Art Superarchiv schaffen. Das Projekt scheiterte. "Wie
auch bei anderen Flausen, die er im Kopf hatte, scherte sich Reinhardt den Teufel um die Urheberrechte", berichtet einer, der mit dabei war.
Die andere Seite des Gert J. Reinhardt - der SER-Chef als edler Spender? Gegenüber Geschäftspartnern soll Reinhardt sich damit gebrüstet haben, dass er eine Schule "am Leben hält". Davon weiß man in Neustadt allerdings nichts. "Klar, ein guter Mensch, ein Wohltäter, sein ganzes Geld hat er gespendet", sagt die Wirtin des Westerwälder Hofs. Der ironische Unterton in ihrer Stimme ist dabei allerdings kaum zu überhören. Die Schule, um die sich die Gerüchte ranken, liegt denn auch nicht in Neustadt, sondern im 25 Kilometer entfernten Bad Honnef. Hier war Reinhardt in der Zeit vor dem Börsengang nebenberuflich Geschäftsführer des Gymnasiums Schloss Hagerhof, das einer seiner Söhne besuchte. Verwaltungsleiter Reinhard Brix ist das heute eher peinlich. "Nein, da ist kein Geld geflossen. Nicht, dass noch der Verdacht aufkommt, irgendwelche Mittel aus der SER-Firmenkasse seien bei uns gelandet."
Eher schon beim Basketball-Verein aus dem Ortsteil Rhöndorf. Das Profi-Team aus der zweiten Bundesliga firmierte bis vor kurzem als SER Rhöndorf und hat sich nun wieder ganz profan in TV 1912 umbenannt. Seit klar ist, dass von SER keine müde Mark mehr fließt, schaut sich der Traditions-Club nach einem neuen Sponsor um. Irgendwie muss das Leben nach dem Neuen Markt weitergehen.
Auch bei SER, nachdem das Unternehmen vom Neuen Markt verbannt wurde und die Aktie jetzt im Freiverkehr zwischen vier und fünf Prozent vor sich hin dümpelt. Kurt-Werner Sikora, der heute die Geschäfte des insolventen Unternehmens führt, gibt zumindest teilweise Entwarnung: Der Fortbestand der Gesellschaft im deutschsprachigen Raum könne als gesichert gelten. Die noch verbliebenen 265 Mitarbeiter dürfen mithin hoffen, ihren Arbeitsplatz nicht zu verlieren. Inzwischen sieht sich aber auch Sikora im Visier der Aktionärsschützer. Deren Vorwurf, er habe für einen Euro von SER die Rechte an einer Archivierungssoftware gekauft, kontert er mit einem Dementi.
Für Rentner Willi Müller steht fest, dass "die da drüben, die von SER halt" ihre Lektion gelernt haben. "Die müssen jetzt kleinere Brötchen backen", meint er. Sein Blick schweift über einen schmucklosen Zweckbau auf der anderen Fahrbahnseite der Autoban: "Das ist die Firma Schiffer. Europäischer Marktführer für Zahnbürsten. Dr. Best, Signal und Ment-a-dent - kommt alles von hier. Was Solides halt - nix mit Computern".