Ursuppe im Röhrchen
Eine kleine Biotech-Firma aus Oberbayern ist an
der Börse über eine Milliarde Dollar wert. Aber
Morphosys will mehr.
Wie kann man taffe New Yorker Analysten davon
überzeugen, dass ein paar Milliliter trübe Flüssigkeit
in einem kleinen Reagenzglas mit Deckel,
Eppendorf-Tube genannt, an der Börse eine Milliarde
Dollar und mehr wert sein sollen?
Simon Moroney, Chef des Biotech-Winzlings
Morphosys aus Martinsried bei München, versuchte
es mit Anschaulichkeit.
Statt seine Ursuppe, in der er
über zehn Milliarden
menschliche Antikörper
gesammelt hat, füllte er
vorigen Monat für eine
Präsentation im Hotel
Waldorf-Astoria Y-Buchstaben
einer Nudelsuppeneinlage in
die kleinen Röhrchen. Seine für
das menschliche Auge
unsichtbaren Antikörper haben
exakt dieselbe Form.
Der Trick mit den
Suppenbuchstaben hat den Anlegern offenbar
gefallen. Mit einem beispiellosen Anstieg hat die
Morphosys-Aktie innerhalb weniger Tage auch die
heißesten Internet-Werte hinter sich gelassen (siehe
Grafik).
Anfang Februar schoss der Kurs des Papiers, das erst
seit März vorigen Jahres auf dem Neuen Markt zu
kaufen ist und bislang um den Ausgabewert von 25
Euro dümpelte, plötzlich auf das 14fache hoch.
Zwischen Höchst- und Tiefstkurs der vergangenen
52 Wochen klafft eine gewaltige Lücke: Von 14 Euro
stieg der Wert auf 380 in der Spitze.
Morphosys ist der Aufsteiger des neuen Jahres am
Neuen Markt und, wenn Firmenchef Moroney Recht
behält, noch lange nicht am Scheitelpunkt. Der
schlaksige Mikrobiologe aus Neuseeland, der die
Firma 1992 mitgegründet hat, gibt sich
selbstbewusst: "Wir haben die richtige Marktnische
zur rechten Zeit entdeckt."
Morphosys' Spezialität und Reichtum wird bei minus
80 Grad in einem Gefrierschrank aufbewahrt. Den
Biotechnikern um Moroney gelang es, nahezu
sämtliche rund zehn Milliarden menschliche
Antikörper nicht nur in einer Substanz zu sammeln,
sondern sie auch noch beliebig synthetisch zu
reproduzieren und einzeln verfügbar zu machen.
So lässt sich in wenigen Tagen testen, welche
Antikörper im Menschen dazu bestimmt sind,
Krankheiten verursachende Zielmoleküle zu
bekämpfen. Ob Aids oder Krebs, jede Erkrankung der
Zellen ist mit bestimmten Molekülen verbunden, und
für jedes dieser Moleküle hat Moroney eine Waffe in
seiner Human-Antikörper-Bibliothek HuCAL.
Doch als sich Morphosys im März 1999 als einer der
ersten deutschen Neulinge der Biotechnologie in
Frankfurt an die Börse wagte, waren die Anleger
zunächst gar nicht vom wirtschaftlichen Erfolg der
Sammlung zu überzeugen.
Tatsächlich kann es von der Entdeckung eines
Antikörpers gegen einen Krankheitserreger bis zur
Markteinführung eines wirksamen Medikaments
lange dauern. Um die zehn Jahre benötigen selbst
die Pharmariesen, und die müssen dafür im Schnitt
500 Millionen Dollar aufbringen.
Morphosys' steiler Aufstieg wurde möglich, als die
Großen der Pharmabranche begannen, sich nach
kleinen, innovativen Partnern umzusehen. Bis zu 30
Prozent ihrer milliardenschweren Forschungsetats
geben Pharmakonzerne inzwischen für
Auftragsarbeiten außer Haus aus.
Für einen zweistelligen Millionenbetrag etwa lässt
Bayer bei Morphosys derzeit nach Antikörpern gegen
verdächtige Zielmoleküle suchen. Mit mindestens
fünf ähnlichen neuen Verträgen pro Jahr will Moroney
in den nächsten Jahren den Umsatz hochtreiben.
Die Nachfrage nach seiner Antikörper-Bibliothek ist
groß. Innerhalb von fünf Jahren ist der Umsatz mit
Medikamenten, die auf dem therapeutischen Einsatz
von menschlichen Antikörpern beruhen, von nahe
null auf rund zwei Milliarden Dollar geschnellt. Bis
2003 soll er sich auf vier Milliarden verdoppeln.
Der Börsenwert von rund einer Milliarde Dollar soll
Moroney jetzt helfen, das Geschäft schnell
auszuweiten. Bisher stellt Morphosys den Kunden
lediglich die Antikörper-Bibliothek zur Verfügung.
Noch in diesem Jahr soll damit begonnen werden,
durch Akquisition anderer Firmen, die sich auf die
Entwicklung des fertigen Medikaments spezialisiert
haben, die Wertschöpfung aus den tiefgekühlten
Eppendorf-Tubes zu erhöhen. "Jetzt können wir uns
richtig was leisten", freut sich der Firmengründer.
Eine solche Strategie, hofft er, wird auch die Anleger
ermutigen. Immerhin würden vergleichbare, direkte
Konkurrenten wie Abgenix (Börsenwert: knapp
sieben Milliarden Dollar) und Medavex (gut sechs
Milliarden) in den USA schon heute deutlich höher
bewertet als der deutsche Shootingstar aus
Martinsried. Moroney siegessicher: "Im Vergleich zu
uns arbeiten die mit einer veralteten Technologie."
HEIKO MARTENS
A R T I K E L V E R S E N D E N
© DER SPIEGEL 11/2000
www.spiegel.de/spiegel/0,1518,68733,00.html