Wir dürfen keine Furcht haben, etwas Neues zu denken
Adam Schaff – über Sozialismus, Faschismus und Raubtierkapitalismus
Adam Schaff, einer der seltenen großen zeitgenössischen sozialistischen Denker Europas, lebt in Warschau. Jahrgang 1913, hat er nahezu ein Jahrhundert auf dem Buckel. Es war ein Jahrhundert großer Kriege und Revolutionen. Schaff ist kein Wissenschaftler im Elfenbeinturm, sondern immer verbunden mit den Kämpfen seiner Zeit. Seine Arbeiten erschienen in mehreren Ländern Europas, auch in beiden deutschen Staaten. Adam Schaff beherrscht elf lebende Sprachen, darüber hinaus Latein, Altgriechisch, Hebräisch, schreibt jedoch in seiner Muttersprache, in polnisch. Gerd Kaiser besuchte den berühmten Querdenker in dessen Warschauer Wohnung und sprach mit ihm unter anderem über die Zukunftschancen des Sozialismus.
ND: Menschen leben – und Menschen träumen. Wovon träumen Sie?
Ich träume von einem künftigen Sozialismus, einem guten Sozialismus. Deshalb kämpfe ich gegen Ignoranz und Lüge – gegen die Ignoranz gegenüber guten Seiten sozialistischer Erfahrungen und gegen die Lüge, dass all das, was sich selbstentlarvenderweise realer Sozialismus nannte, gut gewesen sei. Ich kämpfe für etwas Neues. Wir dürfen keine Furcht davor haben, etwas zu denken, etwas zu sagen, was so noch nicht gedacht, noch nicht gesagt oder geschrieben worden ist.
ND: Woher sollen die Impulse für den neuen Sozialismus kommen?
Aus der Ablehnung des derzeitigen Banditenkapitalismus, der keine Alternative für die Zukunft der Menschheit ist. Eine echte Alternative gegen Gangsterökonomie und Gangsterpolitik kann allein der neue Sozialismus sein. Die Impulse für diesen kommen auch aus der strikten Ablehnung all dessen, was falsch am alten Sozialismus war. Dafür ist ein scharfer und tiefer Schnitt notwendig. Ich meine damit auch, dass diejenigen, die Mitverantwortung für die Entstellungen und die Entartung des Sozialismus getragen haben, sich nicht schonen dürfen.
ND: Was soll das Lebenselement dieses neuen Sozialismus sein?
Er muss durch und durch demokratisch sein, getragen vom Wollen der eindeutigen Mehrheit. Die Diktatur des Proletariats, der Gegenentwurf zu einem demokratischen Sozialismus, hat sich als tödlich für jeden sozialistischen Gedanken und für den Sozialismus als gesellschaftliche Ordnung erwiesen. Übrigens war der Zusammenbruch des Sozialismus schon 1917 vorprogrammiert. Damals lag die Macht auf der Straße. Die Bolschewiki hätten sie dort liegen lassen sollen. Da sie es nicht taten und die Macht in ihre Hände nahmen, ohne dafür die erforderliche Legitimation zu haben, konnten sie nicht auf politische Überzeugung, sondern mussten auf Terror setzen. Das Ende war damit und mit weiteren Erbsünden programmiert.
ND: Welche Erbsünden meinen Sie?
Die Entartung des Sozialismus bestand im Entstehen eines Antimodells. An die Stelle von Demokratie trat Terror, an die Stelle von Internationalismus Nationalismus. Nach Marx ist Sozialismus erst möglich, wenn die notwendigen objektiven und subjektiven Bedingungen gegeben sind. Marx wusste bereits 1847, dass deren Missachtung wieder zur »alten Scheiße« führt.
ND: Konkret heißt das?
Für den Sozialismus muss eine Entwicklungsstufe der materiellen Lebensbedingungen der Gesellschaft gegeben sein. Egalitarismus der Not und der Notdürftigkeit sind die Folge einer Entwicklungsstufe, in der die materiellen Lebensbedingungen nicht oder noch nicht gegeben sind. Als zweites gehört eine gebildete Arbeiterklasse zu den Voraussetzungen des Sozialismus. Schließlich ist dieser nur dann möglich, wenn ein Sieg der sozialistischen Idee in den entscheidenden Ländern gleichzeitig erfolgt. Keines der Länder des realen Sozialismus entsprach den unabdingbaren Voraussetzungen.
ND: China wird noch als sozialistisches Land betrachtet. Wie steht es da?
In agrarischen asiatischen bzw. afrikanischen Ländern sind auch andere Wege denkbar. In China war es der Sieg einer revolutionär-demokratischen Armee in einer Gesellschaft, die größtenteils hinter dieser Armee stand. In Angola oder Mocambique war diese Unterstützung nicht gegeben, und die so genannten sozialistischen Länder in Afrika gingen bankrott. China suchte und sucht nach Lösungen. Es gilt zu bedenken, dass es nicht nur sozialistische Revolutionen gibt, sondern auch andere Formen revolutionärer Veränderung. Neue Gesellschaftsordnungen in der Dritten Welt müssen nicht unabdingbar sozialistische sein.
ND: Wenden wir uns wieder dem »neuen Sozialismus« zu. Wodurch soll sich dieser auszeichnen?
Sozialismus ohne Demokratie ist undenkbar. Denken wir an Rosa Luxemburg. Demokratie darf nicht lediglich Deklaration bleiben, sondern sie muss reale gesellschaftliche Erfahrung, individuell praktizierte und erlebte Alltagserfahrung, Wirklichkeit sein. Sozialismus ist ohne breiten gesellschaftlichen Konsens unmöglich, weil Sozialismus gegen die Mehrheit der Gesellschaft unmöglich ist. Denken wir an Antonio Gramsci.
Ein Kardinalfehler des alten Sozialismus war, dass sein Gesellschaftssystem ursprünglich importiert worden ist, vornehmlich unter den Bedingungen der sowjetischen Besatzungsmacht. Es fehlten qualifizierte Mehrheiten für ein wahrhaft sozialistisches Gesellschaftsmodell, es fehlte zumeist eine qualifizierte Arbeiterschaft, die entscheidenden Länder gingen andere Wege. Eine revolutionäre Situation war auch nicht in Ansätzen vorhanden.
Die Folge: Der politische Überbau behinderte jedwede Entwicklung. Er verdammte die Gesellschaft zum Stillstand. Er verhinderte – bei graduellen Unterschieden – die ökonomische Entwicklung. Die Möglichkeiten der wissenschaftlich-technischen Revolution wurden nicht oder völlig unzureichend erkannt und genutzt. In der Wechselwirkung zwischen den Prozessen der wissenschaftlich-technischen Revolution und dem Wettstreit der Systeme kam es zu einer tiefen und letztendlich nicht überwindbaren Krise des realen Sozialismus.
Auf all diese wesenseigenen Mängel hatte das Fehlen oder die starke Beschneidung der persönlichen Freiheit eine verhängnisvolle Auswirkung. Keines der sich sozialistisch nennenden Länder konnte sich zu wahrhafter Demokratie bekennen. Die große Mehrheit war von der Machtausübung, der Teilhabe an der Macht ausgeschlossen. Wahlen mit alternativen politischen Möglichkeiten gab es nicht. Ein »bisschen« Freizügigkeit für diesen oder jenen Künstler oder Naturwissenschaftler änderte nichts am Wesen der Sache. Ein »bisschen Freiheit« gibt es genauso wenig, wie es »ein bisschen schwanger« gibt.
ND: Aber dies erfolgte »zum Wohle des Volkes, zum Wohle des Soziaismus«, hieß es.
Was dieses System, diese Parteistruktur im Namen des Sozialismus hervorgebracht hat, war unannehmbar. Erinnert sei nur an die Berliner Mauer.
Oder nehmen wir das Beispiel Polen: 1946 fand eine Volksabstimmung statt. Dreimal »Ja« wurde erwartet. »Ja« zur Abschaffung des Senats, des Oberhauses; »Ja« zur Agrarreform und zur Nationalisierung der Schwerindustrie; »Ja« zur Oder-Neiße-Grenze. Ich habe als Rektor der Parteihochschule in Lodz nicht nur selbst eine lange Nacht gesessen und insgeheim auf ungezählten Abstimmungszetteln die jeweils drei Striche für »Ja« gemacht, sondern auch meine Studenten angehalten, dies zu tun. So konnte der Parteiapparat verkünden, dass eine deutliche Mehrheit, die berühmten 99 Prozent, drei mal mit »Ja« gestimmt habe.
ND: Sie sind ehrlich. Das ist selten.
Das waren skandalöse Fälschungen, an denen ich Mitschuld trage und für die ich Scham empfinde. Wer Mitverantwortung getragen hat, darf sich nicht schonen. Ohne Mitwirkung dieser Art hätte der ganze Mechanismus so nicht funktioniert.
ND: Sie haben Mitte der sechziger Jahre Ihre Forschungen mit dem Buch »Der Marxismus und das menschliche Individuum« zur Diskussion gestellt. Sie treten für eine am Individuum orientierte Interpretation des Marxismus ein...
Ich habe in Frankreich studiert, bin 1932 in die Kommunistische Partei Polens eingetreten. Mich hat Franciszek Fiedler unter seine Fittiche genommen. Er war Mitstreiter von Rosa Luxemburg, ein exzellenter Historiker, Wirtschaftswissenschaftler, Publizist. Er hatte zudem französische Lebensart und viel Humor. Wieder und wieder hat er mir gesagt: »Vergiss den Paragrafen 7 nicht.« Damit meinte er: »Vergiss den Menschen nicht!«. Er verlangte: »Denke nicht nur daran, was gemacht werden soll, sondern auch daran, wer es machen und für wen es gemacht werden soll.«
Die Negierung dieser Erfahrung hat dazu geführt, dass der alte Sozialismus, wie wir ihn gemacht haben, unserer sozialistischen Bewegung den Todesstoß versetzt hat. Was bei uns geschehen und praktiziert worden ist, das hat der französischen und anderen kommunistischen Parteien Westeuropas das Genick gebrochen.
ND: 1968 hat Gomulka Sie aus dem Zentralkomitee der PVAP gejagt, 1984 General Jaruzelski aus der Partei geworfen. In Polen wurde nichts mehr von Ihnen veröffentlicht, Ihre Schriften druckten die französischen Kommunisten. Im eigenen Lande galt der Prophet wieder mal nichts, die Kommunisten im Ausland haben Sie eher verstanden, als die in der Heimat.
Ich bin daran nicht zu Grunde gegangen. Ja, ich wurde in Frankreich und Italien, in Spanien und in Deutschland gedruckt. In Wien hatte ich eine Honorarprofessur. Für den Parteiausschluss hat sich bis heute keiner in Polen bei mir entschuldigt. Meine Erfahrungen lehren mich, dass aus zwei Hälften wohl ein Hintern entstehen kann, niemals jedoch aus zwei Schwachköpfen ein kluger Kopf wird. Ich war und ich bin – ungeachtet aller Schwachköpfe – überzeugt von den Ideen des Sozialismus. Entweder Sozialismus oder Barbarei.
ND: Die Inkarnation von Barbarei ist für Sie der Faschismus, dessen Wesen Sie mit scharfer Analyse offentlegten. In Deutschland spricht man vom »Nationalsozialismus«. Gibt es Unterschiede?
Der Faschismus trägt bei allen personellen Verschiedenheiten, ob unter Hitler, Mussolini, Antonescu, Pavelic, Horthy, Franco, Salazar, Peron oder Pinochet, und ungeachtet historischer, wirtschaftlicher, politischer, kultureller Entwicklungen und Rahmenbedingungen, gemeinsame Züge.
An erster Stelle steht die Diktatur der besitzenden Klassen gegenüber dem »Rest« der Gesellschaft. Damit ist der Faschismus das äußerste Gegenstück der demokratischen Kultur einschließlich der formalen Demokratie. Eine Minderheit diktiert ihren Willen brutal der Mehrheit.
Zweitens sind totalitäre Herrschaftszüge für den Faschismus charakteristisch. »Gleichschaltung« erfolgt nicht nur als ideologische Forderung, sondern wird praktisch verwirklicht. Ihre deutlichste Ausprägung findet sie im Einparteiensystem. Das faschistische Staatswesen ordnet das gesamte gesellschaftliche und individuelle Leben einem eigens dafür konstruierten und in dessen Interesse funktionierenden zentralistischen bürokratischen Apparat unter. Das »Führerprinzip« ist ein Symbol des Systems.
Aus der gesellschaftlichen Funktion des Faschismus resultiert die Tendenz zum Nationalismus. Das »Eigene« und »Fremde«, der »Übermensch« und »Untermensch« werden gegenübergestellt. Der Nationalismus gebiert Chauvinismus und führt zum Rassismus als systemimmanentes Wesensmerkmal.
ND: Wann entsteht Faschismus?
Der Faschismus ist ein Ergebnis der Schwäche des Kapitalismus als gesellschaftliche, politische, und wirtschaftliche Formation. Er erscheint zu einem Zeitpunkt, da die herrschenden Klassen die Herrschaft über den Gang der Ereignisse verlieren und sich in ihrer substanziellen Existenz bedroht fühlen. In solch einem historischen Moment lassen sie jedwede demokratische Maske fallen und unterwerfen die Gesellschaft ihrer Diktatur.
ND: Im Faschismus spielt das Individuum eine wesentlich geringere Rolle, als es im »Realsozialismus« gespielt hat.
Zunächst: Wie jede politische Erscheinung bedarf auch der Faschismus des Menschen. Wie jedes politisches System wird er im Wirkungsfeld von Masse – Klasse – Individuum verwirklicht. Träger faschistischer Vorstellungen sind Menschen, die sich in der Masse, unter Gleichgeschalteten, ohne die Notwendigkeit, selbstständig entscheiden zu müssen, am geborgensten fühlen. Das erfährt dann sogar psychopathologische Züge. Faschisten sind Menschen mit einem Minderwertigkeitskomplex, die diesen Komplex als »Übermenschen« kompensieren wollen. Ihre Hörigkeit ermöglicht die uneingeschränkte Herrschaft und – da unbegrenzte Macht korrumpiert – zügellose Macht. In der Gleichschaltung, Überwindung und schlussendlich auch in der Vernichtung ihrer inneren und äußeren Konkurrenten im Bereich der wirtschaftlichen, politischen und militärischen Interessenkonflikte sehen die Herrschenden die besten Möglichkeiten zur Durchsetzung ihrer eigenen Interessen. Im Führerprinzip bündeln sich Rassismus, Nationalismus, Übermenschentum, politischer Extremismus bis zum Exzess.
Erst in der Wechselwirkung zwischen den System- und den Individualaspekten ergibt sich das komplexe Herrschaftssystem, das entweder durch einen »Marsch auf Rom« oder auch über Wahlen – so die NSDAP in Deutschland – installiert werden kann. Mit Oswald Mosleys »British Union of Fascists« in England hat es nicht geklappt. Auch die Cagoulards und Croix-de-Feu in Frankreich hatten keinen Erfolg. Das heißt: Gegenmacht kann sich durchsetzen, Faschismus ist kein unausweichliches Verhängnis.
ND: Logische Konsequenz Ihrer Ausführungen ist, dass Faschismus am sichersten verhindert werden kann durch eine neue, sozialistische Gesellschaft. Woher dafür den »neuen« Menschen nehmen?
Meine Fragestellung ist: Wie beeinflusst, wie sozialisiert die neue Gesellschaftsordnung die Individuen, die ja immer ihre gesellschaftliche Prägung im Schoße der alten, kapitalistischen Ordnung erhalten haben. Welche Erwartungen projiziert sie hinsichtlich der »neuen« Ordnung, des »neuen« Menschen. Meiner Ansicht nach müssen die humanistischen Werte aller vorausgegangenen Epochen die konstituierenden Elemente des neuen Menschen sein. Der Mensch ist ohne diese geistigen Werte – z.B. Nächstenliebe aus christlich-judäischer Tradition und Solidarität aus der Tradition einer entwickelten Arbeiterbewegung – nicht Herr seiner selbst. Dazu kommt die Verbindung der humanistischen Werte der Menschheitsgeschichte mit dem materiellen Reichtum, den der neue Sozialismus hervorbringt. Daraus erwächst der »neue« Mensch.
ND: Das sind Zukunftsvisionen. Schauen wir auf den Banditenkapitalismus. Wie ist er zu bändigen?
Eines der größten Probleme liegt in der strukturellen Arbeitslosigkeit. Sie wird nicht abzubauen sein. Erst mit der Veränderung des Systems werden die Menschen für die weniger werdende herkömmliche Arbeit ausreichend Zeit für soziales Engagement, Bildung, Kultur erhalten.
Bis Ende 2003 wird beispielsweise in Polen jeder zweite Arbeitsplatz verloren gehen. Die industrielle Reservearmee wird weiter anwachsen. Da Polen seinen technologischen Rückstand aufholen will, werden die Jobkiller zunehmen. Wer in dieser Situation verspricht, die Geißel der Arbeitslosigkeit zu beseitigen, der weiß entweder nicht, wovon er redet, oder er lügt. Im neuen Sozialismus wird die Arbeitsgesellschaft durch eine Beschäftigungsgesellschaft abgelöst. Voraussetzungen für diesen Prozess entstehen bereits heute. Da Roboter keinen Mehrwert produzieren, wird Privateigentum nicht mehr abgeschafft werden, sondern im Interesse der Mehrheit umverteilt.
ND: Und Sie sind überzeugt, dass der neue Sozialismus Wirklichkeit wird?
Ja. Da nichts so bleiben kann, wie es ist, und nichts ewig so weitergehen kann wie bisher, brauchen wir einen neuen, demokratischen Sozialismus wie die Luft zum Atmen.
(ND 17.08.02)