Ein paar brisante Fragen ... die kaum jemand stellt
Guten Morgen, verehrte Leserinnen und Leser!
Je länger der Dax in engen Bahnen (dafür aber umso hektischer) vor sich hin schwankt, desto mehr neigen wir dazu – als rein menschliche Reaktion – einen Tunnelblick zu etablieren. Fast alle, mit denen ich in Email- oder Telefonkontakt stehe, tanzen dieser Tage um das goldene Kalb der neuen Allzeithochs. Wird er jetzt? Oder erst später? Und wie weit läuft es dann?
Nicht, dass dies irgend eine Prognosequalität hätte, aber auffallend ist es doch: Keiner stellt die Frage, „ob“ der Dax neue Allzeithochs markiert. Sicher, er ist so nahe dran, dass es letztlich verwundern würde, zumal wir gestern den dritten Anlauf binnen dreier Wochen vollzogen haben. Nur:
Wenn alle das selbe denken ...
Sie wissen: Grundsätzlich wird davon ausgegangen, dass, wenn alle Welt sich auf etwas einstellt, dieses Ereignis nicht eintrifft. Das Phänomen der sich selbst erfüllenden Prophezeiung, welches im „normalen“ Leben durchaus greift, trifft an der Börse auf einen Haken. In diesem Fall sieht es so aus:
All diese Gesprächspartner, die ich oben anführte, gehen nämlich davon aus, dass der Umschichtungsprozess am Aktienmarkt weg von den sicheren Händen hin zu den zittrigen Händen, d.h. den Unerfahrenen, die sich der aktuellen Risiken nicht bewusst sind, noch lange nicht abgeschlossen ist. Sprich:
Jeder erwartet, dass, sobald der Dax erst mal neue Allzeithochs erzielt hat und selbst die Bild-Zeitung dann mit Dax-Rekorden aufmacht, die große Kaufwelle der Neulinge erst losgeht ... und der Dax dann erst richtig Gas geben wird. Und:
All diese Leute sitzen momentan mit prallem Depot da und warten darauf, dass eben diese Schar an unerfahrenen Anlegern in die Börsen strömt und ihren vollen Depots so weitere Gewinne beschert. Ich kenne aber niemanden (wobei ich nicht jeden kennen kann, zugegeben), der gestern seine Bestände noch mal aufgestockt hat.
Mir scheint, es wäre zwingend erforderlich, dass diese neuen Anleger auch tatsächlich an den Markt kommen. Gerade weil durch den saisonal bedingten leichten Rückgang neuer Liquidität, die gestiegenen Kapitalmarktzinsen und den haussierenden Ölpreis doch das eine oder andere mikroskopisch kleine Risiko existiert (das war sarkastisch gemeint, nur für den Fall ...) und deshalb die erfahreneren Anleger ebenso wie die großen Adressen zwar noch nicht verkaufen, aber kein neues Kapital auf diesem Niveau ins Rennen werfen wollen ... oder können. Wer soll es also richten – wenn nicht neue Käufer?
Gefährlich viele offene Fragen ... die zudem kaum jemand stellt
Wie ich letzte Woche schon schrieb:
Was, wenn jeder, der Long sein will, schon Long ist?
Wer sind dann diejenigen, die nun diese winzige Lücke zwischen den aktuellen Kursen und neuen Rekorden schließen, indem sie sich mit hohem Kapitaleinsatz durch die – unübersehbar vorhandenen – Sperrriegel in Form von Verkaufslimits auf Niveaus über 8.100 kämpfen?
Und wenn dies gelingt: Sind die, von denen alle ausgehen, nämlich die frischen Käufer und das frische Geld – auch wirklich da?
Wie kann es gelingen, dass der Dax auf neuen Rekordhöhen dann wirklich nennenswert steigt, wenn alles und jeder jetzt untätig und hoch investiert dasitzt und auf dieses Ereignis wartet – weil er dort oben verkaufen will?
Was, wenn die „zittrigen Hände“ schlauer waren als die, die auf sie hoffen und schon investiert sind? Das kann man nicht so einfach messen. Und Sentimentdaten sind nun einmal eine wackelige Angelegenheit.
Können Sie sich vorstellen was passieren würde, wenn der Dax erst bei 8.200 steht und plötzlich ist der Kaufdruck durch Neueinsteiger und Shorteindeckungen schon weg?
Das ist der Hintergrund. Deswegen greift die Börsenregel so erstaunlich oft, dass ein Ereignis, von dem zu viele übereinstimmend ausgehen, meist nicht eintritt.
Bullenregeln vice versa
Und den Bullen unter meinen Lesern sei gleich zugerufen: Moment! Bevor Sie diese Argumentation als typisches Bärengebrumm abtun, überlegen Sie mal:
Als zahllose Anleger und sogar manch ein Bankanalyst von einer größeren Korrektur ausgingen, z.B. als der Dax zuletzt 7.500 touchierte ... kamen da nicht einige und riefen: Wenn alle so pessimistisch sind, kann es ja nur weiter raufgehen? Und behielten sie nicht recht? Und wollten das nicht auch alle gerne so akzeptieren? Da hatten wir von der Struktur her das selbe Szenario – nur eben vice versa. Tun Sie dieses Problem also lieber nicht so einfach ab.
Aber sehen wir mal, was kommt und stemmen uns über diesen niedrigen Tellerrand des Allzeithochs hinaus mal dahin, wo man als Anleger eigentlich immer schweben sollte, würde man nicht ab und an – wie eben dieser Tage – von solchen punktuellen Aspekten immer wieder auf den Boden des Suppentellers gesaugt: in die Vogelperspektive. Denn wer von Ihnen betreibt seine Investments mit einem Horizont von zwei oder drei Prozent? Eben.
Das Vorstehende zeigt eigentlich recht klar: Trotz allem Gerede ist das Allzeithoch für jeden, der nicht ganz kurzfristig denkt, eigentlich gar nicht der entscheidende Punkt.
Würde es nach unten gehen – ist es so etwas gravierend anderes, wenn eine Korrektur hier und heute beginnt oder bei 8.400 oder – meinetwegen - bei 8.600? Sprich drei oder sechs Prozent höher? Sicher, das wäre dann entscheidend, wenn diese Korrektur maximal 5-10% betragen würde. Was momentan alle glauben. Denn größere Korrekturen werden von fast allen Akteuren und Beobachtern einfach ausgeschlossen. Wobei wir wieder bei obigem Phänomen wären.
Ebenso, wie alle erwarten, dass bei einem Dax über 8.136 plötzlich alle Welt einsteigt, gehen fast alle davon aus, dass ein Rücksetzer um 500 Punkte sofort all diejenigen auf den Plan rufen wird, die dann sofort mir ihrem immer noch nicht investierten Kapital einsteigen werden. Sprich für die, die dies erwarten, freundlicherweise das fallende Messer auffangen. Kann man da ernsthaft sicher sein?
Der Langfrist-Chart zeigt: Da ist viel Luft nach unten
Um hier ein wenig Abstand zu dem Tagesgeschehen zu bekommen, beginne ich mal mit dem langfristigen Bild, gehe also vom großen Bild langsam ins Detail.
Stellen wir uns mal vor, der Dax würde binnen der kommenden Monate etwas tun, das er sonst auch regelmäßig tat: Nicht nur an die untere, kurzfristige März-Trendlinie bei 7.880 zurücklaufen, sondern später dann an den langfristigen Trend. Der im Jahr 2003 etablierte, nunmehr über vier Jahre alte Trend verläuft aktuell um 6.250. Das ist das untere Ende des Trends – d.h. selbst ein solcher Rücksetzer – vom heutigen Niveau immerhin 22% - würde den langfristigen Aufwärtstrend nicht brechen. Das wäre also nichts Ungewöhnliches – das sollte jedem klar sein, der dieser Tage nur nach oben blickt.
Übrigens: Wenn man mal alleine das Momentum als Indikation in diesem Chart, der den Dax auf Monatsbasis zeigt, nähme, würde man meinen, wir wären, im Vergleich zum vorherigen Hausse-Zyklus – erst auf dem Level von 1997 angekommen. Aber selbst wenn: Dieser im Chart winzig wirkende Rücksetzer damals im Sommer 1997 – das waren auch 22%!
Der 200 Tage-Durchschnitt: Eine ganz normale Zielzone eines Rücksetzers
Nächster Schritt: Der Dax auf Basis der Wochenkurse. Sie sehen hier deutlicher, dass der Index seinen breiten Trendkanal aus dem Jahr 2003 nach oben verlassen hat. Bislang wurde dieser Trendkanal von oben noch nicht getestet, was aber durchaus normal wäre. Das würde einem Rücksetzer auf 7.500 entsprechen.
Natürlich wäre auch der Wiedereintritt in den Kanal nichts abnormes. Wie gesagt – der Basistrend bräche erst unter 6.250. Käme es zu einem solchen Wiedereintritt, böte sich das Niveau von 6.950 an, wo die Juli 2006-Trendlinie parallel zum wichtigen 200 Tage-Durchschnitt verläuft. Dazu: Es vergeht kaum ein Jahr, in dem dieser 200 Tage-GD vom Kurs nicht mal touchiert würde. In den letzten zehn Jahren war das nur 2001 nicht der Fall.
Kleiner Doji als zweites Warnsignal in kurzer Zeit
Und jetzt der Blick auf den Mikrokosmos in Form des Tagescharts. Gestern hat der Dax ausgerechnet beim dritten Anlauf über 8.100 einen kleinen, freistehenden Doji ausgebildet – und das gleich nach dem bearish engulfing pattern am Donnerstag. Gleich zwei Warnsignale in kurzer Zeit. Auch dass bedeutet nicht zwingend Ungemach. Aber es deutet zumindest an, dass die Luft nach oben im Moment ziemlich dünn ist. Und doch:
Nehmen wir zugunsten der Bullen an, dass diese Unmengen an neuen Käufern, die ihnen ihre Aktiendepots bei Erreichen neuer Rekordhochs vergolden sollen, wirklich existieren. Nehmen wir auch noch an, dass all diejenigen, die alle heute nur deswegen auf neue Allzeithochs warten, weil sie einfach nur in die dann erhoffte Rallye teurer als jetzt verkaufen wollen, dies wider ihrer aktueller Meinung nicht tun werden. Das heißt: Nehmen wir ein optimales Szenario an. Dann würde ich dem Dax zutrauen, dass er bis Ende August bis 9.000 läuft. Das entspräche zu diesem Zeitpunkt der oberen Begrenzung des laufenden kurzfristigen Trends.
Natürlich vorausgesetzt, Konjunktur, Politische Lage, Öl, Zinsen, Devisenmarkt etc. spielen auch alle mit. Das wäre ein Potenzial (über 8.136) von gut zehn Prozent. Das wäre m.E. das beim besten Willen und unter optimalen Umständen erreichbare Potenzial, bevor entweder ein schlagartiger Zusammenbruch der Kurse ansteht oder eine längere, dann sanfter verlaufende, Korrekturphase. Ob nun auf 7.500, 6.950 oder 6.200, sei dahingestellt. Aber: Die Erfahrungen der vergangenen Monate und Jahre sollten jedem klar gemacht haben, dass eine sanfte Abwärtsbewegung eine seltene Ausnahme ist!
Dax 9.000? Nicht mehr als eine 20%-Chance
Fassen wir also zusammen: Unter günstigsten Umständen, den ich aber unter den momentanen Rahmenbedingungen nicht mehr als eine 20%-Chance gebe, haben wir noch 10% Luft nach oben.
Unter ebenfalls günstigsten Umständen kommt eine Korrektur erst dann und ist mit 10% abgetan. Dann wären wir da, wo wir herkämen. Das entspräche einem Test der zuvor überwundenen Allzeithochs. Muss man da jetzt schon neu einsteigen?
Kommt der Dax aber nicht bis 9.000 oder dreht gar auf aktuellem Niveau schon ab, wären 500-600 Punkte nach unten, also die Zone 7.500, eigentlich das Minimum. Die Charts zeigen ja – selbst 6.950 oder 6.250 wären nur ein normales Kursverhalten.
Ich finde, dass das ein ziemlich klares Bild zeigt: Die verbliebenen Chancen nach oben sind kleiner als die Risiken nach unten. Das kann ein Nullsummenspiel für die kommenden Monate werden – aber auch ganz leicht ein kräftiges Minus entstehen, wenn nicht alles so läuft, wie alle hoffen.
Und damit wären wir wieder bei oben beschriebenen Problem: Was, wenn alle auf neue Käufer hoffen, aber genau diese Rechnung hier schon selber aufgemacht haben? Das würde bedeuten, dass hier eine Menge Akteure schon sehr bald nervös werden, wenn der Dax jetzt nicht ruckzuck die 8.136 knackt!
Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Tag – bis morgen!