Zuwanderungsgesetz: "Diese Debatte ist banal"

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ribald:

Zuwanderungsgesetz: "Diese Debatte ist banal"

 
30.03.02 21:40
"Diese Debatte ist banal"

Was bedeutet das Zuwanderungsgesetz für NRW? Ist es das richtige Gesetz zur richtigen Zeit? Prof. Meinhard Miegel hat erhebliche Zweifel
WELT am SONNTAG: In der Debatte um das Zuwanderungsgesetz ging es zuletzt nur um juristische Fragen. Heißt das, dass in der Sache Einigkeit herrscht?

Meinhard Miegel: Ich bin mir da nicht sicher. Denn bisher haben sich die Politiker zur Sache ja kaum geäußert. Im Kern geht es doch darum, dass wir ein massives Bevölkerungsproblem haben. Ohne Zuwanderer wird die hier ansässige Bevölkerung bis 2040 um 18 Millionen Menschen abnehmen. Das sind so viele, wie derzeit in Nordrhein-Westfalen leben.

WamS: Ist die Zuwanderungsdebatte also nur eine von vielen jetzt nötigen Debatten?

Miegel: In der Tat. Was jetzt debattiert worden ist, trägt nur den Bedingungen und Bedürfnissen der nächsten paar Jahre Rechnung. Eine Antwort auf die eigentlichen Herausforderungen ist es nicht.

WamS: Welches wäre eine Antwort?

Miegel: Ein Gesetz, das auf folgende Fragen eingeht: Soll dem rapiden Bevölkerungsschwund überhaupt entgegengewirkt werden? Wenn ja, braucht Deutschland mehr Menschen. Dazu könnte eine massive Familienpolitik beitragen. Ich bin für eine solche Politik, warne aber vor Illusionen. Sie wird das Bevölkerungsproblem nicht grundlegend wenden. Eine weitere Frage ist: Woher sollen die Zuwanderer kommen? Europäische Bevölkerungsreservoirs gibt es nicht mehr. Die Mittel- und Osteuropäer haben ganz ähnliche Probleme wie wir. Zuwanderer können also faktisch nur aus Südostasien und vielleicht noch Afrika kommen. Darüber muss diskutiert werden.

WamS: Wo sollen die Zuwanderer eigentlich genau hin?

Miegel: Im Agrarzeitalter gingen die Zuwanderer in die am dünnsten besiedelten Gebiete, wo die Scholle brachlag. Im Zeitalter der Dienstleistungen gehen sie dorthin, wo schon viele Menschen sind. Das aber heißt, dass unterschiedliche Besiedlungsdichten noch verstärkt werden. Das dünn besiedelte Ostdeutschland beispielsweise wird besonders viele Menschen verlieren. Konkret: Sollten in den nächsten zehn Jahren jährlich etwa 200.000 Menschen zuwandern, würde die Bevölkerungszahl Westdeutschlands, namentlich Nordrhein-Westfalens, noch etwas steigen, die im Osten hingegen sinken.

WamS: Welche Konsequenzen hätte das?

Miegel: Dass jetzt Entscheidungen gefällt werden. Soll der deutsche Nordosten - und das ist gar nicht sarkastisch gemeint - ein bevölkerungsarmes, ansonsten aber besonders intaktes Biotop werden?

WamS: Wie sähe es - auf der anderen Seite - in NRW aus, dem bevölkerungsreichsten, für Zuwanderer also, Ihnen zufolge, attraktivsten Land?

Miegel: Die, wenn auch bescheidene, Bevölkerungszunahme wäre im Alltag praktisch nicht wahrnehmbar. Das ist die eine Seite. Die andere Seite ist, dass der Anteil an Ausländern erheblich zunimmt. Bei einer jährlichen Zuwanderung von 200.000 Menschen würde bis 2040 der Ausländeranteil von gegenwärtig knapp zehn auf etwa 25 Prozent der Bevölkerung steigen. Das wiederum bedeutet, dass sich - falls diese Zuwanderer nicht konsequent integriert werden - Subkulturen bilden. In Deutschland würde eine multikulturelle Bevölkerung entstehen, auf die die meisten nicht vorbereitet sind und die gegenüber heute eine erhebliche Veränderung bedeuten würde. Ich kann mir vorstellen, dass die Widerstände gegen sie erheblich sind.

WamS: Wie ist die Zuwanderungsdebatte also zu beurteilen? Ist sie die falsche Debatte zur falschen Zeit?

Miegel: Dies ist keine falsche Debatte, aber sie ist gemessen an den zu bewältigenden Herausforderungen banal. Jetzt rächt sich, dass Fragen der Bevölkerungsentwicklung so hartnäckig verdrängt worden sind. Kaum jemand hat gewagt, die mittel- und langfristigen Ziele der Bevölkerungs- und Zuwanderungspolitik zu definieren. Denn es geht ja nicht nur darum, Arbeitskräfte anzuwerben, sei es für niedrig oder hoch qualifizierte Stellen. Im Grunde ist die heutige Debatte nur eine Neuauflage der Diskussion der sechziger Jahre, aber keine Antwort auf den bevorstehenden Zusammenbruch von Bevölkerungsstrukturen.

WamS: Müssten mehr Impulse kommen von Hochschulen, um fehlende Fachkräfte anzuziehen? Die Landschaft in NRW ist so dicht wie nirgends sonst.

Miegel: Sie sprechen hier ein ganz großes Problem an, das aber mit der Zuwanderung wenig zu tun hat. Unsere Schulen und Universitäten sind weitgehend verschnarcht. Vielleicht hat das etwas mit der Verbeamtung ihres Personals zu tun. Wenn heutzutage ein Hochschullehrer noch verbeamtet werden will, muss er doch ein Problem mit sich selbst haben. Das Grundgesetz gewährt ihm Meinungs-, Gewissens- und Redefreiheit. Warum also noch verbeamten?

WamS: Hält man sich Ihre ganze Kritik am gesellschaftlichen Zustand vor Augen, kommt einem der Titel Ihres jüngst erschienenen Buches "Die deformierte Gesellschaft" geradezu verniedlichend vor.

Miegel: Ich finde ihn ziemlich treffend. Die Bevölkerung wird in den nächsten Jahren ihre Deformation schmerzlich zu spüren bekommen. Das Zuwanderungsgesetz erscheint mir als i-Punkt einer naiven, kurzatmigen Politik. Hier wird ein weiteres Mal ein Jahrhundertproblem in einer Schlichtheit abgehandelt, die schon bemerkenswert ist. Dabei ist die Sachverhaltsanalyse, die dem Gesetz zu Grunde liegt, durchaus zutreffend. Die politischen Schlüsse, die hieraus gezogen werden, sind es nicht. Sie sind dem Sachverhalt so unangemessen, dass sich Zweifel an der Kompetenz der Politiker aufdrängen.

Das Gespräch führte Frank Lorentz

ribald:

Die ersten Green-Card-Inhaber sind arbeitslos

 
30.03.02 21:56
Die ersten Green-Card-Inhaber sind arbeitslos

Zum Teil hatten die Ausländer nur einen Jahresvertrag, der jetzt ausgelaufen ist
Nürnberg - Die Krise der Computerbranche trifft jetzt auch die Inhaber von Green Cards. In Bayern ist inzwischen ein Dutzend ausländischer Computerspezialisten mit einer solchen Arbeitserlaubnis ohne Job, in Nordrheinwestfalen zehn. Dies teilten die Landesarbeitsämter am Dienstag mit. Zum Teil hätten die Ausländer nur einen Jahresvertrag gehabt, der jetzt ausgelaufen sei. Mehreren Fachkräften sei betriebsbedingt gekündigt worden. Insgesamt sind nach Angaben des Landesarbeitsamtes im Freistaat mehr als 2900 der bundesweit rund 10 500 Green-Card-Inhaber beschäftigt. DW

ribald:

Die verordnete Apathie - Sozialstaat für Gesunde

 
30.03.02 22:33
Die verordnete Apathie

Von Meinhard Miegel

Der Sozialstaat sollte den Schwachen Schutz und Stütze sein. Doch er hat längst auch die Starken unter seine Fittiche genommen und selbstbewusste Menschen in hilflose Mündel verwandelt. Es bleibt nicht mehr viel Zeit, dies radikal zu ändern. Die Bevölkerung muss rasch wieder lernen, aufrecht zu gehen.


Gesunde, die konsequent das Bett hüten, entwickeln in der Regel schon nach wenigen Tagen Krankheitssymptome. Sie fühlen sich müde, abgeschlagen und lustlos, und zugleich läuft – wie Mediziner beobachtet haben – die Körpertemperatur aus dem Ruder, die Zahl weißer Blutkörperchen nimmt abnorm zu, und die Muskelmasse schwindet. Die Bettruhe, die den Kranken gesunden hilft, lässt den Gesunden offenbar erkranken.

Der Sozialstaat scheint ähnliche Wirkungen zu haben. Er sollte den Schwachen Schutz und Stütze sein. Doch nachdem er auch die Starken unter seine Fittiche genommen hat, breitet sich eine gewisse Apathie aus. Zufriedener, selbstgewisser, zukunftsfroher oder gar glücklicher sind die Menschen jedenfalls nicht geworden. Im Gegenteil. Nie zweifelten sie mehr an ihren eigenen Fähigkeiten oder blickten sie banger in die Zukunft als jetzt, wo der Sozialstaat in voller Blüte steht.

Angst geht um in der Bevölkerung. In Fernsehrunden und bei ähnlichen Gelegenheiten debattieren gut genährte und gekleidete Bürger mit zittriger Stimme, was nur aus ihnen werden solle, sollte der Staat sie im Stich lassen. Was sich frühere Generationen ohne weiteres zutrauten, versetzt die Kinder des Sozialstaates in Panik. Einen Arbeitsplatz zu schaffen oder auch nur zu erhalten ist 90 Prozent der Erwerbsbevölkerung zu risikoreich und schwierig. Und selbst die Suche nach einem Job überfordert viele. Wie eine Untersuchung im Auftrag der Bundesanstalt für Arbeit zeigt, unternimmt fast die Hälfte der Arbeitslosen nichts oder zu wenig, um ihre Lage zu verändern. Warum auch? Der Staat hat ihnen doch Vollbeschäftigung versprochen.

So geht es weiter. Kinder zu erziehen, Wohnungen zu bauen, kurze Zeiten der Arbeitslosigkeit zu überbrücken, kleine Unpässlichkeiten zu behandeln oder zumindest einen Teil der Altersvorsorge eigenverantwortlich zu betreiben – ohne Staat scheint nichts mehr zu gehen. Menschen, die sich eben noch sehr selbstbewusst verhielten, verwandeln sich zu hilflosen Mündeln, wenn sie in die Schutzzonen des Sozialstaates geraten. Hier haben sie alles verlernt, was sie im wirklichen Leben oft meisterlich beherrschen.

Ludwig Erhard und andere haben diese Deformation der Bevölkerung frühzeitig vorhergesehen und vor ihr gewarnt. Gewisse Tendenzen zum Versorgungsstaat erschienen ihnen schon in den fünfziger Jahren freiheitsbedrohend. Vor allem Erhard plädierte unablässig für die Bildung individueller Vermögen, um so die Menschen „dem verderblichen Einfluss des Kollektivs zu entreißen“. Die gesetzlichen Sicherungssysteme apostrophierte er als staatlichen Zwangsschutz, der dort Halt zu machen hatte, wo der Einzelne und seine Familie in der Lage waren, selbstverantwortlich und individuell Vorsorge zu treffen. Nicht nur für den wirtschaftlichen, sondern gerade auch für den sozialen Bereich forderte er ein Höchstmaß an Freiheit, privater Initiative und Selbsthilfe.

Mit allen diesen Forderungen scheiterten er und seine Mitstreiter. Für Erhard hatte die Bundesrepublik schon in den siebziger Jahren den Pfad der sozialen Marktwirtschaft verlassen. Parteifreunde, die 1975 mit der neuen sozialen Frage auf die Ungleichgewichtigkeit von organisierten und nicht organisierten Interessen aufmerksam machen wollten, warnte er, dass ihnen das Soziale im Mund herumgedreht werden würde und nichts anderes dabei herauskäme als zusätzliche staatliche Betreuung. Er sollte Recht behalten.

Zu diesem Zeitpunkt hatte der Sozialstaat seine freiheitssichernden Begrenzungen bereits gesprengt. War in den fünfziger und frühen sechziger Jahren erst etwa ein Sechstel aller erwirtschafteten Güter und Dienste für Zwecke der sozialen Umverteilung aufgewendet worden, so war es nunmehr ein Drittel. Entsprechend stieg die Staatsquote von 35 auf 50 Prozent. Für Anhänger der Sozialen Marktwirtschaft war diese Entwicklung umso paradoxer, als sich zugleich das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf reichlich verdreifacht hatte. In einer sozialen, aber eben auch freiheitlichen, marktwirtschaftlichen Ordnung hätte eine derartige Wohlstandsexplosion den Bedarf an sozialstaatlichen Interventionen mindern müssen. Doch nichts dergleichen geschah. Das Volumen sozialstaatlicher Umverteilung wuchs parallel zur Wirtschaft. Die Bürger konnten noch so viel erarbeiten – ihnen wurde nicht ein Zentimeter individuellen Handlungsraums zurückgegeben.

Inzwischen erkämpfen die Gewerkschaften zwar fast jedes Jahr höhere Stundenlöhne. Aber die Einkommenssteigerungen gehen in vollem Umfang an den Staat. In den fünfziger Jahren nahm er sich ein Viertel und in den siebziger Jahren ein Drittel der Arbeitseinkommen. Heute ist es die Hälfte. Die Folge: Seit mehr als 20 Jahren ist die Kaufkraft der Erwerbseinkommen der abhängig Beschäftigten Westdeutschlands nicht mehr gestiegen, und deshalb treten auch die Rentner auf der Stelle.

Doch das ist erst der Anfang. Binnen einer Generation wird sich der Anteil der Versorgungsbedürftigen auf Grund der Alterung der Bevölkerung verdoppeln. Will der Sozialstaat unter diesen Bedingungen seine Versprechen auch weiterhin halten, muss er die aktive Generation hoffnungslos überfordern. Ob die sich das bieten lassen wird, muss bezweifelt werden. Der Sozialstaat dürfte so zu einer Quelle von Unfrieden oder Schlimmerem werden.

Die Zeit zum Umsteuern ist knapp, zumal die Bevölkerung erst wieder lernen muss, aufrecht zu gehen. Der Sozialstaat hat sie gebeugt und glauben gemacht, das sei die natürliche Haltung des Menschen. Wie diese wirklich aussieht, kann abermals bei Erhard nachgelesen werden: Bei ihm trägt der Einzelne die Erstverantwortung. Der Staat darf nur solche Aufgaben übernehmen, zu deren Wahrnehmung nur er in der Lage ist. Das sind nicht viele. Dabei werden die Bürger, wenn sie wieder gelernt haben, aufrecht zu gehen, beglückt feststellen, was sie können. Das wird sie zufriedener und zukunftsfroher machen, als der Sozialstaat dies vermochte.


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