FRANKREICH-WAHL
"Kein Grund zur Panik"
Ist Frankreich am Sonntag nach rechts gerückt? "Nur ein Unfall", meint im SPIEGEL-ONLINE-Interview der Leiter des Pariser Goethe-Instituts, Dieter Strauss, 60. Unzufriedene Wähler wollten nur einen Denkzettel austeilen, ohne zu ahnen, wie viele ihrer Mitbürger dasselbe taten. Jetzt schämen sich viele Franzosen.
"Nein zu Le Pen" - Frankreichs politische Gesellschaft ist wieder hellwach SPIEGEL ONLINE: Hat Sie das Wahlergebnis vom Sonntag eigentlich überrascht?
Dieter Strauss: Total, das hat wirklich niemand geglaubt oder als Gefahr vorhergesehen. Auch bei uns waren am nächsten Morgen alle wie gelähmt. Aber jetzt wird schon wieder ganz normal gearbeitet.
SPIEGEL ONLINE: Wieso waren alle so überrascht? War nicht klar, dass es schon länger eine starke rechte Strömung in Frankreich gibt?
Strauss: Dass Le Pen nicht wenige Anhänger hat, ist bekannt. Aber, aber dass ein so starker Rutsch in seine Richtung herauskam, war wirklich nicht vorhersehbar. Sicherlich war seit dem Attentat auf das Parlament von Nanterre auch die Sicherheitsdebatte neu entbrannt und Chirac hat Le Pen unnötig das Wort geredet. Ausschlaggebend war das aber nicht.
SPIEGEL ONLINE: Sondern?
Strauss: Primär war der Verdruss ausschlaggebend, der durch das Duo Jospin/Chirac enstand, weil viele den lähmenden Leerlauf dieser Cohabitation - "Große Koalition" würde man in Deutschland sagen - leid waren. Diese Lähmung war die Grundstimmung. Nicht wenige hatten deshalb angekündigt, entweder nicht oder "weiß" wählen zu gehen - "voter blanc", wie es hier heißt. Man wusste auch, dass eine ganze Reihe aus Trotz radikal wählen wollten, aber nur um ein kleines Zeichen ihres Frusts zu setzen. Ein Denkzettel durch Wahlverweigerung - mehr sollte es nicht sein. Das haben inzwischen auch viele Le Pen-Wähler in Interviews erklärt und erklärt, dass sie doch keine Faschisten sind. Denn auch von ihnen ahnte niemand, dass sich so viele Citoyens zugleich atypisch verhalten würden. Deshalb bereuen auch viele ihr Verhalten immer mehr.
SPIEGEL ONLINE: Wie drückt sich das aus?
Strauss: Ein Beispiel: Viele der Demonstranten gegen Le Pen haben sich jetzt "Scham über mein Land" auf die Stirn geschrieben. Weil sich die Menschen blamiert sehen - auch durch ihre eigene Nachlässigkeit.
SPIEGEL ONLINE: Nun haben sie dem Land einen neuen Selbstfindungsprozess beschert. "Wir retten die Republik!", heißt ein verbreiteter Slogan. Ist die Grande Nation wieder wachgerüttelt?
Strauss: Mit dem Unterschied: Es war kein bewusster Weckruf, die Leute wurden erst wach, als es schon zu spät war. Dennoch besteht kein Grund zur Panik. Frankreich ist am Sonntag nicht zu Österreich geworden, auch wenn jetzt im Ausland gerne so gelästert wird. Frankreich ist nur auf dem Papier nach rechts gerückt - durch einen Ausrutscher, den man auch als Unfall bezeichnen kann.
SPIEGEL ONLINE: Der auch wieder repariert werden kann?
Strauss: Ja und nein. Selbstverständlich werden sich beim zweiten Wahlgang am 5. Mai sehr viel mehr Leute beteiligen und Chirac wählen. Aber sie sagen sich: Wir müssen jetzt Chirac wählen, obwohl wir ihn eigentlich nicht mögen. Wir wählen einen Rechten, um ganz rechts zu vermeiden. Identifizieren werden sich viele seiner Wähler aber nicht mit ihm als ihr politisches Leitbild, auch wenn er sich momentan als großer Einiger der Demokraten verkaufen kann. Doch für viele setzt sich der Unfall mit seiner Wahl fort. Erst im Juni bei den Parlamentswahlen wird der Unfall wieder repariert, allerdings auch mit einem Folgeschaden.
SPIEGEL ONLINE: Welchem?
"Ich schäme mich, Franzose zu sein" - Pikierter Demonstrant in Paris
In dieser "dritten Runde" wird absehbar das Linksbündnis gewinnen, weil viele wieder gutmachen wollen, was sie jetzt verursacht haben. Und dann wird absehbar wieder jene Cohabitation entstehen. Und damit tritt genau die lähmende Pattsituation ein, die es jahrelang zwischen Rechts und Links gab. Darüber zeigen sich viele meiner französischen Gesprächspartner jetzt schon ziemlich verzweifelt.
SPIEGEL ONLINE: Hätten die Sozialisten von vornherein lieber einen jüngeren, dynamischeren Kandidaten als Jospin aufstellen sollen, um dieses Desaster zu vermeiden?
Strauss: Das wäre gewiss eine gute Entscheidung gewesen. Denn der Überdruss an ihrem jahrzehntelangen Matador Jospin war einfach zu groß, zumal Jospin das Charisma fehlte, das Chirac ausgezeichnet hat. Der ist im Gegensatz zu ihm für viele Franzosen ein charmanter Held. Und das, obwohl er so viel Dreck am Stecken hat, dass er gewiss einen Prozess an den Hals bekommen hätte, würde er nicht wiedergewählt. Daher ist dieses Ergebnis für ihn sogar politisch überlebenswichtig.
SPIEGEL ONLINE: Nun wird täglich für ihn demonstriert. Gestern nahm Chirac sogar selbst an einer dieser Großdemos teil, um seine "Liebe zur Republik" auszudrücken, dabei sprach er sich klar für Europa und gegen Fremdenfeindlichkeit aus. Hält diese politische Aufbruchstimmung denn auch über den zweiten Wahlgang hinaus an?
Strauss: Wenn es im Juni wieder zu dieser Pattsituation kommt, nicht. Dann ist die Lethargie der letzten Jahre schnell wieder da. Ein spanischer Journalist hat dieses Land hier am Wahltag treffend beschrieben: Frankreich sei ein "bon-weekend-land" geworden, in dem die 35-Stunden-Woche genossen wird, auch wenn es genau genommen nur eine 37-Stunden-Woche ist. Vom jetzigen Eifer wird dann viel wieder einschlafen.
SPIEGEL ONLINE: Aber bis zum 5. Mai hält der Wachzustand?
Strauss: Bis dahin wird mit Sicherheit Schwung in die Bude kommen, mit einem denkbaren Höhepunkt am 1.Mai, an dem viele Gruppen vereint ein Zeichen gegen Rechts setzen werden.
SPIEGEL ONLINE: Voraussichtlich wird Chirac in der Stichwahl das beste Ergebnis aller Zeiten für einen Präsidenten erzielen, nachdem er im ersten Wahlgang das schlechteste Ergebnis eines amtierenden Präsidenten erhielt. Schadet das seiner Autorität?
Strauss: Als ich ihn am Montag im Fernsehen sah, wie er salbungsvoll nichts außer Trivialitäten sagte und mit dem Brustton der Überzeugung Allgemeinplätze verkündete, habe ich sehr an ihm gezweifelt. Aber ich kann mir selbst bei ihm nicht vorstellen, dass ihm ein überragendes Ergebnis zu Kopfe steigen würde. Er weiß schon, dass er blamiert worden ist, aber kann sich trösten, dass die Sozialisten noch geschlagener dastehen und die Kommunisten noch viel mehr. Denn die haben noch nie so wenige Stimmen bei einer Wahl in Frankreich erhalten.
SPIEGEL ONLINE: Fürchten Sie Konsequenzen für Frankreichs Europapolitik, zumal sich Le Pen zum starken Fürsprecher der Europagegner erhoben hat?
Strauss: Keineswegs. Denn wenn die zweite und dritte Runde so ausgehen, wie ich jetzt skizziert habe, spielt Le Pen keine Rolle mehr, und das Verhältnis zu Deutschland und Europa bleibt unverändert. Außer, dass natürlich in Deutschland und Österreich derzeit Schadenfreude herrscht. Aber wer cooler bleibt wird sehen: die Schadenfreude ist unberechtigt, denn einen richtigen Rechtsruck gibt es nicht. Auch keinen national französisch begründeten.
Das Gespräch führte Holger Kulick