Prozess würde große Probleme bereiten
US-Präsident George W. Bush hat am Wochenende die Forderung an die Taliban bekräftigt, alle Terroristen "auszuliefern". Aber was wäre, wenn die radikalen afghanischen Herrscher wirklich einlenken oder Osama bin Laden lebend gefangen genommen und dann in die USA gebracht würde?
Amerikanische Rechtsexperten sind sich einig: Das würde die Vereinigten Staaten vor immense Probleme stellen.
Die Diskussion über das "Was wäre, wenn?" ist unter den US-Juristen im vollen Gange - auch wenn niemand weiß, ob das genannte Szenario überhaupt realistisch ist. Folgt man der offiziellen Sprachregelung der Bush-Administration, dann ist es das Ziel, die Verantwortlichen der Terroranschläge zur Rechenschaft zu ziehen.
Das impliziert zumindest die Möglichkeit, bin Laden und dessen Gefolgsleuten in den USA den Prozess zu machen - ein Mammutunterfangen, "das das US-Rechtssystem bis zur äußersten Grenze auf den Prüfstand stellen würde".
Ist ein fairer Prozess möglich?
So formuliert es Eric Sterling, Anwalt und Präsident der Stiftung für Fragen der Kriminaljustiz in Washington. Er meint, dass das Ausmaß der bin Laden angelasteten Verbrechen und die Stimmung in der Bevölkerung "die Frage aufwerfen würde, ob sein Recht auf einen fairen Prozess in den USA gewährleistet werden könnte".
Zugleich glaubt Sterling nicht, dass es die USA jemals dulden würden, bin Laden einem anderen Land zum Prozess zu übergeben. "So wie die Stimmungslage der Amerikaner ist, würde kein Verfahren akzeptiert, in dem die Todesstrafe für bin Laden nicht zumindest eine Option wäre."
Auch andere Juristen halten das Problem, in den USA eine unvoreingenommene Geschworenen-Jury zu finden, für kaum lösbar. "Vielleicht in Guam, Puerto Rico oder auf den Jungfraueninseln", sagt Stephen Jones, der einst den inzwischen hingerichteten Bombenattentäter von Oklahoma, Timothy McVeigh, verteidigt hat.
Anwalt Gerry Spence glaubt, dass es schlichtweg "keinen Platz in der freien Welt gibt, in dem dieser dämonisierte Mann einen fairen Prozess erhalten würde". Die Bilder von New York und Washington seien so beherrschend; "man kann sie nicht aus den Köpfen der Geschworenen entfernen", sagt Spence in einem CNN-Interview.
Der Jurist meint aber trotzdem, das man unbedingt versuchen sollte, bin Laden lebend zu fassen und ihm nach bestem Wissen und Gewissen den Prozess zu machen. Es müssten die Gesetze der Demokratie angewendet werden, "sonst sind wir (vom Terrorismus) geschlagen worden".
Medienzirkus wie beim Simpson-Prozess
Andere Experten verweisen auf ein weiteres Problem: den immensen Medienwirbel, der mit einem Prozess gegen Bin Laden einhergehen würde.
"Stellen Sie sich vor, er käme lebend in unsere Hände.
Der Medienzirkus bei einem Verfahren würde Camp O.J. wie die Berichterstattung eines lokalen Fernsehsenders über einen Betrug beim Bingo aussehen lassen", hieß es in einem Kommentar der "Washington Post".
Der Autor bezog sich dabei auf den so genannten "Jahrhundertprozess" gegen den des Doppelmordes beschuldigten Ex-Footballstar O.J. Simpson, bei dem Hunderte von Journalisten vor dem Gerichtsgebäude kampiert hatten.
"In jeder Woche würde ein Schulbus entführt"
Der Kommentator warnt auch vor der Gefahr von Terrorakten mit dem Ziel massiver Einschüchterung von Richtern, Verteidigern und Geschworenen. Er sähe aber auch keine Lösung darin, bin Laden vor ein internationales Gericht zu stellen - etwa den geplanten Internationalen Strafgerichtshof, dem die USA in der vorgesehenen Form ohnehin nicht beitreten wollen: Sie haben den entsprechenden Vertrag von 1998 zur Schaffung des Tribunals nicht ratifiziert.
Der Autor meint, bin Laden würde von einem solchen Gericht nicht zur Todesstrafe verurteilt werden. "Das würde bedeuten, dass jede Woche ein anderer Schulbus entführt wird. (...) Er (bin Laden) wäre binnen weniger Wochen freigepresst."
Viele Juristen, vor allem aus liberalen Kreisen, würden indessen ein internationales Tribunal immer noch für die beste Lösung halten - auch ohne die Möglichkeit der Todesstrafe.
Anwalt Stanley Cohen glaubt jedoch absolut nicht, dass sich bin Laden jemals lebendig in Handschellen "vor ein Gericht schleifen" lassen würde. "Er würde sich eher töten. " Die meisten Rechtsexperten stimmen ihm zu und äußern unter der Hand die Einschätzung, dass angesichts der zu erwartenden Probleme auch das Interesse der US-Regierung an einem lebend gefassten bin Laden "sehr mäßig" sei.
Von Gabriele Chwallek, Deutsche Presse-Agentur
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