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An Wall Street ist vorerst kein Ende der atemberaubenden Kursvolatilität absehbar. Das Klima in den Handelssälen gleicht geradezu dem in der Natur. Dort fegen nach den wilden Herbststürmen der vergangenen Wochen schon die ersten eisigen Winterwinde aus dem kanadischen Norden über das Land - und auch den Maklern wurde in diesem Jahr kein "Indian Summer" vergönnt. Von der viel beschworenen Jahresend-Rally, die zahlreiche Auguren jüngst voraussagten, ist derzeit noch nichts zu spüren. Ein kräftiger Aufschwung zum Ende des Jahres kann zwar noch immer eintreten; doch selbst optimistische Börsengurus glauben nun, dass der Erholungsspielraum bis zu den Präsidentschaftswahlen am 7. November recht eng beschränkt sein dürfte.
Allerdings beschäftigt es die Märkte weniger, ob Al Gore oder George W. Bush ins Weiße Haus einziehen wird. Vielmehr macht man sich Sorgen um die künftige Gewinnentwicklung, die Erdölpreise und die Euro-Schwäche. Besonders hartnäckig hält sich die Nervosität im Technologiesektor, während sich die Anleger bei den Titeln der alten Wirtschaft, die vor einem Jahr noch viel geschmäht wurden, wieder eher geborgen fühlen. Bei den Technologie-Aktien scheint vor allem die Null-Toleranz-Mentalität zu regieren, wenn die "Flüsterprognosen" um einen Penny verfehlt werden. Das hatte etwa der schwere, fast 40-prozentige Kurssturz von Nortel Networks unterstrichen. Eine rigorosere Trennung der Spreu vom Weizen ist auch an den Märkten für Unternehmensanleihen zu beobachten. Dort haben sich die Zinsspreads zwischen Schuldnern unterschiedlicher Bonität empfindlich ausgedehnt, die Emissionen von Hochzinsanleihen sind massiv eingebrochen.
Wachstumsverlangsamung überrascht
Noch kaum verdaut hat der Markt die unerwartet starke Verlangsamung des Wirtschaftswachstums im dritten Quartal. Analysten an Wall Street hatten ein reales Wachstum des Bruttoinlandsprodukts um 3,5% (Jahresrate) erwartet, doch das Department of Commerce kam in einer ersten Schätzung lediglich auf einen Zuwachs von 2,7%. Das entsprach weniger als der Hälfte der annualisierten Expansion im Vorquartal. Im Durchschnitt des ersten Semesters hatte die Rate noch 5,2% betragen, nach 4,2% im vorigen Jahr.
Zinsstrukturkurve bleibt invers
Einige Wall-Street-Ökonomen kündigten am Wochenende in Reaktion auf die Veröffentlichung eine Dämpfung ihrer Wachstumsprognosen an und warnten, dass sich nun noch eine zusätzliche Verlangsamung der Gewinnentwicklung abgezeichnet haben dürfte. Ernsthaft befürchtet wird eine Rezession derzeit allerdings noch nicht. Dennoch kursieren schon erste Spekulationen über eine Zinssenkung der Notenbank Ende dieses Jahres oder Anfang 2001. Für die nächste Sitzung des Offenmarktausschusses der Fed am 15. November wird mit einer Beibehaltung des bisherigen zinspolitischen Kurses gerechnet. Vom Tisch scheinen jegliche Spekulationen über steigende Zinsen zu sein.
Die Zinsertragskurve der amerikanischen Staatsanleihen weist weiterhin einen deutlich inversen Verlauf auf. Im allgemeinen Urteil signalisiert das aber kaum eine Rezession. Ausschlaggebend sind vielmehr die starken Schuldentilgungen des Staates. Tatsächlich steigt die Zinsstrukturkurve am Markt für Firmenbonds, und die Spreads zwischen mehrjährigen Anleihen und dreimonatigen Commercial Paper sowie zwischen Triple-A-Anleihen und "BAA"-Bonds liegen im Rahmen der letzten zwei Jahre. Sie erinnern noch bei weitem nicht an die Verhältnisse vor der letzten Rezession.
Vorbehalte gegenüber Technologiewerten
Wenngleich sich die Saison der Quartalsberichte langsam dem Ende neigt, hält die laufende Woche noch einiges an Sprengstoff bereit. So stehen im zunehmend von Volatilität geprägten Telekomsektor noch die Resultate von Verizon Communications und Qualcomm aus. Zudem werden mit einiger Spannung die Ergebnisse von Pharmacia und Procter & Gamble erwartet. Zu den wichtigsten Konjunkturdaten, die in dieser Woche veröffentlicht werden, zählen Angaben zum Konsumentenvertrauen und zu den Verkäufen neuer Häuser im September (Dienstag); am Freitag folgen die Arbeitsmarktdaten für den Oktober.
Bisher fielen die Gewinnmeldungen der US-Unternehmen für das dritte Quartal tatsächlich besser aus, als es die Gewinnwarnungen vieler Unternehmen hatten erwarten lassen. Nach Angaben der Analysten von IBES haben von den Unternehmen des S & P 500, die inzwischen ihre Zwischenberichte vorgelegt haben (etwa zwei Drittel), bloß 17% enttäuscht. 60% überraschten positiv, und 25% erfüllten die Konsensprognosen. Dabei erzielten die Unternehmen im Durchschnitt immer noch ein stattliches Gewinnwachstum von 16,7%. Das lag zwar unter den 21% im Vorquartal, doch immerhin noch 2,5 Prozentpunkte über der Konsensschätzung und auch markant über der jahresdurchschnittlichen 10-prozentigen Expansion, die seit 1995 gemessen wird.
Der Horizont der Anleger reicht jedoch über das letzte Quartal weit hinaus. Offensichtlich wird befürchtet, dass die Zinserhöhungen der Fed, der schwache Euro und die höheren Erdölpreise den Margendruck weiter verschärfen werden. Der Chefökonom von Credit Suisse First Boston, Neal Soss, stellte in seinem jüngsten, noch vor den BIP-Daten publizierten Wochenbericht heraus, dass mittlerweile auch der Kaufelan ausländischer Investoren nachgelassen habe. Jedenfalls habe sich die Expansion der Nettoanlagen und Direktinvestitionen spürbar verlangsamt.
Ein Haus mit zwei Ansichten
Die Gewinnsorgen überschatten in erster Linie den Technologiesektor, weil dort immer noch viele Unternehmen "wie unter perfekten Verhältnissen bewertet" sind. Steve Milunovich, Technology-Analyst von Merrill Lynch, veröffentlichte kürzlich seinen ersten Research-Bericht. Der Report fiel durch seine zurückhaltende kurzfristige Lagebeurteilung auf, die etwas im Gegensatz zu der offiziellen Empfehlung der Investmentbank (Technologie ein "mäßiges Übergewicht" geben) steht. Milunovich zufolge sind noch längst nicht alle Voraussetzungen für einen nachhaltigen Aufschwung gegeben. Zu den wunden Punkten gehörten die teilweise immer noch gewagten Bewertungen, das Spekulationsfieber im optoelektronischen Bereich und auch die hohe Gewichtung des Tech-Sektors bei den Anlagefondsgeldern. Zu den kaum rasch klärbaren Unsicherheiten des Segments zählten überdies Fragen nach der künftigen PC-Nachfrage, dem Status des Halbleiterzyklus und der weiteren Entwicklung der Telekominvestitionen. Auf längere Sicht bleibt Milunovich jedoch optimistisch: "Wo sonst als im Technologiesektor gibt es denn auch überlegene Wachstumsmöglichkeiten?" Zu den attraktiven Bereichen werden im Bericht die Sparten Computerdienste, Software und Speicherung gerechnet.
Gefahr bei Doppelsieg
Wall Street zieht es vor, wenn sich Politiker möglichst aus der Wirtschaft heraushalten. Und die meisten Börsianer dürften grundsätzlich eher mit Bush symphatisieren, der etwas wirtschaftsliberalere Positionen vertritt als Gore. Wie viel ein Präsident wirtschaftlich in seiner Amtszeit bewegen kann, ist aber umstritten. Oft ist ja auch schon Notenbankchef Greenspan als der wirkliche Präsident der US-Wirtschaft bezeichnet worden. Jeder Parteiwechsel im Weißen Haus wirft aber natürlich auch Fragen nach Kontinuität und Amtserfahrung auf. Von Bedeutung ist aber nicht nur, wer die Präsidentschaftswahlen gewinnen wird. Mit großer Spannung wird auch abgewartet, ob die Republikaner oder die Demokraten im Repräsentantenhaus die Mehrheit erringen werden. Marktökonom Soss befürchtet, dass ein "clean sweep", das heißt ein Doppelsieg der einen oder anderen Partei, eher negativ für den Bondmarkt wäre, da bei einem solchen Wahlausgang eine Lockerung der finanzpolitischen Disziplin befürchtet werden müsste.
Die Wahlchancen der Republikaner und Demokraten versuchen derzeit nicht nur Meinungsumfragen zu erfassen. Eine bemerkenswert hohe Prognosequalität haben bisher auch die an der Universität von Iowa organisierten Futures-Märkte bewiesen. Gemäß den letzten Preisdaten am Iowa Electronic Market ist mit einem Sieg von Bush zu rechnen, sein Kontrakt lag bei 58,6 Cent, jener von Gore bei 41,8 Cent. In einem harten Kopf-an-Kopf-Rennen stehen die beiden Parteien aber weiterhin im Ringen um das Repräsentantenhaus.