JUSO-VORSITZENDER NIELS ANNEN
"Schröders Weg ist abenteuerlich"
Von Holger Kulick
Deutschland müsse zum Vorreiter für zivile Konfliktlösungen in Mittelasien werden, fordert Niels Annen, der Bundesvorsitzende der SPD-Jungsozialisten, im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE. Der Weg in einen undefinierten Krieg sei falsch. Annen rechnet mit Parteiaustritten, falls sich die SPD zu weit von ihrer "Identität" als Friedenspartei entfernt.
SPIEGEL ONLINE: Wie solidarisch sind die Jusos noch mit Gerhard Schröder und Amerika?
Niels Annen: Ich könnte mir das einfach machen und sagen, alles ist schlecht, was jetzt in Afghanistan passiert. Das tue ich nicht. Wir haben von Anfang an gesagt, uneingeschränkte Solidarität kann es nicht geben, aber konstruktive und kritische Solidarität muss sein. Das meint: Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit muss gewahrt bleiben, und das Völkerrecht ist bindend.
SPIEGEL ONLINE: Geschieht das nicht?
Annen: Streubombeneinsätze haben nichts mit einem zielgerichtetem Einsatz gegen den Terrorismus zu tun. Zudem haben die Amerikaner Stück für Stück die ursprüngliche Vorgehensweise der Anti-Terror-Allianz umdefiniert. Es geht immer weniger um zielgerichtete Verfolgung von Terroristen. Stattdessen wird ein konventioneller Krieg mit dem Ziel geführt, das ganze Land zu zermürben, um eine Regierung zu stürzen. Deshalb halte ich den Antrag der Bundesregierung für falsch, weil Deutschland damit Teil der amerikanischen Militärstrategie wird.
SPIEGEL ONLINE: Aber die deutschen Truppen sollen doch gar nicht bombardieren.
Annen: Wenn wir mit eigenen Soldaten in der Region agieren, dann muss die Bundesregierung wenigstens offen diese Vorgehensweise der USA kritisieren. Im Übrigen: Die Vorlage konkreter Beweise gegen Bin Laden sollte den Militäraktionen vorausgehen.
SPIEGEL ONLINE: Hat Ihnen denn die Regierungserklärung des Kanzlers am Donnerstag nicht weitergeholfen?
Annen: Nein. Gerhard Schröder hat zwar auch nichtmilitärische Aspekte behandelt, aber er hat nicht plausibel gemacht, wofür die deutschen Soldaten wirklich eingesetzt werden sollen. Außerdem halte ich einen Vorratsbeschluss in so einer wesentlichen Frage für grundfalsch. Die Abgeordneten wären schlecht beraten, sich ihre Entscheidungskompetenz aus der Hand nehmen zu lassen.
SPIEGEL ONLINE: Käme es denn den Zweiflern entgegen, diesen Vollmachtszeitraum von zwölf auf sechs Monate zu verkürzen?
Annen: Diese trickreiche Idee stammt von Edmund Stoiber, um der Koalition mitten im Wahlkampf noch einmal eine Zerreißprobe zu bescheren. Deshalb meine ich: Entweder der Bundestag entscheidet jetzt ausschließlich für einen ganz konkreten Einsatz der Bundeswehr, oder er lässt es.
SPIEGEL ONLINE: Und stattdessen?
Annen: Johannes Raus Forderung beim Wort nehmen: Das beste Mittel gegen den Terrorismus ist eine gerechte internationale Ordnung. Nach dem 11. September war der Bundeskanzler klug auf die Amerikaner zugegangen, um einen US-Gegenschlag im Alleingang zu verhindern. Dafür zolle ich ihm Respekt. Jetzt muss er verhindern, dass dieser Krieg weiter eskaliert.
SPIEGEL ONLINE: Welchen Weg schlagen Sie vor?
Annen: Schröder muss endlich den politischen deutschen Beitrag in den Vordergrund seiner Reden und seines Handelns rücken: Deeskalation, humanitäre Hilfe und eine Perspektive für die Menschen in der Region.
SPIEGEL ONLINE: Vielleicht weiß die Regierung aber gar keinen Ausweg.
Annen: Ich erwarte auch keine Patentlösungen. Aber die Führung in dieser Frage. Gerhard Schröder hat mit dem Begriff der "Enttabuisierung des Militärischen" die völlig falsche Debatte in Gang gesetzt. Wichtig wäre, für eine konsequentere Stärkung der Vereinten Nationen einzutreten, und sie durchaus auch mit einem eigenen militärisch-polizeilichen Stand-Kontingent auszustatten. Dazu dürfen dann auch Bundeswehrsoldaten gehören.
SPIEGEL ONLINE: Brenzlig wären solche Einsätze aber auch.
Annen: Deshalb braucht auch das Völkerrecht einen sehr viel höheren Stellenwert. Aber nicht sektoral - hier mit einem Tribunal über den Ruanda-Konflikt oder da mit einem über Jugoslawien. Das muss man den USA vorhalten: Warum sträuben sie sich gegen einen internationalen Gerichtshof? Auch so etwas durchzusetzen, wäre Teil einer glaubwürdigeren Anti-Terror-Allianz.
SPIEGEL ONLINE: Regiert ihnen Schröder zu sehr von oben herab - mit allwissender Kohlscher Attitüde?
Annen: Ein Bundeskanzler muss auch politische Linien vorgeben können. Bislang konnte ich die Schritte des Bundeskanzlers alle gutheißen oder zumindest nachvollziehen, bei dieser Entscheidung kann ich das nicht mehr. Schon die Irritationen über die Frage, ob es überhaupt eine konkrete Anfrage der US-Regierung gab, zeigt das derzeitige Vermittlungsproblem dieser Bundesregierung. Unbefriedigend finde ich auch immer noch den Umgang mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das keinen "Vorratsbeschluss" über die Entsendung deutscher Soldaten vorgesehen hat.
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SPIEGEL ONLINE: Rechnen Sie jetzt mit Parteiaustritten aus Protest?
Annen: Die Gefahr ist ganz real. Es gibt sogar prominente Mitglieder, die mit dem Gedanken gespielt haben, der Landtagspräsident aus Mecklenburg-Vorpommern Hinrich Kuessner zum Beispiel. Aber ich kann nur dazu auffordern, sich einen solchen Schritt sehr gründlich zu überlegen. Wir haben nur Rot-Grün als gesellschaftliche Reformkraft, eine andere sehe ich nicht. Und was ist die Alternative? Wie die Beschlüsse zu Afghanistan in einer Großen Koalition aussehen würden, möchte ich gar nicht erst wissen.
SPIEGEL ONLINE: Dann braucht die SPD ihren Parteitag am 19. November dringend als Ventil?
Annen: Eher als ein ganz selbstverständliches Forum für eine sehr offene, kritische Debatte. Den Unmut an der Basis kann schließlich keiner leugnen.
SPIEGEL ONLINE: Glauben Sie denn, dass der Parteivorsitzende Schröder offenen Streit überhaupt will? Der Bundeskanzler hat der IG Metall gerade erst einen Maulkorb verpassen wollen.
Annen: Das war unangebracht und unklug. Aber jeder redet mal Blödsinn. Er ist auch nicht der alleinige Herrscher über den Diskurs in der Partei. Im Parteivorstand hat er einmal betont, dass ihm eine kritische Öffentlichkeit lieber ist als Hurrapatriotismus. Ich hoffe, er meint das ernst.
SPIEGEL ONLINE: Auch der Weimarer SPD-Abgeordnete Edelbert Richter hat uns gesagt: "Ich spüre immer mehr den alten Osten" im Stil, wie plötzlich Meinung vorgegeben wird.
Annen: Eine Partei, die solche Sensibilitäten, besonders im Osten, nicht ernst nimmt, ist schlecht beraten und handelt sich gravierende politische Probleme ein. Wir Jusos spüren das doch auch. In Berlin haben 30 Prozent der Jungwähler PDS gewählt, und das nicht nur im Osten. Dort herrscht eine große Ablehnung des Krieges vor, schon deshalb, weil diese jungen Menschen den Eindruck haben, dass die Regierung ihre Sorgen nicht ernst nimmt.
SPIEGEL ONLINE: Trauen Sie denn Ihrer Partei überhaupt so viel Wagemut zu, auf dem Parteitag offen zu streiten?
Annen: Das wird an jedem einzelnen liegen. Zumindest wir Jusos werden uns nicht den Mund verbieten lassen.
SPIEGEL ONLINE: Aber der Parteitag kommt nach dem Bundestagsbeschluss. Was nützt dann die Debatte noch?
Annen: Der Bundestag wird dann schon entschieden haben, das ist richtig. Damit sind aber noch keine Soldaten im Einsatz. Die Entscheidung darüber liegt danach bei der Regierung. Und eine Parteitagsentscheidung sollte doch bitte schön auch Einfluss auf das Regierungshandeln haben.
SPIEGEL ONLINE: Einige Mutige könnten ja am Dienstag schon in der Fraktion mit Nein votieren? Trauen die sich das?
Annen: Ich weiß, dass eine sehr große Zahl der Abgeordneten so denkt wie wir Jusos. Aber es gibt eben auch die nicht ganz unberechtigte Sorge, dass Deutschland jeglichen Einfluss auf die Anti-Terror-Allianz verliert, wenn wir uns jetzt nicht mit Soldaten beteiligen. Deswegen rate ich der Parteiführung: Selbst wenn es eine überwältigende Mehrheit für den Beschluss gibt, sollte sie nicht davon ausgehen, dass dort alle mit dieser Maßnahme einverstanden sind.
SPIEGEL ONLINE: Das bedeutet aber, dass die meisten kuschen werden, schon allein deshalb, weil SPD-Generalsekretär Franz Müntefering die Abweichler in der Mazedonienfrage schon so streng abgemahnt hat?
Annen: Das war sehr unklug und schadet auch der Glaubwürdigkeit einer Partei. Abgeordnete sind in letzter Instanz nur ihrem Gewissen verpflichtet. Darüber gibt es keine Entscheidungsgewalt von Seiten der Parteiführung. Deshalb hoffe ich, dass sich so etwas nicht wiederholen wird.
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SPIEGEL ONLINE: Geht es nicht aber auch um die Rettung der Koalition durch diszipliniertes Abstimmen?
Annen: Eine eigene rot-grüne Mehrheit für diesen Beschluss als Junktim mit der Zukunft der Regierungskoalition zu verknüpfen wäre töricht. Der Kanzler wird eine Mehrheit im Deutschen Bundestag für seinen Vorschlag finden. Damit bleibt die Koalition handlungsfähig.
Es geht in dieser Frage für alle Abgeordneten um eine der gravierendsten Fragen deutscher Politik. Nicht um Koalitionen. Das sehen doch auch Wähler ein, die in dieser Grundsatzfrage genauso zerrissen sind wie viele Abgeordnete. Eine Partei dürfte gerade in dieser Frage viel glaubwürdiger abschneiden, wenn sie die Gewissensfreiheit ernst nimmt.
SPIEGEL ONLINE: Hat die SPD nicht auch ihren Ruf als Friedenspartei zu verlieren?
Annen: Das ist unser besonderes Dilemma, dessen Dimension viele noch gar nicht überschauen. Sicherlich: Die Debatte bei den Grünen ist zur Zeit noch eruptiver und emotionaler als bei uns, weil diese Entscheidung an die grünen Gründungswurzeln geht.
Aber auch alle SPD-Parteivorsitzenden von Brandt bis Schröder sind zu festlichen Anlässen durch die Partei getingelt und haben immer den alten Satz zitiert: Die SPD hat nie die Hand für die Entsendung deutscher Soldaten gehoben, das ist unsere Tradition als Friedenspartei. Damit bin auch ich sozialisiert worden. Die Gratwanderung als Partei lautet: Wir dürfen unsere Identität nicht verlieren und müssen gleichzeitig anerkennen, dass gegen den Terrorismus gehandelt werden muss.
SPIEGEL ONLINE: Wie könnte denn die alte Identität Anschluss an die neue Weltlage finden?
Annen: Wir brauchen vorrangig eine Debatte um die Kernpunkte sozialdemokratischer Außenpolitik. Hier kann der Parteitag ein deutliches Zeichen setzen. Dazu gehören der Vorrang für zivile Konfliktlösungen und Konfliktprävention, aber nicht nur durch 0,7 Prozent Entwicklungshilfe. Es geht auch darum, unser Mitspracherecht in IWF oder Weltbank konkret zu nutzen, Globalisierung gerecht zu gestalten. Und in diesem Fall: Wir müssen eine viel konkretere Perspektive für Afghanistan entwickeln.
SPIEGEL ONLINE: Sie fordern den "Feldherren" heraus.
Annen: Feldherrenmentalität möchte ich Schröder nicht unterstellen, auch er hat diese Situation nie gewollt. Nun hat er das Problem, dass er als Kanzler agieren muss und als Parteivorsitzender kommunizieren müsste.
SPIEGEL ONLINE: Werden denn Sie als Juso-Vorsitzender mit Ihrer Kritik überhaupt ernst genommen? Der Ruf der Jusos ist doch inzwischen eher der von zahmen Spielkindern der SPD im Buddelkasten.
Annen: Diese Wahrnehmung ist mir nicht unbekannt. Hier hat die politische Kultur unserer Vorgängergenerationen tatsächlich viel kaputt gemacht. Aber wir sind als Verband deutlich jünger geworden, und dabei sowohl kritisch als auch konstruktiv gegenüber der Regierungspolitik. Jetzt haben wir sogar eine privilegierte Stellung in der SPD, weil wir ohne Fraktionszwang offen artikulieren können, was viele an der Basis oder in der Fraktion denken.
SPIEGEL ONLINE: Wenn die Fraktion aber am Dienstag so entscheidet wie geschehen, Bundeswehrsoldaten nicht zum Ramadan einzusetzen?
Annen: Moment! Ich kritisiere primär die US-Militärstrategie. Der Ramadan liefert mir dafür nicht die entscheidende Argumentation. In Afghanistan werden derzeit Massenbombardements und Streubomben eingesetzt. Das ist mit uns nicht zu machen. Es gibt keine zielgerichtete Aktion, keine Konzeption für die Zukunft und der Einsatz ist nicht verhältnismäßig. Dies gilt für uns nicht nur im Fastenmonat Ramadan. Gerhard Schröder hat gesagt: Militärische Abenteuer machen wir nicht mit. Aber was er jetzt macht, halte ich für abenteuerlich.
Das Interview führte Holger Kulick