Vor uns die Sintflut
Bei einer Korrektur des amerikanischen Leistungsbilanzdefizits droht Deutschland eine tiefe Rezession
Von Wolfgang Münchau
Die für uns wichtigste Konsequenz der
Wiederwahl von George W. Bush hat
nur indirekt etwas mit dem Krieg oder
dem transatlantischen Verhältnis zu tun,
sondern mit der Wirtschaft. Bush ist auf dem
besten Wege, den Defizitrekord von Ronald
Reagan zu brechen. Das amerikanische Leistungsbilanzdefizit
wird in diesem Jahr einen
Wert von sechs Prozent vom Bruttoinlandsprodukt
(BIP) erreichen. Vor vier Jahren bestand
ein großer Teil dieses Defizits aus Investionen
aus dem Ausland. Heute besteht es fast
nur noch aus Konsum. Die USA leben derart
über ihre Verhältnisse, dass eine harte Korrektur
unausweichlich ist. Keiner kann sagen,
wann sie kommen wird. Dass sie kommen
wird, damit sollte jeder Wirtschaftspolitiker in
Europa rechnen und Vorsorge treffen.
Die Konsequenzen dieser Korrektur sind
gigantisch, und zwar nicht nur für die USA,
sondern für die Weltwirtschaft insgesamt. In
Europa und insbesondere in Deutschland
sind wir darauf nicht vorbereitet. Hier geht es
nicht einfach um einen (wahrscheinlichen)
Verfall des Dollar, den man eventuell sogar
durch Devisenmarktinterventionen so einigermaßen
unter Kontrolle bringen könnte. Es
handelt sich um tektonische Verschiebungen
in der globalen Wirtschaftsnachfrage.
Ende des deutschen Exports
Zwei der berühmtesten internationalen Ökonomen,
Maurice Obstfeld und Kenneth Rogoff*,
haben dieses Thema vor kurzem analysiert
und eine alarmierende Schlussfolgerung
gezogen: Eine Korrektur des amerikanischen
Leistungsbilanzdefizits, ausgelöst etwa durch
eine Finanzkrise oder einen Crash an den Immobilienmärkten,
würde zu einem dramatischen
Verfall des Dollar führen, zwischen 20
und 40 Prozent – eine Größenordnung, bei der
Interventionen nichts mehr bewirken können.
Eine 40-prozentige Abwertung des Dollar
würde, je nachdem ob man die Rechnung
auf der Grundlage des Euro-Dollar- oder des
Dollar-Euro-Wechselkurses tätigt, einen Kurs
von 1,80 € beziehungsweise 2,20 € bedeuten.
Bei derartigen Kursen würde der deutsche Export
nicht einbrechen. Er würde aufhören.
Nach dem viel zu kurzen und schwachen
Aufschwung droht dem Euro-Gebiet, allen voran
Deutschland, eine tiefe Rezession. Wenn
sich das amerikanische Leistungsbilanzdefizit
schließt, kommt es zu einer Kettenreaktion.
Sie fängt damit an, dass die Amerikaner
weniger inländische Güter und vor allem weniger
heimische Dienstleistungen konsumieren.
Es folgen der Verfall des Dollar und eine
Verschiebung der globalen Nachfrage zu
Ungunsten der USA und zu Gunsten Europas
und Asiens. Man könnte meinen, dies sei aus
europäischer Sicht zu begrüßen. Das wäre
aber nur dann der Fall, wenn es den Europäern
und den Asiaten gelänge, im heimischen
Dienstleistungssektor Nachfrage zu erzeugen,
denn die Europäer werden nicht mehr amerikanisch
produzierte Waren kaufen. Das hat
etwas mit Präferenz zu tun, aber auch damit,
dass die Amerikaner nicht mehr so viele Exportgüter
wie einst produzieren.
Nur sind die Dienstleistungssektoren in
Europa, und vor allem in Deutschland, dermaßen
sklerotisch, dass man sich hier nicht
zu viel versprechen sollte. Die Sektoren, auf
die es ankommt, sind der Einzelhandel und
die Finanzdienstleister. Den deutschen Einzelhandel
plagt eine ganze Reihe von uralten
Strukturproblemen. Die Karstadt-Krise zeigt,
dass sich der deutsche Einzelhandel seit den
70er Jahren nicht weiterentwickelt hat. Im Internet-
Shopping ist Deutschland ein Entwicklungsland.
Nicht nur die Ladenschlusszeiten
sind ein Problem, auch die oligopolistische
Struktur eines Marktes, den die Einkaufsgenossenschaften
fest im Griff haben. Die
Sanierung des deutschen Einzelhandels wird
nur durch einen Prozess der kreativen Zerstörung
funktionieren, ganz im Sinne Schumpeters.
Die deutschen Finanzdienstleister sind
ähnlich ineffizient. Wieso nehmen so wenige
Geschäfte Kreditkarten an? Warum erhalten
22-jährige Berufsanfänger keine hundertprozentigen
Hypotheken? Auch im Finanzsektor
ist Deutschland in der Entwicklung irgendwann
in den 70er Jahren stehen geblieben.
Im Bann der Industrie
Was haben Einzelhandel und Finanzdienstleister
mit dem Dollar zu tun? Wenn der Dollar
einbricht, wären wir nicht in der Lage, den
Verlust an Arbeitsplätzen im Exportbereich zu
kompensieren, indem sich die Nachfrage in
den Dienstleistungssektor kanalisiert. Es
stimmt sicherlich, dass in Deutschland die
Industrie eine größere Rolle spielt als in den
USA. Aber selbst in Deutschland macht die Industrie
nur ein Viertel des BIP aus (15 Prozent
in den USA), mit sinkender Tendenz. In der
modernen Wirtschaftsforschung spielt dieser
so genannte „non-traded goods sector“ im
Gegensatz zum klassischen Warenhandel eine
immer wichtigere Rolle. In der deutschen Debatte
ist dieser Sektor nahezu nicht existent.
Dort geht es immer nur um die Auto- oder
Chemieindustrie in der irrigen Annahme,
Volkswagen stünde repräsentativ für die
Volkswirtschaft insgesamt.
Mit einem vorsintflutlichen Dienstleistungssektor
und einer vorsintflutlichen Wirtschaftspolitik
ist Deutschland für die Sintflut
nicht gerüstet. Dabei braucht Deutschland
das Rad nicht neu zu erfinden. Die Bemühungen
der Europäischen Kommission zur
Liberalisierung der Dienstleistungsmärkte,
insbesondere der Finanzdienstleister, sind
ein Schritt in die richtige Richtung und sollten
von der Bundesregierung unterstützt werden.
Stattdessen starrt der Bundeskanzler wie gebannt
auf die Industrie. Hier ist eine Politikwende
dringend geboten.
*The unsustainable US current account position
revisited, Maurice Obstfeld and Kenneth Rogoff,
NBER Working Paper 10869
E-MAIL: wolfgang.munchau@ft.com
Wolfgang Münchau ist Kolumnist der Financial
Times und der FTD. Er schreibt jeden Mittwoch
an dieser Stelle.
Bei einer Korrektur des amerikanischen Leistungsbilanzdefizits droht Deutschland eine tiefe Rezession
Von Wolfgang Münchau
Die für uns wichtigste Konsequenz der
Wiederwahl von George W. Bush hat
nur indirekt etwas mit dem Krieg oder
dem transatlantischen Verhältnis zu tun,
sondern mit der Wirtschaft. Bush ist auf dem
besten Wege, den Defizitrekord von Ronald
Reagan zu brechen. Das amerikanische Leistungsbilanzdefizit
wird in diesem Jahr einen
Wert von sechs Prozent vom Bruttoinlandsprodukt
(BIP) erreichen. Vor vier Jahren bestand
ein großer Teil dieses Defizits aus Investionen
aus dem Ausland. Heute besteht es fast
nur noch aus Konsum. Die USA leben derart
über ihre Verhältnisse, dass eine harte Korrektur
unausweichlich ist. Keiner kann sagen,
wann sie kommen wird. Dass sie kommen
wird, damit sollte jeder Wirtschaftspolitiker in
Europa rechnen und Vorsorge treffen.
Die Konsequenzen dieser Korrektur sind
gigantisch, und zwar nicht nur für die USA,
sondern für die Weltwirtschaft insgesamt. In
Europa und insbesondere in Deutschland
sind wir darauf nicht vorbereitet. Hier geht es
nicht einfach um einen (wahrscheinlichen)
Verfall des Dollar, den man eventuell sogar
durch Devisenmarktinterventionen so einigermaßen
unter Kontrolle bringen könnte. Es
handelt sich um tektonische Verschiebungen
in der globalen Wirtschaftsnachfrage.
Ende des deutschen Exports
Zwei der berühmtesten internationalen Ökonomen,
Maurice Obstfeld und Kenneth Rogoff*,
haben dieses Thema vor kurzem analysiert
und eine alarmierende Schlussfolgerung
gezogen: Eine Korrektur des amerikanischen
Leistungsbilanzdefizits, ausgelöst etwa durch
eine Finanzkrise oder einen Crash an den Immobilienmärkten,
würde zu einem dramatischen
Verfall des Dollar führen, zwischen 20
und 40 Prozent – eine Größenordnung, bei der
Interventionen nichts mehr bewirken können.
Eine 40-prozentige Abwertung des Dollar
würde, je nachdem ob man die Rechnung
auf der Grundlage des Euro-Dollar- oder des
Dollar-Euro-Wechselkurses tätigt, einen Kurs
von 1,80 € beziehungsweise 2,20 € bedeuten.
Bei derartigen Kursen würde der deutsche Export
nicht einbrechen. Er würde aufhören.
Nach dem viel zu kurzen und schwachen
Aufschwung droht dem Euro-Gebiet, allen voran
Deutschland, eine tiefe Rezession. Wenn
sich das amerikanische Leistungsbilanzdefizit
schließt, kommt es zu einer Kettenreaktion.
Sie fängt damit an, dass die Amerikaner
weniger inländische Güter und vor allem weniger
heimische Dienstleistungen konsumieren.
Es folgen der Verfall des Dollar und eine
Verschiebung der globalen Nachfrage zu
Ungunsten der USA und zu Gunsten Europas
und Asiens. Man könnte meinen, dies sei aus
europäischer Sicht zu begrüßen. Das wäre
aber nur dann der Fall, wenn es den Europäern
und den Asiaten gelänge, im heimischen
Dienstleistungssektor Nachfrage zu erzeugen,
denn die Europäer werden nicht mehr amerikanisch
produzierte Waren kaufen. Das hat
etwas mit Präferenz zu tun, aber auch damit,
dass die Amerikaner nicht mehr so viele Exportgüter
wie einst produzieren.
Nur sind die Dienstleistungssektoren in
Europa, und vor allem in Deutschland, dermaßen
sklerotisch, dass man sich hier nicht
zu viel versprechen sollte. Die Sektoren, auf
die es ankommt, sind der Einzelhandel und
die Finanzdienstleister. Den deutschen Einzelhandel
plagt eine ganze Reihe von uralten
Strukturproblemen. Die Karstadt-Krise zeigt,
dass sich der deutsche Einzelhandel seit den
70er Jahren nicht weiterentwickelt hat. Im Internet-
Shopping ist Deutschland ein Entwicklungsland.
Nicht nur die Ladenschlusszeiten
sind ein Problem, auch die oligopolistische
Struktur eines Marktes, den die Einkaufsgenossenschaften
fest im Griff haben. Die
Sanierung des deutschen Einzelhandels wird
nur durch einen Prozess der kreativen Zerstörung
funktionieren, ganz im Sinne Schumpeters.
Die deutschen Finanzdienstleister sind
ähnlich ineffizient. Wieso nehmen so wenige
Geschäfte Kreditkarten an? Warum erhalten
22-jährige Berufsanfänger keine hundertprozentigen
Hypotheken? Auch im Finanzsektor
ist Deutschland in der Entwicklung irgendwann
in den 70er Jahren stehen geblieben.
Im Bann der Industrie
Was haben Einzelhandel und Finanzdienstleister
mit dem Dollar zu tun? Wenn der Dollar
einbricht, wären wir nicht in der Lage, den
Verlust an Arbeitsplätzen im Exportbereich zu
kompensieren, indem sich die Nachfrage in
den Dienstleistungssektor kanalisiert. Es
stimmt sicherlich, dass in Deutschland die
Industrie eine größere Rolle spielt als in den
USA. Aber selbst in Deutschland macht die Industrie
nur ein Viertel des BIP aus (15 Prozent
in den USA), mit sinkender Tendenz. In der
modernen Wirtschaftsforschung spielt dieser
so genannte „non-traded goods sector“ im
Gegensatz zum klassischen Warenhandel eine
immer wichtigere Rolle. In der deutschen Debatte
ist dieser Sektor nahezu nicht existent.
Dort geht es immer nur um die Auto- oder
Chemieindustrie in der irrigen Annahme,
Volkswagen stünde repräsentativ für die
Volkswirtschaft insgesamt.
Mit einem vorsintflutlichen Dienstleistungssektor
und einer vorsintflutlichen Wirtschaftspolitik
ist Deutschland für die Sintflut
nicht gerüstet. Dabei braucht Deutschland
das Rad nicht neu zu erfinden. Die Bemühungen
der Europäischen Kommission zur
Liberalisierung der Dienstleistungsmärkte,
insbesondere der Finanzdienstleister, sind
ein Schritt in die richtige Richtung und sollten
von der Bundesregierung unterstützt werden.
Stattdessen starrt der Bundeskanzler wie gebannt
auf die Industrie. Hier ist eine Politikwende
dringend geboten.
*The unsustainable US current account position
revisited, Maurice Obstfeld and Kenneth Rogoff,
NBER Working Paper 10869
E-MAIL: wolfgang.munchau@ft.com
Wolfgang Münchau ist Kolumnist der Financial
Times und der FTD. Er schreibt jeden Mittwoch
an dieser Stelle.
Gruß Pichel