An der Wall Street glauben die Haussiers einen Grund zum Feiern zu haben: Der Dow- Jones-Index für Industriewerte hat am Montag nach einer Serie ununterbrochener kleinerer Sprünge ein neues zyklisches Hoch erklommen und nähert sich damit der psychologisch bedeutsamen Marke von 10 000 Punkten. Der Standard & Poor’s 500 Index (S&P 500) hinkt zwar etwas hinterher, befindet sich aber wenigstens auf den ersten Blick auf gutem Weg zu einem neuen zyklischen Höchststand. Das Ganze hat nach dem Urteil nicht weniger technisch orientierter Analysten jedoch einige Schönheitsfehler. Zum einen mangele es dem laufenden Aufschwung an Dynamik. Zum anderen lasse die Aufwärtsbewegung Breite vermissen, heißt es. Als offenkundigen Ausdruck dieser Mängel heben die technischen Analysten hervor, dass schon seit längerem keine Zugpferde mehr zu erkennen seien, nachdem die Technologiewerte diese Eigenschaft eingebüßt hätten. Trotz aller Bedenken sehen die meisten technischen Analysten keinen unmittelbaren Anlass für Gefahr. Sie vermuten, dass der Markt noch immer die Kraft hat, in Grenzen weiter nach oben voranzukommen. Die These, er stünde vor einer Korrektur von mindestens 15 Prozent, ja möglicherweise sogar vor dem Beginn einer neue Baissephase, war nach dem Urteil kritischer Analysten zu weit verbreitet, als dass sie wirklich hätte aufgehen können. Nach Lage der Dinge bleibe nur die Voraussage, dass die weithin beachteten Indizes noch weiter steigen dürften, als es die „herrschende Meinung“ bisher erwarte. Konkret bedeutet dies, dass der S&P 500 die Marke von 1100 Punkten überschreiten könnte, bevor eine größere Korrektur wahrscheinlicher wird.
Walter Murphy, der früher bei Merrill Lynch vorwiegend nach der „ElliottWave Theory“ analysiert hat und nun unabhängig arbeitet, erwartet, dass die nächsten Wochen an der Wall Street von besonderer Bedeutung sein könnten. Er stellt fest, dass verschiedene zyklische Indikatoren auf einen nahenden Kursgipfel hindeuten. Vor allem das Elliott-Modell lasse darauf schließen, dass der jüngste Aufschwung das letzte „Bein“ der im Juli entstandenen Aufwärtsbewegung, ja vielleicht sogar der gesamten seit März laufenden Hausse sein könne. Zudem habe sich die noch vor vierWochen verzeichnete Skepsis unter den Börsianern seither dem Punkt genähert, an dem von exzessivemOptimismus gesprochen werden müsse. Da Stimmungsindikatoren in der technischen Analyse Kontraindikatoren sind, wäre dies ein gewichtiges baisseträchtiges Signal. Murphy beobachtet jetzt beim S&P 500 die Marke von 1080 Punkten sehr aufmerksam. Sollte sie überschritten werden, wäre seiner Ansicht nach der Weg frei für einen Anstieg in die Zone zwischen 1121 und 1156 Punkten. Würde der Bereich um 992 Punkte unterschritten, wäre dies wohl das Ende der im Juli entstandenen Aufwärtsbewegung, erklärt der technische Aktienexperte. In diesem Fall könne „taktische“ Stützung erst bei 869 Punkten erwartet werden.
Jeffrey Saut, der auch technisch argumentierende Stratege von Raymond James, hat bei der Betrachtung des S&P 500 ebenfalls den Bereich von 1080 Punkten im Auge. Ein Überschreiten dieser Marke würde ihn von seiner seit einigen Wochen vorsichtigen, aber nicht pessimistischen Haltung abrücken lassen, erklärt er. Falls der Index hier aber scheitern sollte, kann es nach Meinung von Saut ungemütlich werden. Er hatte vor einigen Wochen bereits dargelegt, dass er bis Ende Oktober ungebrochene Kaufbereitschaft der amerikanischen Investmentfonds erwartet. Die Fondsmanager dürften aus Selbsterhaltungstrieb alles unternehmen, um bis zu diesem Zeitpunkt, dem typischen Ende ihres Geschäftsjahres, an der Aufwärtsbewegung teilzuhaben, argumentierte er.
David Rosenberg, der Chefstratege von Gluskin Sheff in Toronto, blickt wie Murphy kritisch auf die Stimmungsindikatoren. Er stellt fest, dass der einschlägige Indikator von Market Vane seit seinem Tief vom März bei 32 Prozent zuletzt auf 52 Prozent gestiegen ist. Die Werte stellen den Anteil der Haussiers unter führenden Beratungsdiensten dar. Ein weiterer Anstieg auf 70 Prozent würde nach Ansicht von Rosenberg bedeuten, dass sich eine weitere spekulative Blase am amerikanischen Aktienmarkt gebildet hat. Dies sei der Wert, bei dem im Oktober 2007 die zurückliegende steile Baisse eingesetzt habe. Daneben führt der Stratege das immer wieder auftauchende Argument an, in den amerikanischen Geldmarktfonds warteten etwa 3,5 Billionen Dollar nur darauf, in Aktien fließen zu dürfen. Dies berührt die für die technische Analyse bedeutsame Liquiditätsfrage. Rosenberg erklärt hierzu, dieses Argument amüsiere ihn, denn just imOktober des Jahres 2007 habe das Volumen der Geldmarktfonds auf gleicher Höhe gelegen. Rosenberg vermutet, dass die zurückliegenden Kurssteigerungen entscheidend vom Computerhandel mit Aktien, von Eindeckungen der Baissiers und von Käufen institutioneller Anleger ausgegangen seien.FAZ
