Politik 30/2002
Der große Bluff
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Schröder und Stoiber verschreiben Placebos für die Arbeitslosen
von Josef Joffe
Was ist der Unterschied zwischen Aktion und Aktionismus? Fonetisch sind's nur zwei Silben, politisch aber trennt die beiden Wörtchen eine Unendlichkeit. In der Spätphase Schröder, zwei Monate vor der Wahl, ist es der Unterschied zwischen "tun" und "tun, als ob", zwischen Agieren und Gestikulieren. Und dies, während die Wirtschaft siecht wie nie zuvor in der Ära Rot-Grün.
Der Zusammenbruch der Börsen, der freie Fall der T-Aktie, der Ron Sommer den Kopf kostete: Dafür kann die Regierung nichts, ebenso wenig wie für die wundersame Wiedergeburt des Euro. Aber wie sprach doch Gerhard Schröder anno 1998? Wenn es Rot-Grün nicht schaffe, die Zahl der Arbeitslosen auf 3,5 Millionen zu senken, "dann haben wir es nicht verdient, wieder gewählt zu werden". Tatsächlich wuchs das Heer der Arbeitslosen im Juni (saisonbereinigt) auf 4,1 Millionen. Mitten im Sommer stieg die Arbeitslosigkeit zuletzt vor neun Jahren. Im Osten ist sie auf dem höchsten Stand seit der Vereinigung.
Die Tagelöhner vom Arbeitsamt
Und was tut die Regierung? Sie ernennt wie eh und je, wenn Aktionismus die Aktion ersetzen muss, eine Kommission. Und damit es keine bösen Überraschungen gibt, wird sie dem Kanzlerfreund und VW-Vorstand Peter Hartz unterstellt. Die verkündet, obwohl es offiziell erst am 16. August geschehen soll, schon mal wahlkampfgerecht Sensationelles: Vertrauet uns, und wir werden das Heer der Arbeitslosen halbieren. Ist dies der "größte Bluff, den es gibt", wie Kandidat Stoiber ebenso wahlkampfgerecht zurückgibt?
Der "größte" nicht, aber ein halber. Hartz und Co. haben ein Konzept ausgeheckt, das die wirklichen Ursachen der deutschen Arbeitslosigkeit so ängstlich umschleicht wie der Schoßhund die Dänische Dogge. Die Kommission will, verkürzt, nur die Nachfrageseite der Misere bedienen, nicht aber das Angebot an Jobs vermehren. Sie will den Druck auf die Arbeitslosen verschärfen, um sie in den Arbeitsmarkt zu zwingen, aber fast nichts tun, damit die Aufgescheuchten einen Job auch finden. Sie will den Mangel effizienter verwalten. Stoibers Wirtschaftsguru Lothar Späth hat Recht: "Das Hauptproblem ist nicht die Vermittlung von Arbeitslosen, sondern der Mangel an Arbeitsplätzen."
Denn: Was nützen die Anreize, wenn die Arbeit fehlt? Es mag ja sein, dass der "Drückeberger" schneller in den Arbeitsmarkt zurückstrebt, wenn er bloß eine Pauschale statt einer akribisch ausgetüftelten Gegenleistung für bereits eingezahlte Beiträge erhält. Wenn er sich schon innerhalb der Kündigungsfrist beim Arbeitsamt melden muss. Wenn das Arbeitslosengeld nur befristet gezahlt und dann durch Sozialgeld ersetzt wird. Wenn's aber die passenden Jobs nicht gibt?
Der Angebotsseite, also den Tabus, die in Deutschland für die systematische Verknappung von Arbeit sorgen, nähern sich die Hartzianer wie der besagte Schoßhund, der allenfalls verklemmt knurrt, aber nicht beißt. Zum Beispiel beim stetig verfestigten Kündigungsschutz, der auch in besten Zeiten für Unterbeschäftigung sorgt, weil Entlassungen in schlechten Zeiten so schwierig wie teuer sind. Hier greift Hartz zum Hattrick: Die Arbeitsämter mögen sich zu staatlichen Leiharbeitsfirmen mausern, die Arbeitskräfte kostenlos auf Probe oder zu einem noch auszuhandelnden (niedrigen) Leihtarif andienen. Wunderbar! So sinken die Löhne, so fällt der Kündigungsschutz, weil die neuen Tagelöhner jederzeit ins Arbeitsamt (mittlerweile zur "Personal-Service-Agentur" geadelt) zurückspediert werden können. Eine Milchmädchenrechnung. Die Gewerkschaften, denen Schröder so viele Freundschaftsdienste erwiesen hat, werden einen Teufel tun und einen niedrigeren Leiharbeitstarif akzeptieren. Und wenn doch? Dann werden sich die Bosse an diesem subventionierten Trog hemmungslos laben und dabei "echte" Arbeitsplätze abbauen.
Außerdem: Vater Staat als Arbeitgeber der letzten Instanz? Wie prächtig er dieses Metier beherrscht, zeigte Schröder in der Affäre Ron Sommer. Die T-Aktie ist um 90 Prozent gefallen? Dann weg mit ihm! Und drei Millionen wütender Kleinaktionäre in die Arme der SPD! Hat Schröder aber vergessen, dass er selbst dem Geschassten den Verkauf des Kabelnetzes verboten hatte, mit dem dieser 67 Milliarden an Schulden wenigstens teilweise verringern wollte? War ein Staatssekretär der beste Headhunter für Ron II.? Wie den Richtigen für den Job keilen, wenn der Nächste nicht dem Kapitalmarkt, sondern dem Kanzleramt gefallen muss? Dass Schröder dabei in die Populismusfalle von Stoiber gelaufen ist, macht den Aktionismus nicht besser. Ein Kanzler eignet sich nicht zum Vorstandschef der Nation. Weder bei Holzmann noch bei der Telekom.
Kann's der Stoiber-Edi, wie sie ihn in Bayern nennen, besser? Für seinen Kompetenzler Späth, der in seinem Herzen so manche Idee zur Flexibilisierung der Arbeitsmärkte herumträgt, gilt das Karl-Valentin-Wort: "Wollen tät' er schon, nur dürfen traut er sich nicht." Denn Stoiber ist Schröders Bruder im Geiste: ein Etatist, der dem Markt misstraut, der wähnt, dass der Staat just die Jobs schaffen kann, die dieser schon in Kohls Zeiten durch ein immer dichteres Geflecht von Hemmnissen vernichtet hat. Gebt mir zehn Milliarden Euro, lautet des Kandidaten Verheißung in dem Anti-Hartz-Papier Offensive 2002, und ich werde euch 900 000 oder gar 1,7 Millionen Stellen schenken. Doch auch er will keine "amerikanischen Verhältnisse", wie das probate Knüppelargument lautet. Und wie er die steigenden Lohnnebenkosten (derzeit 41,3 Prozent) ebenso wie den Höchststeuersatz auf 40 Prozent drücken will, das verrät er nicht.
Verbannung in die "Stütze"
Dabei kennen wir die Rezepte. "Arbeit ist in Deutschland zu teuer", lautet das lapidare Fazit des SPD-Mitglieds Florian Gerster, des Chefs der Bundesanstalt für Arbeit. Hans-Werner Sinn, Präsident des ifo-Instituts, macht diese Rechnung auf: "Die realen Lohnkosten im verarbeitenden Gewerbe sind in den letzten 20 Jahren in Westdeutschland um 40 Prozent gestiegen." In Holland um rund 20, in Amerika um 8 Prozent. Dagegen stehe die Zahl der Beschäftigtenstunden: In Amerika ein Plus von 40 Prozent, in Holland von 20 Prozent. Und in Westdeutschland? Ein Minus von 5 Prozent. Die OECD rügt die hohen Lohnnebenkosten: Deutschland befindet sich mit Dänemark und Belgien unter den Top drei. Die Folge? Dieses Trio zeigte 2001 die niedrigsten Wachstumsraten: 0,6, 0,9, 1,0 Prozent.
Die EU-Kommission drückt es so aus: Es sind "Lohnstrukturen zu schaffen, die Produktivitätsunterschiede getreulich abbilden". Auf Deutsch: Am Standort D ist der Preis der Arbeit just dort zu hoch, wo Niedrigqualifizierte zuhauf in die "Stütze" und Sozialhilfe verbannt werden. Aus dieser Falle kann sie auch Hartz mit seiner "Personal-Service-Agentur" nicht befreien. Ist das wirklich "soziale Gerechtigkeit"?
Freilich wird weder Schröder noch Stoiber dem Wahlvolk die bittere Wahrheit sagen. So wie Deutschland sich unter Schwarz-Gelb und Rot-Grün verfasst hat -, und in einfacheren Zeiten auch sehr gut gefahren ist - gibt es nur zwei Hoffnungen. Die eine setzt auf das Ende einer mörderischen Rezession, die zum ersten Mal seit 1974 alle drei großen Wirtschaften, USA, EU, Japan, in den Klauen hält - nach der deutschen Faustregel: Erst bei zwei Prozent Wachstum schmilzt auch die Arbeitslosigkeit. Die zweite Hoffnung wäre die Ironie aller Ironien. Schröder oder Stoiber - um des Wahlsieges willen lügen sie beide. Ist aber der eine oder der andere erst Kanzler, folgen auf Hartz und Hattricks echte, schmerzhafte Reformen, weil es anders nicht mehr geht. Das wäre freilich mehr als die Wahrheit. Es wäre ein Wunder.
www.zeit.de/2002/30/Politik/200230_01__leit_1.html