Unter den Wolken
Vor dem Spiel gegen Leverkusen versuchen Nürnbergs Fußballer, den Ängsten des Umfelds zu entgehen
Nürnberg – Wenn Trainingsgäste am Geländer stehen, aufgereiht wie an einer Schnur, dann studieren sie ja oft unterschiedliche Bereiche des Fußballer-Körpers. Mal werden die Beine mit den straffen Muskeln verfolgt, die die Spieler rechtzeitig in den freien Raum tragen sollen, mal die Trainingsleibchen begutachtet, an denen Gras und Erde haften muss. Mal stoppen die Blicke das Tempo der antretenden Stürmer, aber an diesem Donnerstag interessiert in Nürnberg etwas anderes. Es geht um die Gesichter, und – vor allem – um die Köpfe.
Trauma trifft Trauma
Der Kopf, das ist die Hauptmetapher im Fußball für alles, was mit Psychologie zu tun hat. Ganz egal, ob es sich um komplizierte Verhaltensmuster handelt, um Grundgefühle wie Angst oder um Schlaflosigkeit bei Vollmond – entschieden wird im Kopf, und ein Spiel wie das zwischen dem 1. FC Nürnberg und Bayer Leverkusen gilt als „Kopfspiel“. Unterhaching-Trauma 2000 trifft Freiburg-Trauma 1999. Versagensängste prallen aufeinander, es gibt ein Fest für Sportpsychologen. Zwar sind seit Mittwoch die Leverkusener Köpfe wieder etwas freier, dafür wächst der Druck umso mehr auf die Häupter der Nürnberger, die aber kontern, es könne ihnen gerade helfen, dass sie nun unterschätzt werden.
Sonst sagen sie nicht viel, das Formulieren übernimmt vor so einem Kopfspiel das Umfeld. Etwa im Internet, in dem jüngere Fans Symptome wie Schlaflosigkeit und Bauchweh erörterten. Bei Gustav Flachenecker, dem Meisterspieler von 1961, wird anders formuliert. Flachenecker hat einen Lotto- Toto-Laden in der Innenstadt, diskutiert viel mit älteren Anhängern, und er sagt: „Viele haben den Club doch schon abgeschrieben.“ Auch die Boulevard- Zeitungen formulieren Sorgen in dieser Woche, sie decken das Umfeld ein mit Angst, weisen darauf hin, dass der frühere Torwart Andreas Köpke einen Mordsbammel vor dem Abstieg habe, oder dass in der Mannschaft von Trainer Klaus Augenthaler fast keiner spielt, der nicht schon mal irgendwo abgestiegen ist.
Wenn der ganze Popanz an Ängsten und Nervosität, der sich in dieser Woche aufgebaut hat, sichtbar wäre, würde er wohl aussehen wie die grauen Wolken über dem Trainingsplatz. Eine ganz große dunkle Wolke ist bereits vor drei Jahren entstanden, war zwischenzeitlich kaum bemerkbar und hat sich jetzt wieder positioniert: das Nürnberger Freiburg-Trauma. Ein Abstieg wie ein Zeugnis mit lauter Sechsen. Ein Versagen des Vereins, des Trainers, der Spieler. Ein Versagen vor, während und nach dem Spiel. Ein zu früh organisiertes Fest, eine desinformierte Mannschaft und Fußballer, denen man nach dem Spiel beim Öffnen der Sektflaschen erklären musste: „Stopp, ihr seid abgestiegen.“
Der Sportpsychologe Lothar Linz findet, „Versagen“ sei ein sehr abschließender Begriff: „Versagen, das ist die unterste Stufe.“ Dennoch sei es „das Normalste der Welt“, der Sport müsse laufend Versager produzieren, sonst gäbe es keine Triumphe, es rede nur keiner darüber. Doch Linz ist Psychologe, und deshalb erzählt er auch von ganz tief im Kopf, vom Unterbewusstsein. Was Bayer in Unterhaching erlebt hat oder Nürnberg gegen Freiburg, tragen die Spieler von heute mit sich herum wie einen Rucksack voller Steine, obwohl die meisten nicht dabei waren. Der Grundsatz laute: „Das System geht vor dem Mitglied.“ Das sei in jeder Familie zu beobachten, in jeder Firma. Man übernimmt Verantwortung für die Schuld anderer und für den Anspruch des Gesamten: etwa für die Hoffnungen, die die Generation der Nürnberger Altmeister in Flacheneckers Lottoladen äußern. Und auch wenn die Fußballer die Bedeutung des Systems abstreiten, beharrt Linz darauf: „Wenn sie das Trikot anziehen, sind sie drin.“
Lösung vor dem Anpfiff
Nur, wie kommen sie wieder raus? Linz hat die Hockey- Nationalmannschaft betreut, die bei Olympia traumatisiert wurde und nun Weltmeister ist. „Zunächst“, sagt Linz, „muss man zugeben, es ist so. “ Erwartungsdruck entstehe nun mal, er ist nicht zu ändern, aber er ist nur zu tragen, wenn man sich ihm stellt, sonst bauscht er sich auf. Ferner gebe es konkrete Maßnahmen: Gedankenspiele, in denen etwa ein später Rückstand durchgegangen wird. Die Lösungen müssen bei Anpfiff feststehen, danach könne man nicht mehr denken.
Linz ist vorsichtig, aber aus der Ferne würde er sagen, dass der Club kein Motivationsproblem hat: „Deren Problem ist, sie wissen nicht, wie gut sie sind.“ Insofern hat Augenthaler schon die richtige Einstellung, wenn er die Spieler so oft in Schutz nimmt. Aber die Mannschaftspsyche ist hinterhältig, und Psychologe Linz glaubt, der gute Vorsatz, den Erwartungsdruck zu nehmen, hat in diesem Fall das Gegenteil erbracht: „Die vielen Entschuldigungen führten dazu, dass sich die Mannschaft klein gemacht hat.“ Der Druck ist geblieben.
So ein Kopfspiel kann kompliziert sein, und deshalb glaubt Linz auch nicht an die Motivatoren, die sich einmal im Halbjahr in die Kabine begeben. Es bedarf einer längeren Zusammenarbeit, aber das klingt nach Therapie, ein Unwort im Fußball. Auch der 1. FC Nürnberg hatte bis vor kurzem einen Mentaltrainer. Die Spieler hätten keine Lust gehabt, mit ihm zu arbeiten, erzählt Augenthaler; er beschloss irgendwann: „Wer Probleme hat, soll selber eine Therapie machen.“ Und alle sagen, man solle kein Schreckgespenst aufbauen, nichts dramatisieren, und wenn es Realität ist, dann klammern sie es lieber ganz aus. Entscheidend ist, dass der Kopf frei ist. Oder, wie Altmeister Flachenecker es ausdrückt: „Wer Angst hat, hat den Beruf verfehlt.“
Quelle.Süddeutsche Zeitung