2002 wird das Jahr der Restrukturierung
Börsenbrief aus New York
Im Jahr 2002 dürften die Aktienmärkte von zwei Themen dominiert werden: Reflation und Restrukturierung. Die Zinssätze sind bereits deutlich gesunken und wir gehen davon aus, dass ein Ende dieses Rückgangs noch nicht erreicht ist. Durch billigeres Geld wird einerseits die Erholung stimuliert, andererseits sinken dadurch auch die Kosten des Schuldendienstes für die bedenklich hohen Schuldenberge, die einige der größten Unternehmen Europas in den letzten Jahren angehäuft haben.
Diese Unterstützung für die Gewinnerholung dürfte auch mit einer Umschichtung der Vermögenswerte von Unternehmen einhergehen, wenn die Unternehmen ihre Kapazitäten der geringeren Nachfrage anpassen und sich auf die viel versprechendsten Geschäftsfelder konzentrieren. Finanztitel und zyklische Werte der Old Economy werden voraussichtlich am meisten von diesen beiden positiven Faktoren profitieren. Wir rechnen mit einer fortgesetzten Rally bei Banken und Versicherungen, da die Zinsen noch wesentlich tiefer fallen werden. In der Zwischenzeit werden zyklische Aktien der Old Economy wie zum Beispiel Chemiewerte und Maschinenbauunternehmen wahrscheinlich eher von der Erholung der Nachfrage im Jahr 2002 profitieren als die Zykliker der New Economy wie zum Beispiel Chiphersteller, da in diesen Bereichen einfach kein so großes Überangebot herrscht. Sicher werden die High-Tech-Aktien von Zeit zu Zeit kräftige Kursrallys erleben, die Fundamentaldaten bieten aber noch keine Grundlage für einen Hausse-Markt. Die Bedingungen für einen Kursaufschwung bei europäischen Aktien sind vorhanden, die Konjunkturaussichten hellen sich auf. Dafür sprechen nach unserer Einschätzung vor allem die folgenden vier Gründe. Erstens herrschen in den USA nach einer drastischen Zinssenkungsrunde von insgesamt 400 Basispunkten nun negative Realzinsen - das heißt Zinsen, die niedriger sind als die Inflationsrate. Dies allein dürfte schon zur Stabilisierung der Kapitalmärkte und zur Stärkung der Bilanzen verschuldeter Unternehmen beitragen. Es erklärt auch, warum US-Aktien nach wie vor besser abschneiden als europäische.
Die Europäische Zentralbank ist bei ihren Zinsschritten wesentlich langsamer vorgegangen und senkte die Zinsen in diesem Jahr nur um 100 Basispunkte auf 3,75 Prozent. Wir rechnen aber mit einer zusätzlichen Reduzierung um 75 Basispunkte auf drei Prozent.
Zweitens werden auch die niedrigen Ölpreise die Erholung in Europa vorantreiben. Europa ist mehr von Ölimporten abhängig als Amerika und Japan, und der Rückgang des Ölpreises um fünf Euro von August bis Oktober dürfte eine Verbesserung der Kaufkraft der Verbraucher um bis zu ein Prozent des Bruttoinlandsprodukts in der Region bewirken. Zudem sollte man nicht vergessen, dass in den frühen 90er-Jahren die Erholung auf den Aktienmärkten zeitgleich mit dem Rückgang der Ölpreise und nicht mit dem Anstieg der Gewinne einsetzte.
Der dritte Faktor ist die leichte Verengung der Kredit-Spreads in Europa, die trotz ihres nur geringen Ausmaßes dennoch zur allmählichen Verbesserung der Bedingungen für die Unternehmensfinanzierung beiträgt. Nimmt der Abstand zwischen den Zinsen, die Anleger für Ausleihungen an Unternehmen verlangen, und den niedrigeren Zinssätzen für Staatsanleihen ab, dann ist dies darauf zurückzuführen, dass die Investoren die Wahrscheinlichkeit der Zahlungsunfähigkeit von Unternehmen geringer einschätzen.
Darüber hinaus werden die Analysten nun langsam etwas realistischer, was die Aussichten für die Unternehmensgewinne angeht. Wenn man alle Prognosen für die Jahresüberschüsse der börsennotierten europäischen Unternehmen für das Jahr 2002 addiert und den Durchschnitt ermittelt, so ergibt sich eine geschätzte Steigerung der Unternehmensgewinne um 13 Prozent, was unserer Ansicht nach immer noch zu hoch ist. Aufschlussreicher ist vielleicht die Tatsache zu werten, dass die Analysten mittlerweile bei 70 Prozent aller Prognoseänderungen ihre Gewinnschätzungen nach unten korrigieren.
Wann geht es los?
Diese allzu optimistischen Prognosen und die Tatsache, dass die gesamteuropäischen Aktien auf einer normalisierten Basis genau zu ihrem langfristigen Mittel - dem 15fachen ihrer Gewinne - gehandelt werden, erklären auch, warum Anleger den Perspektiven für Aktien nach wie vor vorsichtig gegenüberstehen. Da aber die Fondsmanager einen außergewöhnlich hohen Portfolioanteil von 7,8 Prozent in Barmitteln halten, ist ausreichend Liquidität für weitere Kursgewinne auf den Aktienmärkten im vierten Quartal vorhanden.
Allerdings könnte trotz dieser ungewöhnlich hohen Barreserven der Fondsmanager gegenwärtig jeder Kursanstieg als Gelegenheit für Gewinnmitnahmen genutzt werden. Die Hauptleidtragenden des seit einem Jahr andauernden Kursverfalls auf den Aktienmärkten sind die High-Tech-Aktien und die Telekommunikationswerte. Selbst wenn die Bedingungen noch nicht gut genug für einen Hausse-Markt sind, wird das Ende des Baisse-Marktes für die Aktien der überschuldeten europäischen Telekommunikationsunternehmen dennoch Signalwirkung haben. Diese Aktien zogen im Oktober an - wie in jedem ersten Monat eines jeden Quartals seit Anfang 1999. Diesmal aber ging dieser Aufschwung zum ersten Mal mit einem Rückgang der Zinssätze einher. Funktioniert die Reflation wirklich? Wenn ja, dann wird der Baisse-Markt für die Aktien des TMT-Sektors (Technologie/Medien/Telekommunikation) bald der Vergangenheit angehören.
Der Autor ist Leiter der Abteilung Europäische Aktienstrategie & Volkswirtschaft Merrill Lynch.
Börsenbrief aus New York
Im Jahr 2002 dürften die Aktienmärkte von zwei Themen dominiert werden: Reflation und Restrukturierung. Die Zinssätze sind bereits deutlich gesunken und wir gehen davon aus, dass ein Ende dieses Rückgangs noch nicht erreicht ist. Durch billigeres Geld wird einerseits die Erholung stimuliert, andererseits sinken dadurch auch die Kosten des Schuldendienstes für die bedenklich hohen Schuldenberge, die einige der größten Unternehmen Europas in den letzten Jahren angehäuft haben.
Diese Unterstützung für die Gewinnerholung dürfte auch mit einer Umschichtung der Vermögenswerte von Unternehmen einhergehen, wenn die Unternehmen ihre Kapazitäten der geringeren Nachfrage anpassen und sich auf die viel versprechendsten Geschäftsfelder konzentrieren. Finanztitel und zyklische Werte der Old Economy werden voraussichtlich am meisten von diesen beiden positiven Faktoren profitieren. Wir rechnen mit einer fortgesetzten Rally bei Banken und Versicherungen, da die Zinsen noch wesentlich tiefer fallen werden. In der Zwischenzeit werden zyklische Aktien der Old Economy wie zum Beispiel Chemiewerte und Maschinenbauunternehmen wahrscheinlich eher von der Erholung der Nachfrage im Jahr 2002 profitieren als die Zykliker der New Economy wie zum Beispiel Chiphersteller, da in diesen Bereichen einfach kein so großes Überangebot herrscht. Sicher werden die High-Tech-Aktien von Zeit zu Zeit kräftige Kursrallys erleben, die Fundamentaldaten bieten aber noch keine Grundlage für einen Hausse-Markt. Die Bedingungen für einen Kursaufschwung bei europäischen Aktien sind vorhanden, die Konjunkturaussichten hellen sich auf. Dafür sprechen nach unserer Einschätzung vor allem die folgenden vier Gründe. Erstens herrschen in den USA nach einer drastischen Zinssenkungsrunde von insgesamt 400 Basispunkten nun negative Realzinsen - das heißt Zinsen, die niedriger sind als die Inflationsrate. Dies allein dürfte schon zur Stabilisierung der Kapitalmärkte und zur Stärkung der Bilanzen verschuldeter Unternehmen beitragen. Es erklärt auch, warum US-Aktien nach wie vor besser abschneiden als europäische.
Die Europäische Zentralbank ist bei ihren Zinsschritten wesentlich langsamer vorgegangen und senkte die Zinsen in diesem Jahr nur um 100 Basispunkte auf 3,75 Prozent. Wir rechnen aber mit einer zusätzlichen Reduzierung um 75 Basispunkte auf drei Prozent.
Zweitens werden auch die niedrigen Ölpreise die Erholung in Europa vorantreiben. Europa ist mehr von Ölimporten abhängig als Amerika und Japan, und der Rückgang des Ölpreises um fünf Euro von August bis Oktober dürfte eine Verbesserung der Kaufkraft der Verbraucher um bis zu ein Prozent des Bruttoinlandsprodukts in der Region bewirken. Zudem sollte man nicht vergessen, dass in den frühen 90er-Jahren die Erholung auf den Aktienmärkten zeitgleich mit dem Rückgang der Ölpreise und nicht mit dem Anstieg der Gewinne einsetzte.
Der dritte Faktor ist die leichte Verengung der Kredit-Spreads in Europa, die trotz ihres nur geringen Ausmaßes dennoch zur allmählichen Verbesserung der Bedingungen für die Unternehmensfinanzierung beiträgt. Nimmt der Abstand zwischen den Zinsen, die Anleger für Ausleihungen an Unternehmen verlangen, und den niedrigeren Zinssätzen für Staatsanleihen ab, dann ist dies darauf zurückzuführen, dass die Investoren die Wahrscheinlichkeit der Zahlungsunfähigkeit von Unternehmen geringer einschätzen.
Darüber hinaus werden die Analysten nun langsam etwas realistischer, was die Aussichten für die Unternehmensgewinne angeht. Wenn man alle Prognosen für die Jahresüberschüsse der börsennotierten europäischen Unternehmen für das Jahr 2002 addiert und den Durchschnitt ermittelt, so ergibt sich eine geschätzte Steigerung der Unternehmensgewinne um 13 Prozent, was unserer Ansicht nach immer noch zu hoch ist. Aufschlussreicher ist vielleicht die Tatsache zu werten, dass die Analysten mittlerweile bei 70 Prozent aller Prognoseänderungen ihre Gewinnschätzungen nach unten korrigieren.
Wann geht es los?
Diese allzu optimistischen Prognosen und die Tatsache, dass die gesamteuropäischen Aktien auf einer normalisierten Basis genau zu ihrem langfristigen Mittel - dem 15fachen ihrer Gewinne - gehandelt werden, erklären auch, warum Anleger den Perspektiven für Aktien nach wie vor vorsichtig gegenüberstehen. Da aber die Fondsmanager einen außergewöhnlich hohen Portfolioanteil von 7,8 Prozent in Barmitteln halten, ist ausreichend Liquidität für weitere Kursgewinne auf den Aktienmärkten im vierten Quartal vorhanden.
Allerdings könnte trotz dieser ungewöhnlich hohen Barreserven der Fondsmanager gegenwärtig jeder Kursanstieg als Gelegenheit für Gewinnmitnahmen genutzt werden. Die Hauptleidtragenden des seit einem Jahr andauernden Kursverfalls auf den Aktienmärkten sind die High-Tech-Aktien und die Telekommunikationswerte. Selbst wenn die Bedingungen noch nicht gut genug für einen Hausse-Markt sind, wird das Ende des Baisse-Marktes für die Aktien der überschuldeten europäischen Telekommunikationsunternehmen dennoch Signalwirkung haben. Diese Aktien zogen im Oktober an - wie in jedem ersten Monat eines jeden Quartals seit Anfang 1999. Diesmal aber ging dieser Aufschwung zum ersten Mal mit einem Rückgang der Zinssätze einher. Funktioniert die Reflation wirklich? Wenn ja, dann wird der Baisse-Markt für die Aktien des TMT-Sektors (Technologie/Medien/Telekommunikation) bald der Vergangenheit angehören.
Der Autor ist Leiter der Abteilung Europäische Aktienstrategie & Volkswirtschaft Merrill Lynch.