Amerikas fundamentalistischer Optimismus und die Welt hinter dem Rauch der Grill-Partys / Von Marcia Pally
In meiner ersten Festanstellung als Redakteurin lernte ich viel Nützliches über Herzinfarkte. Einer meiner Autoren erlitt einen. Er überlebte und erklärte sogleich, dass er sein Leben ändern werde - er wollte weniger rauchen, mehr Sport treiben und das Undenkbare tun: New York verlassen, um an einem weniger anstrengenden Ort zu leben.
Das war eine Lektion in Sachen Überleben und Wandel. An diesem Jahrestag des 11. September scheint Amerika sich nicht auf den Wandel besonnen zu haben. Das Land hat schon zuvor Infarkte erlitten, bei den Bombenanschlägen auf das World Trade Center von 1993, auf die US-Botschaften in Afrika und auf die USS "Cole", verursacht durch islamistische Aktivisten, in Ruby Ridge, Waco und Oklahoma City durch Amerikaner. Und doch stolpert die Großmacht weiter durch die Gegend, besoffen von ihrer Vergangenheit als Glückskind der Weltgeschichte, spielt sorglos mit Streichhölzern und verstreut Asche. Ich sitze am Schreibtisch, die Spätsommerluft riecht, und das Licht leuchtet genau wie vor einem Jahr, und ich quäle mich mit dem Gedanken, der nächste Angriff könnte mich erwischen - welch ein Luxus, sich gerade jetzt zu ängstigen, wo sich doch große Teile der Welt ängstigen, seit mit unserem Zug nach Westen die Errichtung des amerikanischen Empire begann.
Mehr als die Summe der Konzerne
Mit Blick auf die Cheney-Rumsfeld-Bush-Achse-der-Praxis im Weißen Haus hatte ich nicht erwartet, dass Amerika zur Besinnung kommen und sich mit den langfristigen Ursachen für die Unbill des vergangenen Jahres auseinander setzen würde. Nullkommaeins Prozent des US-amerikanischen Bruttoinlandsprodukts gehen als Unterstützung ins Ausland, ein Drittel davon zu militärischen Zwecken. Das ist der geringste Prozentsatz unter 22 Geberländern. Von den 45 000 Angehörigen der UN-Friedenstruppen sind 700 Amerikaner. Weltweit stellt die EU zehnmal so viele Soldaten für Friedenstruppen, zahlt 55 Prozent der gesamten Entwicklungshilfe und zwei Drittel aller Kredite an die armen Länder. Die USA haben weder das UN-Kindersoldatenprotokoll ratifiziert, noch das Umweltprotokoll von Kyoto, das Protokoll zum Schutz der Kinderrechte (der andere nicht unterzeichnende Staat war Somalia) oder die Internationale Konvention gegen die Diskriminierung von Frauen (die Anti-Abtreibungs-Lobby war dagegen).
Sie leisten Widerstand gegen die Einrichtung eines Internationalen Gerichtshofes und unterlaufen die Bemühungen um nachhaltige Entwicklung. Als Europa an der Macht war, hat es sich nicht mehr um Gerechtigkeit bemüht als Amerika mit seiner Liste von Folterknechten, die es an der Macht hält, weil sie ihm nützen. Aber die Hegemonie Europas ist Vergangenheit. Dass die Regierung Bush sich wandelt, habe ich schon wegen ihrer Geschäfte mit der Geschäftswelt nicht erwartet. Sie scheint zu glauben, sie könne das Land wie ein profitorientiertes Unternehmen führen. Ich mag
den Kapitalismus und seine offenen Märkte. Ich glaube, dass das System funktioniert, wenn es von Anti-Kartell-Gesetzen und sozialen Sicherungssystemen flankiert wird. Die Arbeit einer Regierung besteht jedoch darin, die Nation voranzubringen, die mehr ist als die Summe ihrer Konzerne, und diese Regierung hat mit ihrer eigentlichen Arbeit noch nicht einmal begonnen. Die amerikanischen Firmen, besonders jene aus den Sektoren Öl, Finanzwirtschaft und Rüstung, sind für innenpolitische Probleme und das Elend der Dritten Welt nur zum Teil verantwortlich. Die Welt verfügt auch ohne sie über ausreichend Gier und Korruption. Aber das Selbstverständnis der
Regierung Bush als Konzernleitung der Firma USA Inc. knebelt all jene, die nach Lösungen suchen.
Rechnet man die Etats aller Behörden zusammen, die militärische Ziele verfolgen - das echte Militär, die Nasa, die 19 Milliarden Dollar für den Krieg gegen Drogen, die vier Milliarden für das FBI etc. -, kommt man auf eine Summe von über 300 Milliarden Dollar oder 56 Prozent des Haushalts. Das geplante Homeland Security Office wird noch einmal 38 Milliarden Dollar im Jahr kosten. Die gesamte EU wendet jährlich 130 Milliarden Dollar auf. Je größer diese Etats werden, desto mehr verdient die Rüstungsindustrie, und Bush & Co. fühlen sich verpflichtet, deren Einnahmen zu
erhöhen.
Kein Wunder. Bush (senior) trat nach seiner Präsidentschaft der Carlyle Group bei; der frühere Verteidigungsminister Frank Carlucci und der frühere Außenminister Jim Baker saßen schon dort, und die Gruppe wuchs zum Finanzier des elftgrößten
Lieferanten des US-Militärs. Vizepräsident Cheney machte als CEO der Firma Halliburton ein Vermögen, indem er die Regierung überredete, ihr Auftragsvolumen zu verdoppeln (die Auftragssumme wuchs auf 3,8 Milliarden Dollar), und revanchiert sich nun als Regierungsmitglied: Der Auftrag zum Bau des Gefängnisses von Guantanamo Bay ging an Halliburton. Die Staatsminister für
Marine, Heer und Transport haben eine Karriere in der Rüstungsindustrie hinter sich. Nach ihrer Ernennung stiegen die Rüstungsaktien in Erwartung wachsender Profite. Es handelt sich bei Thomas White um eben jenen Staatsminister für das Heer, der eine betrügerische Abteilung der Firma Enron geleitet hat (die 500 Millionen Dollar erfundener Einkünfte verbuchte) und mit seinen Aktien 12 Millionen Dollar Gewinn machte, bevor die Firma Bankrott ging.
Für die amerikanische Wirtschaft sind diese Zahlen repräsentativ. Seit dem Jahr 2000 ist der Nasdaq um 75 Prozent gefallen, der S&P 500 um über 40 Prozent. 20 Prozent aller US-Amerikaner leben unterhalb der Armutsgrenze, in Westeuropa sind es acht Prozent; in den Vereinigten Staaten liegt die Säuglingssterblichkeitsrate um 60 Prozent über jener in Deutschland oder Frankreich; 40 Millionen Amerikaner leben ohne Krankenversicherung. Seit dem Jahr 1991 übertrifft die EU selbst die berühmt hohe Produktivitätsrate der USA; die Produktivitätsrate in Belgien, Frankreich und den Niederlanden ist höher, die Deutschlands, Irlands, Österreichs und Dänemarks fast genauso hoch wie die der USA, obwohl dort die Zahl der Arbeitsstunden höher ist (um 28 Prozent höher als in Deutschland, um 43
Prozent höher als in Frankreich) und die Arbeitnehmer weniger oder gar keinen Urlaub nehmen können.
Dennoch hat ein Topmanager im Jahr 2001 durchschnittlich 11 Millionen Dollar verdient, also das 419fache eines Durchschnittsarbeiters (vor 20 Jahren war es noch das 40fache), und zwischen 1990 und 1998 stiegen die Manager-Gehälter fünfmal so schnell wie die Profite.
Heute besitzt ein Prozent der US-amerikanischen Bevölkerung 40 Prozent aller Vermögenswerte, eine Vermögensumschichtung, die wir größtenteils der Deregulierung der Märkte verdanken, den Steuererleichterungen für Unternehmen und der Anti-Gewerkschafts-Politik; alles begonnen unter Ronald Reagan als
Maßnahmen zur Kosteneindämmung, die zu Einsparungen von weniger als einem Prozent des Bruttoinlandsprodukts führten. Im Jahr 2000 waren die 400 reichsten Amerikaner zehnmal so reich wie die 400 reichsten Amerikaner des Jahres 1990, während die Kaufkraft der Mittelklasse mit den Kostensteigerungen für Ausbildung, Gesundheit und Wohnung nicht mehr mithalten kann. In den 90er Jahren konnten sich die USA auf tägliche Kapitalzuflüsse aus dem Ausland in Höhe von 1,2 Milliarden Dollar verlassen, um ihr jährliches Handelsdefizit von 450 Milliarden auszugleichen; die jüngsten Bilanzfälschungsskandale haben diese Zuflüsse gefährdet.
Man findet einen Zugang zu Bushs wirtschaftlichem Regierungsansatz, wenn man seinen Plan zur Privatisierung des Sozialsystems betrachtet. Private Rentenfonds investierten in Aktien, die in den vergangenen Monaten dramatisch gefallen sind und die Ersparnisse von Millionen Amerikanern vernichtet haben. Die Fondsmanager aber haben beträchtliche Prozente eingestrichen. Im Wahlkampf des Jahres 2000 haben sie und die gesamte Versicherungs-, Investment- und Finanzbranche an Bush sechsmal höhere Spenden geleistet als an Gore.
Mit diesen Zahlen im Hinterkopf war meine Hoffnung gering, Bush & Co. könnten ihre wirtschaftsorientierte Haltung aufgeben und sich plötzlich für, sagen wir, Bildung in Zentralasien interessieren. Ich erwartete, dass man sich aus chauvinistischen und finanziellen Gründen auf verstärke Sicherheit kaprizieren würde. Aber im Jahr 2003 will Bush 11 Milliarden Dollar für das Crusader-Artillerie-System ausgeben, eine 42 Tonnen schwere mobile Kanone, die nach Einschätzung des Heeres zu langsam ist. Zwei Milliarden hat Bush für die V-22 Osprey von Boeing
vorgesehen, in der auf Testflügen 23 Marinesoldaten umgekommen sind und die weiter abstürzt; dreieinhalb Milliarden für die F-35 von Lockheed, deren geringe Reichweite es ihr verbietet, küstenferne Länder wie Afghanistan zu erreichen; und 9,3 Milliarden für das Star-Wars-Abenteuer, das noch immer nicht
funktioniert, auch wenn die Jahre ins Land gehen. Der Generalinspekteur des Pentagon hat bekannt gegeben, dass das Verteidigungsministerium 25 Prozent seiner Ausgaben nicht belegen kann - 2,3 Billionen Dollar an Umsatz und 13 Milliarden an Waffenkäufen zwischen 1985 und 1995. Dieses Effektivitätszeugnis mag erklären, warum es der Regierung bis heute nicht gelungen ist, das Geheimnis der Milzbrand-Briefe zu lösen, die Geheimdienstinformationen über Terroristen zu sortieren, die Kämpfe in den Bergen Afghanistans zu beenden oder Wasserspeicher und Flughäfen zu sichern, jenseits des Einsammelns großer Badewannen voller Nagelscheren.
Glaube an den Überfluss
Man möchte meinen, der erste Schritt selbst einer nationalistischen Antwort auf den 11. September müsste die Entwicklung alternativer Energiequellen sein, die Amerika aus der Abhängigkeit von ausländischem Öl befreien. Aber hier sind Bush & Co. die Hände gebunden, denn sie haben sich groß in die Ölindustrie eingekauft. Man fragt sich, ob es einen Krieg in Afghanistan gegeben hätte, wenn die US-Verhandlungen mit den
Taliban über eine Öl-Pipeline erfolgreich gewesen wären. Aber solche Fragen stellen die Amerikaner nicht - nicht hierzu, nicht zu dem meisten des oben Erwähnten. Es gibt keinen Protest, keine Unruhen. Die Menschen tragen ihr Geld in die Geschäfte, und mit der Wirtschaft soll es bald aufwärts gehen.
Fünf Prozent der Weltbevölkerung leben in den USA, die 30 Prozent des Roheinkommens der Erde generieren. Eine Durchschnittsfamilie verdient 42 000 Dollar im Jahr, mit College-Abschluss 71 500 Dollar, was die letztere Gruppe reicher macht als 95 Prozent aller Menschen heute und als 99,9 Prozent aller Menschen, die jemals gelebt haben. Und sie glauben an den Überfluss - in jenen Klischees von den unbegrenzten Möglichkeiten und dem ewig nahen Erfolg, der Neuerfindung des Selbst, nicht nur in der Arbeit, ebenso in Hobbys, mit Freunden, in Aktivitäten aller Arten. Selbst nach dem Dotcom-Crash und dem 11. September fließt in Amerika das
Risikokapital, sprießen die Start-ups wie nirgendwo sonst.
Fester als die weiße Mehrheit glauben die Angehörigen der Minderheiten daran, dass es ihnen in zehn Jahren besser gehen werde als heute.
Und so geben sie ihr Geld aus, im Vertrauen in den Optimismus, und bringen damit die sich selbst verstärkenden Effekte einer Stehauf-Männchen-Wirtschaft und einer schamlos vorwärts drängenden Energie hervor. Es handelt sich um eine fundamentalistische Einstellung, die Mentalität über Realität setzt und viel tiefer wurzelt als jener Kreuzzug, den Bush nach dem 11. September so ungeschickt ausrief - und den die Welt für den rechts-christlichen Zwilling des Jihad der Al Qaeda
hielt. Wer diesem Fundamentalismus anhängt, für den verblasst die Welt, die hinter dem Rauch der Vorgarten-Grillpartys manchmal noch aufblitzt.
Deutsch
von Robin Detje
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© Frankfurter Rundschau 2002
Dokument erstellt am 10.09.2002
um 21:44:49 Uhr
Erscheinungsdatum 11.09.2002