Präsident der Europäischen Zentralbank: Aktuelle Debatte verunsichert die Märkte - Kaum Gefahr anhaltend sinkender Preise
FRANKFURT. Der Druck auf die Europäische Zentralbank (EZB), die Zinsen zu senken, wird größer. Die Währungshüter betonen zwar, dass es aktuell keine Deflationsgefahr gibt. Die Angst davor steigt aber sowohl an den Märkten als auch unter Ökonomen.
Von Holger Paul
Die oberste Riege der EZB bemüht sich derzeit nach Kräften, die herrschende Debatte um fallende Preise rasch wieder zu beenden. Die Risiken für einen Preisrückgang auf breiter Front im Euroraum und dabei besonders in Deutschland seien gering, erklärte EZB-Vizepräsident Lucas Papademos. Bis zum Jahresende werde sich die Inflationsrate im Euroraum um die Marke von zwei Prozent bewegen, sagte er. Zuvor hatten bereits EZB-Chefvolkswirt Otmar Issing und Bundesbankchef Ernst Welteke eine Deflationsgefahr für Deutschland verneint. Nach Ansicht von Issing sorgt die aktuelle Debatte nur für unnötige Verunsicherung der Marktteilnehmer.
Immer mehr Ökonomen fürchten jedoch, dass die EZB damit die falschen Signale aussendet. Es gebe zwar viele Gründe, die gegen eine Deflation in Deutschland sprechen, sagt Michael Hüther, Chefvolkswirt der Dekabank. Dazu gehöre zum Beispiel, dass in den USA eine Wachstumserholung bevorstehe und Deutschland davon profitieren wird. Dennoch spiele das Deflationsszenario an den Finanzmärkten eine große Rolle; anders seien die gehandelten Zinsniveaus für Staatsanleihen nicht zu erklären, erläutert er. Die Rendite für eine zehnjährige Bundesanleihe beträgt derzeit nur rund 3,6 Prozent. Würden die Märkte ein stärkeres Wachstum mit wieder steigenden Preisen erwarten, dann läge dieser Zinssatz deutlich höher. Eine Zinssenkung um 0,5 Prozentpunkte sei deshalb geboten, um den Märkten zu zeigen, dass man auf der Hut ist, sagte Hüther.
Nach Ansicht von Uwe Angenendt, Chefvolkswirt der ING-BHF-Bank, liegt eine Deflation in Deutschland sogar "sehr wohl im Bereich des Möglichen". Ziehe man von der jüngsten Teuerungsrate von 0,7 Prozent noch den üblichen Messfehler ab, dann liege die Inflation bereits "an der Nullkante". Darauf habe die EZB mit ihrer Geldpolitik bisher nicht ausreichend reagiert, so Angenendt. Die größte Gefahr sieht er von den USA ausgehen. Sollten dort Deflationsgefahren auftauchen, dann werde die US-Notenbank sofort gegensteuern, warnt er. Das könnte eine weitere Abwertung des Dollar zur Folge haben. Zugleich würde wohl auch die Bank of Japan intervenieren. Der Euro geriete damit noch stärker unter Aufwertungsdruck und "könnte Größenordnungen von 1,45 Dollar erreichen", sagt Angenendt. Insofern betreibe EZB-Chefvolkswirt Issing eine gefährliche Strategie, wenn er die Debatte verharmlose.
Die Psychologie spielt bei der Debatte eine entscheidende Rolle. Auch wenn die Wahrscheinlichkeit einer Deflation derzeit vielleicht nur bei 20 Prozent liege müsse man sich damit auseinander setzen, sagt Jörg Krämer, Chefvolkswirt der Fondsgesellschaft Invesco. "Deflation ist ein Horrorszenario, weil sie eine Unterversorgung der Wirtschaft mit Geld bedeutet", erläutert er. Dass diese Gefahr droht, sieht Krämer an der seit Monaten sinkenden Kreditvergabe der deutschen Banken bestätigt. Deshalb habe die laufende Deflationsdebatte auch "eine andere Qualität" als früher auftauchende Sorgen um fallende Preise. "Auch wenn man nicht an eine Deflation glaubt, sollte man nun bereit sein, eine Risikoprämie zu zahlen, damit es nicht passiert", sagt Krämer. Dies könne auch durch eine Leitzinssenkung geschehen.
Aktualisiert: 28.05.2003, 05:06 Uhr
Gruß Pichel