Der hässliche Deutsche zeigt sein Gesicht
Von Caroline Schmidt
Nach der Möllemann-Debatte stehen immer mehr Deutsche zu ihrem Feindbild: Früher anonyme Drohungen und Schmähungen gegen Juden werden jetzt immer häufiger mit vollem Namen gezeichnet.
Hamburg - Die beiden Stapel auf dem Boden des Büros wachsen unaufhörlich, inzwischen misst jeder wenigstens einen Meter. Stephan Kramer, Geschäftsführer des Zentralrates der Juden in Deutschland, hat knapp tausend Briefe gezählt. Kramer stapelt sie auf, weil sie so etwas wie ein Gradmesser für ein neues gesellschaftliches Phänomen in diesem Lande sind.
Antisemitische Äußerungen kamen in Deutschland bislang von ganz rechts oder so gut wie gar nicht. Die bürgerliche Mitte zeigte ihr Feindbild nicht, sie schwieg verschämt. Das Angenehme für die Gesellschaft: Was sich nicht äußert, kann nicht beunruhigen. Mit der Ruhe ist es nun vorbei. Die Briefe in Kramers Büro sind Schmähungen, Beschimpfungen, Drohungen.
Solche Briefe gab es immer, aber meist waren es anonyme Pamphlete aus der rechten Szene. Doch diese zwei Meter Briefe sind alle gezeichnet, mit vollem Namen, mit voller Adresse, viele sogar mit Telefon- oder Fax-Nummer für eine schnelle Rückantwort. Da schreibt nicht der rechte Rand, sondern der Mittelstand.
Und auch das gab es in der Bundesrepublik noch nie: Die Briefe kamen innerhalb von nur zwei Wochen ins Haus. Während der Walser-Bubis-Debatte vor dreieinhalb Jahren, habe es mehr als sechs Monate gedauert, ehe eine vergleichbare Zahl solcher Briefe zusammengekommen sei, heißt es aus dem Zentralrat. Auch sonst sind die Deutschen, nachdem der stellvertretende FDP-Vorsitzende Jürgen Möllemann antisemitisches Stammtischdenken politisch gesellschaftsfähig gemacht hat, aktiver denn je: Zu den Briefen kommen noch hunderte E-Mails, dazu etliche Anrufe, vor allem nach Fernsehauftritten jüdischer Repräsentanten wie dem Präsidenten des Zentralrates, Paul Spiegel, oder dessen Stellvertreter Michel Friedman. Auch der Rentner Jürgen Peters, 68, aus Maintal bei Frankfurt hat geschrieben. Spiegel sollte sich "mäßigen", nicht immer nur kritische Äußerungen antisemitisch nennen - "sonst verdoppelt sich bald die Zahl der Antisemiten in Deutschland".
Vorliebe für lateinische Sprüche
Er sei kein Antisemit, sagt Peters, sein Motto laute "Wehret den Anfängen". Dass sein Einsatz notwendig sei, habe er jüngst bei einem Urlaub auf Ischia gespürt. Da sei man sich selbst in internationaler Runde einig gewesen, man könne keine Kritik an Juden äußern ohne mit Repressalien rechnen zu müssen. Das seien die Anfänge, vor denen er die Juden schützen und ein weiteres harmonisches Zusammenleben ermöglichen wolle.
Ralph Giordano kennt diese Tour. Der Schriftsteller hat viele ähnlich formulierte Briefe erhalten. Die Verfasser seien meist gebildet, trügen manchmal sogar einen Doktortitel und hätten eine Vorliebe für lateinische Sprüche aus der bildungsbürgerlichen Mottenkiste: "Hierosolyma est perdita" stand neulich in einem Brief. "Jerusalem ist zerstört". Das sollen die Römer 70 nach Christus anlässlich der Zerstörung Jerusalems gerufen haben. Giordanos Stimme bebt vor Wut, wenn er über diese Briefe spricht: "Den Juden den Antisemitismus in die Schuhe zu schieben, ist genau die Formel, mit der in der gesamten abendländischen Geschichte Judenverfolgung und -ermordung gerechtfertigt wurde." Möllemann habe die Antisemiten aus ihrer Höhle geholt, sagt Giordano. Und zwar die mit Abitur. Grünen-Chefin Claudia Roth bekam hunderte von Briefen, nachdem sie Möllemann wegen Volksverhetzung angezeigt hatte. "Nur wenige davon waren anonym und von Leuten, die keinen geraden Satz herausbekommen."
Wunsch nach einem Schlussstrich
Auch Spiegel erlebt das. Selbst in Kreisen Intellektueller sprächen ihn jetzt immer wieder Menschen an, die geradezu euphorisch Möllemanns vermeintlichen Kampf für die Meinungsfreiheit lobten. "Es passiert in so einer Art des jetzt-trauen-wir-uns-was. Jetzt endlich ist die Zeit da, jetzt wollen wir einen Schlussstrich ziehen - und ihr Juden, ihr müsst mitmachen."
Herbert Stäbler, 59, Angestellter aus Esslingen am Neckar erklärt seinen Brief ("Es muss endlich Schluss sein") mit dem "berechtigten Verlangen", die Juden könnten den Deutschen die Vergangenheit nicht ewig vorhalten. Vor allem jetzt nicht mehr, wo sie doch selbst "Dreck am Stecken" hätten. Ihre Palästina-Politik würde Israel sicher keiner sechzig Jahre lang vorhalten, denn "Juden haben eine Riesenmacht auf der Welt und steuern alles aus Amerika". So würden auch seine Stammtischkollegen denken, allesamt wie er keine Antisemiten, sagt Stäbler. Nur wenige hätten sich bisher getraut das zu sagen. Aber jetzt habe sich endlich mal ein Politiker aus der Deckung begeben. "Die wagen ja sonst wirklich gar nichts, was Juden angeht."
Den Wunsch nach einem Schlussstrich unter das düstere Kapitel der Geschichte hört auch Elke Gryglewski immer häufiger. Sie führt Gruppen durch das Haus der Wannsee-Konferenz, in dem 1942 die Organisation der Vernichtung der europäischen Juden verhandelt wurde. Und das würde jetzt mit großem Selbstbewusstsein vorgetragen. "Sie denken", sagt Gryglewski, "wenn Israel jemanden wie Scharon hat, warum sollen wir uns dann noch mit einem Mord vor fünfzig Jahren beschäftigen?"
Für viele seien die Kriegsverbrechen Israels eine willkommene Möglichkeit, die absolute Schuld der Deutschen zu relativieren, sagt auch Werner Bergmann vom Berliner Institut für Antisemitismusforschung. Jetzt, wo sich zeigte, dass auch die ehemaligen Opfer Täter sein könnten, fühlten sich viele wieder als bessere Menschen. Diese Deutschen seien, sagt Bergmann, die "Wippe, auf der sie bislang ganz unten saßen, ein stückweit hochgerutscht". Das macht offenbar dem deutschen Bildungsbürger auf ganz eigene Weise Mut. Der jüdische Künstler Gershom von Schwarze wähnte sich unlängst im Münchner Literaturhaus "unter Gutmenschen".
Als er sich nach der Veranstaltung in eine - wie er fand - von wenig Sachkenntnis getrübte Diskussion über Israel einschaltete, rief plötzlich jemand aus der Gruppe: "Du traust dir was, dass du mit deinem Judenkapperl da lang rennst. Pass nur auf, dass es dir keiner vom Kopf haut."