Dario Azzellini Das riesige Plakat füllt die gesamte Hauswand. Darauf zu sehen ist im Bildausschnitt der Torso einer jungen Frau, die sich gerade die Hose aufknöpft. »¡Si, claro!«, Ja, natürlich! steht daneben in großen Buchstaben zu lesen. Was wie die Werbung eines Sexshops anmutet, ist der Versuch der venezolanischen Opposition, der Bevölkerung ein »Ja« zum Rücktritt des Präsidenten Hugo Chávez im Referendum am Sonntag abzuringen. Das »Nein zur Vergangenheit, Nein zur Repression!« der Chávez-Anhänger wirkt ob seiner inhaltlichen Aussage überzeugender.
So weisen auch die letzten acht Umfragen, darunter zwei von US-Instituten und diverse von Instituten, die der Opposition nahestehen, Chávez als eindeutigen Sieger aus. Das Unternehmen North American Opinion Research sieht Chávez sogar mit 63 Prozent der Stimmen vorn. Die Opposition liegt hingegen in allen Umfragen unter 40 Prozent. Und obwohl der Anteil derer, die gegen den Rücktritt des Präsidenten stimmen wollen, in den letzten Wochen angestiegen ist, geben sich Oppositionssprecher überzeugt, das Referendum zu gewinnen. Sie setzen auf den Effekt der »heimlichen Stimme«: Viele Wähler würden an den Urnen doch gegen Chávez stimmen, auch wenn sie sich vorher nicht getraut hätten, dies zuzugeben. Diese These wurde selbst von dem oppositionellen venezolanischen Meinungsforschungsinstitut Datanalisis verworfen.
Sollte Chávez das Referendum wider Erwarten verlieren, müßten innerhalb von 30 Tagen Neuwahlen ausgeschrieben werden. Der Wahlsieger würde allerdings nur die aktuelle Legislaturperiode bis Januar 2007 zu Ende führen. Chávez hat bereits angekündigt, für diesen Fall erneut kandidieren zu wollen.
Samuel Moncada, der Sprecher des »Comando Maisanta«, die von Chávez ins Leben gerufene Koordinationsgruppe für die Kampagne gegen seine Abwahl, erklärte gegenüber der mexikanischen Tageszeitung La Jornada, mittlerweile »dankbar« für das Referendum zu sein. Es ermögliche den Chávez-Anhängern, die breite Unterstützung für die Regierung zu verdeutlichen. »Unser Ziel ist es, mit einem riesigen Vorsprung zu gewinnen«, so Moncada, Dekan der Geschichtsfakultät der Zentraluniversität Venezuelas. Ein »knapper Sieg« sei daher »fast so schlecht wie eine Niederlage«.
Bis auf kleinere Provokationen der Opposition geht es bisher fast verdächtig ruhig zu. Allerdings bestehen massive Sorgen, ein Wahlbetrug könne bevorstehen. Zwar wiederholt der Nationale Wahlrat, das elektronische Wahlverfahren habe in Tests einwandfrei funktioniert und lasse keine Möglichkeit eines Wahlbetrugs zu. Doch ist es genau dieses Wahlverfahren, das die linken Basisorganisationen beunruhigt.
Abgestimmt wird an Bildschirmen des Konsortiums SBC. Das US-venezolanische Unternehmen Smartmatic stellt die Hard- und Software. Die nationale, von transnationalen Unternehmen kontrollierte, Telefongesellschaft Cantv übernimmt die Sendung der Daten an den Wahlrat. Die Möglichkeiten des Betrugs sind also zahlreich – auch wenn zusätzlich ein Papierausdruck der Stimme erfolgen soll, um im Streitfall eine manuelle Zählung nachzuholen. Zusätzliche Aufregung verursachte die Nachricht, daß viele der nach den Sabotageaktionen Ende 2002 entlassenen Mitarbeiter des staatlichen Erdölunternehmens PdVSA von Cantv eingestellt wurden. So forderte das Comando Maisanta am Mittwoch vom Wahlrat elf Mitarbeiter von Cantv auszutauschen, weil sie als Aktivisten der Opposition bekannt seien.
Präsident Chávez erklärte zu möglichen Betrugsmanövern der Telefongesellschaft bereits Anfang August, er halte ein Dekret für eine Intervention von Polizei und Armee in den Cantv-Räumen bereit, falls das Unternehmen den Verlauf des Referendums zu beeinflussen versuchen sollte. Große Teile der Basis trauen der Ruhe dennoch nicht. Schon Tage vor dem Referendum fanden in Venezuela Demonstrationen gegen Cantv und einen möglichen Betrug am Sonntag statt.
* Siehe auch Interview mit Maria Bencomo
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Adresse: www.jungewelt.de/2004/08-14/006.php
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Ist Hugo Chávez nur durch Betrug zu schlagen?
jW sprach mit Maria Bencomo, Jugendvertreterin der »Bewegung für die Volksmacht«, einer bolivarianischen Basisorganisation in Venezuela
Interview: Werner Pirker F: Am Sonntag findet in Venezuela das von der rechten Opposition durchgesetzte Referendum über die Absetzung von Präsident Hugo Chávez statt. War es richtig, die Fortführung des antiimperialistischen Prozesses zur Wahl zu stellen?
Die Absichten jener, die das Referendum gewollt haben, zielen ohne Zweifel auf einen Bruch mit der antiimperialistischen Orientierung. Schon der Prozeß der Durchsetzung dieser Abstimmung beruhte auf betrügerischen Machenschaften. Die zentrale Wahlkommission hat vor wenigen Tagen festgestellt, daß eine Person gleich fünfzigmal für das Referendum unterschrieben hat. Daß sich das Regierungslager auf die Volksbefragung eingelassen hat, ergab sich aus dem Wirken eines Bündnisses von politischen Parteien, die die Regierung Chávez unterstützen, aber eine Position des ständigen Zurückweichens einnehmen. Diese Kräfte haben sich mit der Opposition auf das Referendum geeinigt, um Zusammenstöße zu vermeiden. Obwohl diese Abstimmung von der Zahl der Unterschriften her nicht verfassungskonform ist.
F: Wie lautet Ihre Wahlprognose?
Präsident Hugo Chávez müßte die Abstimmung unter normalen Umständen klar für sich entscheiden. Damit wäre aber keineswegs gesagt, daß die Opposition das Wahlergebnis anerkennt und von ihrem Konfrontationskurs abweicht. Nicht auszuschließen ist aber auch, daß die Gegner der bolivarianischen Revolution mit Hilfe von Wahlbetrug gewinnen. Denn sie kontrollieren weitgehend den auf elektronischer Basis stattfindenden Prozeß der Stimmauszählung.
F: Normalerweise hat doch eher die Regierung als die Opposition die Möglichkeit zum Wahlbertrug. Warum soll das in Venezuela anders sein?
Die Opposition hat deshalb große Möglichkeiten zur Manipulation des Wahlergebnisses, weil die Stimmenauszählung über ein von der nationalen Telefongesellschaft beherrschtes System erfolgt. Der Hauptaktionär dieser Gesellschaft steht im Lager der Reaktion, die Regierungsanteile sind in der Minderheit. Möglich ist auch, und das wäre nicht das erste Mal in Venezuela, daß das System abstürzt oder durch einen Stromausfall lahmgelegt wird, was der Opposition zur behauptung dienen könnte, die Regierung habe das Referendum zum Scheitern gebracht.
F: Welche Szenarien sind denkbar – im Falle eines Sieges oder einer Niederlage?
Sollten wir gewinnen, wird es ein riesiges Volksfest geben. Das alleine würde aber nicht dazu führen, daß der Prozeß der bolivarianischen Revolution vertieft wird. Andererseits könnte ein Sieg aber auch zu einer Mobilisierung des Volkes führen. Dann könnte es gelingen, die reformistischen Kräfte innerhalb der Regierung zurückzudrängen und die derzeit von moderaten Parteien besetzten Räume zurückzuerobern. Gewinnt die Opposition infolge von Manipulationen, würde das dennoch nicht bedeuten, daß sich das Volk seine Errungenschaften wieder so ohne weiteres nehmen ließe. Dann wäre ein Bürgerkrieg durchaus möglich.
F: Was bedeutet reformistisch und was revolutionär in Venezuela?
Auch unter den reformistischen Kräften in der bolivarianischen Regierung gibt es solche, die für eine Weiterführung des revolutionären Prozesses eintreten. Sie wollen dies aber mit ausschließlich gewaltfreien Mitteln tun. Und dann gibt es gewöhnliche Reformisten, die keinen Schritt über das Erreichte hinausgehen wollen. Viele von ihnen haben sich einfach an die Macht angehängt. Dabei handelt es sich um gewisse Parteien, aber auch um Regierungsmitglieder. Sie klammern sich an ihre Posten und Privilegien und wehren sich deshalb gegen eine Vertiefung der Revolution, die vor allem auch eine radikale Umgestaltung des institutionellen Staatsapparates bedeuten würde. Zum Beispiel der Minister für Inneres und Justiz. Er wünscht sich eine bolivarianische Regierung ohne Chávez. Während des Staatsstreiches vom April 2002 hatte er, der damals eine hohe militärische Funktion innehatte, schon erklärt, daß Chavez zurückgetreten sei, die Regierung aber weiter bestehen bleibe. Solche Regierungsvertreter gefährden den revolutionären Prozeß. Es gibt zwar Druck von unten, diese Leute zu ersetzen. Doch sie finden Rückendeckung in Teilen der Streitkräfte.
F: Von Parteien, auch von denen, die das Regierungslager bilden, scheinen Sie grundsätzlich keine gute Meinung zu haben. Wie lassen sich diese Formationen charakterisieren?
Im Zentrum steht die um Chávez gebildete »Bewegung für die 5. Republik«, kurz: MVR. Sie hat ihre Wurzeln in der Erhebung der Militärs gegen die Oligarchie. Sie ist sehr heterogen und mit mehr oder weniger radikalen bolivarianischen Zirkeln vernetzt. Dann gibt es die Kommunistische Partei, die sehr moderat ist und wie in Chile unter Allende auf Veränderungen im institutionellen Rahmen setzt. Dann gibt es die Formationen »Podemos« (Wir können) und die »Bewegung Vaterland für alle«. Sie hat sich aus der »Bewegung für Sozialismus« abgespalten, die sich auf die Seite der Opposition geschlagen hat. Überhaupt ist die Rolle der historischen Linken äußerst ambivalent. Der eine Teil verkörpert die stagnativen Tendenzen im Revolutionsprozeß, der andere stellt die aggressivste Pressure Group der Konterrevolution. Die frühere maoistische Guerillabewegung Bandiera Roja ist während des Umsturzversuches im April 2002 als paramilitärische Formation der oligarchischen Reaktion aufgetreten.
F: Was verstehen Sie unter einer Vertiefung des revolutionären Prozesses?
Dazu gehört primär eine Politik der Nationalisierung, vor allem der Banken. Zweitens muß die Bürokratie in der Erdölindustrie von reaktionären Teilen befreit werden. Der dritte Bereich fällt unter den Begriff »Volksmacht«, das heißt, die direkte Teilnahme des Volkes an der Macht, ohne die Vermittlung durch politische Parteien, die gegenwärtig die Grundlage des Reformismus bilden. In unserer Verfassung gibt es das Gesetz für lokale Planungsstäbe. Es ist bisher noch nicht umgesetzt worden. Selbst die Form seiner Umsetzung ist noch völlig offen. Ein wesentliches Element der Vertiefung der Revolution ist der Kampf gegen die Korruption und gegen die Bürokratie. Als Erbe des alten Regimes gibt es immer noch einen starken bürokratischen Staatsapparat, der nicht nur verändert, sondern zerstört werden müßte. Um die Revolution zu vertiefen, muß das politische Bewußtsein der Volksmassen gehoben werden. Unsere Volksbewegung ist zwar mitunter sehr euphorisch, in ihren Zielsetzungen aber zumeist sehr kurzfristig.
F: Eine Revolution ohne revolutionäre Partei?
Natürlich wird sich im revolutionären Prozeß eine Avantgarde herausbilden.
*** Das Aktionsbündnis für Venezuela lädt in Berlin zur Venceremos-Soli-Party ein: Sonnabend, 14. August, 19 Uhr: Blauer Salon im ehemaligen ND-Gebäude am Franz-Mehring-Platz.
Am Sonntag vor der Botschaft Venezuelas in Berlin: Mahnwache von 10 - 14 und 19 - 20 Uhr, Schillstr., Berlin-Tiergarten
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Was wäre, wenn ...
... die Reaktion gewinnt? Vorsicht vor James Carter und den »Menschenrechts«interventionisten. Das Referendum in Venezuela
James Petras Am 15. August 2004 werden die wahlberechtigte Venezolanerinnen und Venezolaner über ein Referendum von außerordentlicher weltpolitischer Bedeutung entscheiden. Es geht um nicht weniger als um die Zukunft der Weltenergiewirtschaft, das Verhältnis der USA zu Lateinamerika, insbesondere zu Kuba, und um das politische und soziale Schicksal von Millionen Armen in den venezolanischen Städten und auf dem Lande. Wenn Präsident Hugo Chávez abgewählt wird und die Rechte an die Macht kommt, wird sie die staatliche Öl- und Gasgesellschaft privatisieren und an die Multis der USA verkaufen, aus der OPEC austreten, die Produktion des venezolanischen Öls und den Export in die USA erhöhen, was im Ergebnis zu einer Verringerung der venezolanischen Staatseinnahmen um mehr als die Hälfte führen wird.
Die politischen Konfliktlinien
Innenpolitisch bedeutete dies die Beendigung des Gesundheitsprogramms für die Bevölkerungsschichten in den städtischen Armenvierteln, der Alphabetisierungskampagne sowie des öffentlichen Wohnungsbaus für die Armen. Die Landreform würde aufgehoben und ihre rund 500000 Nutznießer (100000 Familien) von Grund und Boden vertrieben. Dies alles wird nur durchzusetzen sein, indem es zu blutiger staatlicher Unterdrückung, zu Festnahmen und extralegalen Hinrichtungen, zu schwerer Repression gegen die Wohnviertel der Chávez-Anhänger, die Gewerkschaften und die sozialen Bewegungen kommt. Das scheinbar so »demokratische« Referendum wird, falls die Opposition gewinnt, extrem autoritäre, kolonialistische und sozial repressive Folgen zeitigen.
Regionalpolitisch würde eine Abwahl von Chávez dazu führen, daß die USA und Europa die Ölreserven Lateinamerikas noch fester in den Griff bekommen; nach Chávez würde die Entstaatlichung der Erdölindustrie nach dem Muster der Privatisierungen von Petrobras in Brasilien unter Präsident Inácio Lula da Silva und in Ecuador unter Präsident Lucio Gutierrez vonstatten gehen. In Argentinien, Bolivien und Peru würde die Ölindustrie weiter in ausländischem Privatbesitz bleiben. Die Kontrolle über Venezuelas Öl würde den USA noch größeren Einfluß auf dem Weltölmarkt bescheren und sie weniger abhängig vom Mittleren Osten machen. Nicht minder wichtig für die USA würde es sein, mit einem postchavistischen Venezuela den schärfsten Gegner des Freihandelsvertrages (ALCA) auszuschalten und damit dem Ziel näherzukommen, die Handels- und Investitionsbedingungen in der Hemisphäre direkt zu kontrollieren. Für die kubanische Wirtschaft würde die Übernahme des venezolanischen Öls durch die USA ernste strategische Konsequenzen haben, die Ölexporte würden wahrscheinlich abrupt beendet und die Beziehungen abgebrochen werden. Die direkte neokoloniale Beherrschung des Irak und Venezuelas, von zwei der wichtigsten Erdöllieferländer, würde die globale Macht der USA ungemein erhöhen.
Das »Referendum« in Venezuela bedeutet die Konfrontation scharfer Widersprüche, und zwar zwischen USA und OPEC, zwischen US-Imperialismus und patriotischen Kräften in Lateinamerika, zwischen Neoliberalismus und unabhängiger nationalstaatlicher Politik, zwischen autoritären, von den USA unterstützten Herrschaftseliten und sozialen Interessen der einheimischen städtischen Lohnabhängigen, Arbeitslosen, kleinen Geschäftsleute, landlosen Landarbeitern und Kleinbauern. Diese historischen Konfliktlinien laufen in dem Referendum wie in einem Brennpunkt zusammen.
Die Ereignisse im Vorfeld des Referendums sprechen eine deutliche Sprache, was die krasse Einmischung der USA, die Gewaltbereitschaft der Eliten mit ihrer Strategie des Herrschens oder Zerstörens und die hemmungslose totalitäre Propaganda der privaten Massenmedien angeht. Die Opposition hat einen gewalttätigen Militärputsch unterstützt (der im April 2002 niedergerungen wurde) und einen beinahe vernichtenden Wirtschaftsboykott organisiert (der ebenfalls mit einer Niederlage endete). Sie hat, um Gewalt zu verbreiten, mit Hilfe aktiver venezolanischer Offiziere ein kolumbianisches Militärkontingent aus über 130 militärischen und paramilitärischen Kämpfern zusammengestellt – was dank des venezolanischen Geheimdienstes vereitelt wurde. Bedrohlich war ferner, daß während der Unterschriftenkampagne für das Referendum massenhaft gefälschte Ausweispapiere hergestellt und verteilt wurden; es wurden Unterschriften von Zehntausenden verstorbenen, nicht wahlberechtigten oder unter Druck gesetzten Personen gefälscht; Tausende Unterschriften stammten von einer einzigen Hand. Es grassierten Korruption und Betrug, aber die offiziellen internationalen Beobachter drängten die Regierung Chávez, dies hinzunehmen und mit dem Referendum fortzufahren. Unter denen, die ihre Stimme erhoben, waren auch, was die Sache noch bedrohlicher machte, der umtriebige James Carter sowie Jose Miguel Vivanco von Human Rights Watch.
Die Gesichter imperialer Macht
In diesen beiden Gesichtern imperialer Macht spiegeln sich unter anderem die eiserne Faust der militärischen Intervention ebenso wie das »Weichspülen« von Wahlbetrug und die Politik der diplomatischen Einschüchterung und demokratischen Erpressung. James Carter ist der durch Graham Green berühmt gewordene »stille Amerikaner«, der Wahlbetrug legitimiert, gefälschte Wahlen absegnet, mörderischen Gewaltherrschern ein Gütesiegel verleiht, Wahlen forciert, bei denen die Opposition durch staatliche Institutionen und halböffentliche Stiftungen der USA finanziert wird, und bei denen die bestehende fortschrittliche Regierung durch Störungen der Wirtschaft unter Druck gesetzt wird.
Hinter einer simplen, humanen Fassade verfolgt Carter eine Strategie, die darin besteht, progressive Regimes zu Fall zu bringen. Carter und das »Team« seines Centers erkunden die Schwachpunkte der demokratischen Kräfte, die von ihren Gegnern mit Rückendeckung der USA bekämpft werden und somit für Carters Appelle empfänglich sind, »pragmatisch« und »realistisch« zu sein, sprich gefälschte Wahlergebnisse und grobe Wahleinmischung der USA hinzunehmen. Carter ist ein Meister in der Vermischung demokratischer Rhetorik und der Manipulation von Demokraten. Die internationalen Massenmedien widmen sich bereitwillig seinen inszenierten Reisen in Konfliktländer und seiner seltsamen Menschenrechtskarriere und geben Carter so den Anschein demokratischer Glaubwürdigkeit. Tatsächlich dienten seine politischen Interventionen dem Ziel, Diktatoren zu unterstützen, gefälschte Wahlen zu legitimieren und populäre demokratische Kandidaten zu drängen, vor den von den USA unterstützten Gegnern zu kapitulieren.
In Venezuela posiert Carter heute abermals als »neutraler Moderator«, während er mit der Opposition gegen Chávez zusammenarbeitete, um zunächst das Referendum zu legitimieren und dann Bedingungen für seinen günstigen Ausgang zu schaffen. Nicht ein Wort verlor Carter über die massive Finanzierung der Opposition durch die USA, eine schreiende Verletzung jeden demokratischen Wahlprozesses, Aktivitäten, die in seinem eigenen Land, den USA, strafbar wären.
Er fordert augenzwinkernd eine »faire Berichterstattung« von Massenmedien, die geradezu hysterisch auf Chávez reagieren und über die Opposition nur positiv berichten. Als Gegenleistung erlangte er von Chávez die Zusage, keine gesetzlich vorgeschriebenen Sendungen auf staatlichen Kanälen durchzusetzen. Carter weigert sich anzuerkennen, daß in diesem Wahlkampf keine gleichen Bedingungen herrschen; hingegen verteidigt er unter dem Deckmantel der »freien Presse« das Recht der Medienoligarchen, giftige Lügen zu verbreiten, und spricht der Wählerschaft das Recht ab, beide Seiten zu hören.
Carter ignoriert den einschüchternden Effekt von Militärmanövern der USA in der Karibik, die kriegerischen Erklärungen des stellvertretenden US-Außenministers für Lateinamerika, Noriega, gegen Chávez sowie die hyperaktive Unterstützung der Anti-Chávez-Kräfte durch den US-Botschafter Charles Shapiro. Vor allem sieht Carter hinweg über die Verschwörungen, betrügerischen Praktiken und paramilitärischen Aktivitäten im Vorfeld des Referendums. Indem er sich darauf konzentriert, die Einhaltung der Wahlbestimmungen durch die Regierung durchzusetzen, und den in höchstem Grade präjudizierenden Kontext der Wahlen ausblendet, erfüllt Carter seine Rolle als »Schrittmacher« entweder für einen Wahlsieg der Opposition oder im Falle ihrer Niederlage für einen Staatsstreich nach den Wahlen.
Gestohlene Wahlen
Im Jahre 1993 habe ich ein mehrstündiges Gespräch mit dem bekanntesten demokratischen Politiker der Dominikanischen Republik, Juan Bosch, geführt. Er erzählte mir, daß nach den Präsidentschaftswahlen von 1990, die er rechtmäßig gewann, sein rechter, USA-höriger Gegner, Juan Balaguer, einen massiven Diebstahl beging, der von Wahlbeobachtern bezeugt wurde. Carter leitete die Beobachtungsmission. Bosch präsentierte Carter Dokumente, Beweismaterial, Zeugenaussagen und Fotos, die bewiesen, daß Balaguer-Anhänger Wahlzettel im Fluß versenkt hatten. Carter nahm die Fälschung und den Betrug als Tatsachen zur Kenntnis, doch drängte er Bosch, das Wahlergebnis zu akzeptieren, »um einen Bürgerkrieg zu vermeiden«. Bosch beschuldigte Carter der Vertuschung, um in Balanguer einen Klienten der USA zu gewinnen. Bosch führte einen Protestmarsch von 500000 Demonstranten an. Carter beglaubigte Balaguer als aus »freien Wahlen« hervorgegangen und reiste ab. Balaguer setzte die Politik der Repressionen, Plünderungen und Privatisierungen elementarer Dienstleistungen fort.
Nikaragua 1979
Im Juni 1978 richtete US-Präsident Carter ein privates Schreiben an den nikaraguanischen Diktator Anastasio Somoza; darin lobte er diesen wegen seiner »Menschenrechtsinitiativen«, während er ihn öffentlich in gleicher Sache kritisierte. Carter hatte die »Menschenrechte« zum Angelpunkt seiner interventionistischen Propaganda gemacht. (Morris Morley, Washington, Somoza and the Sandinistas, 1994, S. 115–116) Seine doppelzüngige Politik fiel in die blutigste Periode der Herrschaft von Somoza, als dieser Städte bombardierte, die mit der Revolution sympathisierten. Carters rhetorische Bekenntnisse zu den Menschenrechten galten nur der Öffentlichkeit, seine privaten Versicherungen gegenüber Somoza ermunterten den Diktator, seine Politik der verbrannten Erde fortzusetzen.
Im Juni 1993 berichtete mir der panamaische Außenminister aus der Amtszeit des verstorbenen Präsidenten Omar Torrijos von Carters kürzestem Regionaltreffen. Es fand im Mai 1979 statt, weniger als zwei Monate vor dem Sturz von Somoza. Carter berief ein Treffen der Außenminister verschiedener Länder ein, die der Somoza-Diktatur ablehnend gegenüberstanden. Carter erschien und legte den Vorschlag auf den Tisch, eine »interamerikanische Friedenstruppe«, eine Streitmacht aus Truppen der USA und lateinamerikanischen Ländern, zu bilden, um in Nikaragua einzumarschieren, um »den Konflikt zu beenden« und eine Koalition diverser Kräfte zu unterstützen. Damit sollte nach Aussage des bei dem Treffen anwesenden früheren Außenminister von Panama erreicht werden, einen Sieg der Sandinisten zu verhindern, die Nationalgarde von Somoza zu erhalten und Somoza durch eine USA-freundliche konservative zivile Junta zu ersetzen. Carters Vorschlag wurde einstimmig als eine ungerechtfertigte Intervention der USA zurückgewiesen. Pikiert brach Carter das Treffen ab. Dieser Versuch, eine von der Bevölkerung unterstützte Revolution im Keim zu ersticken, um den Somoza-Staat und die US-Vorherrschaft zu erhalten, entlarvte Carters Anspruch, ein Präsident der »Menschenrechte« zu sein, als eindeutige Lüge. Die von ihm übernommene Praxis, die »Menschenrechte« für den Einsatz imperialer Macht zu mißbrauchen, wurde unter den Regierungen von Reagan, Clinton und Bush Vater und Sohn zum Standardverfahren.
Opposition der Staatsstreiche
Mit seiner glühenden Unterstützung für die zu Gewalt neigende Opposition hat sich Carter häufig in die venezolanische Politik eingemischt und sich dabei als ein neutraler Vermittler dargestellt. Bei jedem Schritt auf diesem Wege ging es Carter um die Legitimierung einer Opposition der Staatsstreiche, des Aufruhrs, der paramilitärischen Terroristen und der für die Wirtschaft verheerenden Aussperrungen durch die Bosse. Carter überredete Präsident Chávez, sich mit den Vertretern der Elite und Hintermännern des gewaltsamen Staatsstreichs, die seine gewählte Regierung für kurze Zeit gestürzt hatten, zu »versöhnen«. Er setzte den gewählten Präsidenten unter Druck, mit der Opposition zu verhandeln und »die Macht zu teilen«, ungeachtet dessen, daß Chávez sechs nationale Wahlen gewonnen hatte. Carter weigerte sich, die Wahlsiege und Mandate von Chávez anzuerkennen. Statt dessen unterstützte er die Forderung der Opposition nach Neuwahlen und förderte das »Referendum«. Carter beglaubigte die von der Opposition verkündeten Referendumsergebnisse, obgleich es grobe Wahlverstöße gab. Er übte auf den Nationalen Wahlausschuß Druck aus, um die Überprüfung der Stimmen zu beschleunigen, wodurch er drängte, mit dem Referendum fortzufahren. Carter hat niemals den Wahlbetrug in Hunderttausenden Fällen und die gefälschten Ausweispapiere als gravierende Fakten anerkannt (wie er sich auch im Falle des gestohlenen Wahlsieges von Juan Bosch verweigert hatte). Carter agierte in Venezuela als der »stille Amerikaner«, der hohe Ideale beschwört und dabei mit schmutzigen Tricks arbeitet. Die historische Bilanz ist hinreichend klar. Es kann nicht darauf vertraut werden, daß Carter als »neutraler Beobachter« agiert. Er war und ist auch heute ein Parteigänger von imperialen Interessen der USA und nicht einfach ein »Beobachter«, sondern ein aktiver wie hinterhältiger Partner von Klienten der USA. Wo immer es darum geht, fortschrittliche Volksbewegungen und Regierungen zu bekämpfen, ist Carter weiterhin bereit, eine politische Opposition, ein Regime, einen Herrscher oder »Koordinator« zu verteidigen und zu fördern.
Carter ist kein Demokrat! Das Carter Institute wird dabei sein, um Betrug und Täuschung zu legitimieren, d. h. die Fragen und das Referendum infrage zu stellen, wenn Chávez gewinnt. Insbesondere dürfte Carter den Umstand ausnutzen, daß einige politische Opportunisten, die Chávez umgeben, geneigt sind, Konzessionen zu machen, um aus der Anwesenheit dieses Abgesandten des Empire »demokratische Legitimität« zu schöpfen. Carter ist ein Bindeglied in der umfassenderen Strategie der von den USA unterstützen Staatsstreiche und Aussperrungen, paramilitärischen Gewaltanwendung und militärischen Bedrohung von seiten Kolumbiens.
Nachbemerkung
Der imperiale Staat der USA mobilisiert seine organisatorischen Ressourcen, um Chávez zu besiegen. Zusätzlich zu Carter betätigen sich Human Rights Watch (HRW), die National Endowment for Democracy sowie eine kleine Armee von einheimischen und internationalen NGO im Rahmen der von den USA orchestrierten Anti-Chávez-Kampagne. HRW-Direktor José Miguel Vivanco gehört zu den lautstärksten Interventionisten: Kurz nachdem Präsident Chávez der Entscheidung des Nationalen Wahlausschusses beipflichtete, das Referendum abzuhalten, trat Vivanco mit einem »Bericht« hervor, in dem er erklärte, daß Venezuela »unter einer Verfassungskrise leidet, die seine ohnehin fragilen Institutionen berühren könnte.« Er beschuldigte die Chávez-Regierung der »Säuberung des Gerichtswesens« und rief zu einer »Intervention der (von den USA dominierten) Organisation Amerikanischer Staaten« auf. Um die Regierung Chávez zu zwingen, seiner Stellungnahme zu entsprechen, forderte Vivanco die Weltbank und den IWF auf, direkte Hilfe zur »Modernisierung« des Rechtswesens auszusetzen. In den letzten drei Jahre hat HRW dem US-Außenministeriums darin nachgeeifert, die demokratische Legitimation von Chávez zu bestreiten, und zwar ungeachtet dessen, daß sich der venezolanische Präsident in sechs freien Wahlen als Kandidat gestellt (und gewonnen) hat und zu dem Referendum bereit ist, das mit zweifelhaften Unterschriften erzwungenen wurde.
Human Rights Watch ließ den massiven Wählerbetrug der Opposition völlig außer acht und machte sich zum Echo der Opposition. Unter den HRW-Funktionären wimmelt es von früheren Regierungsangestellten der USA, darunter als jüngste Erwerbung Marc Garlasco, ein ehemaliger Beamter des Pentagon-Geheimdienstes (Defense Intelligence Ageny), als führender Analyst für Militärfragen.
* James Petras, ehemaliger Professor für Soziologie an der Binghamton Universität, New York, ist Berater der Landlosen und Arbeitslosen in Brasilien und Argentinien und Mitautor des Buches »Globalization Unmasked« (Zed). Zu erreichen ist er unter: jpetras@binghamton.edu
(Aus dem Englischen: Klaus von Raussendorff)
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