Ronald Gehrt
Wahrheit und Hofberichterstattung
Es ist schon beeindruckend, was der Anleger in den Medien an Absurdem zu hören bekommt. Und nicht selten wird die Wahrheit schlicht und ergreifend zu Gunsten einer ins Bild passenden Aussage "zurechtgebogen". Ein Paradebeispiel war die Rallye an der Wall Street am Dienstag. Nachdem die Kurse bis 20:00 Uhr unserer Zeit mehr oder weniger müde mit leichten Gewinnen seitwärts tendierten, zogen Dow Jones und Nasdaq plötzlich an. Für die Berichtersatter Alarmstufe Rot: Jetzt galt es blitzschnell, Begründungen zu finden. Die Wahrheit war:
Die Rallye war technischer Natur. Mehr nicht (als ob das nicht reichen würde). Dow und Nasdaq hatten am Vortag ihre 20-Tage-Durchschnittslinien und zugleich ihre September-Aufwärtstrendlinien angelaufen und verteidigt. Nachdem sich zwei Stunden vor Handelsschluss abzeichnete, dass kein weiterer Verkaufsdruck zu erwarten wäre, stiegen die kurzfristig orientierten Trader ein. Und bitte: Warum denn nicht? Wo kauft man den sinnvoller als an einer Aufwärtstrendlinie?
Aber "technisch" klingt nach Ansicht vieler Reporter immer noch wie "unecht", also galt es, sich schnell etwas zusammenzureimen. Da wurde zunächst die Heraufstufung der Halbleiterbranche durch UBS Warburg hervorgeholt. Ein Triumph! Die Wende! Ignoriert wurde, dass gerade diese Branche in den vergangenen zwei Monaten von gut der Hälfte der Brokerhäuser herauf- und von der anderen Hälfte herabgestuft wurde – im heiteren Wechselspiel. Denn Fakt ist, dass sich kein Abschwung ohne kurze Gegenreaktionen abspielt. Dass die Stabilisierung bei der Auftragslage im November daher die definitive Wende darstellt, wie es die Berichterstatter dann am Mittwoch Morgen feierten, ist nicht mehr als eine starke Behauptung.
Nicht ins Bild passte, dass der bekannte Morgan Stanley-Analyst Barton Biggs ebenfalls am Dienstag warnte, hier einer gefährlichen, spekulativen Blase aufzusitzen, die jederzeit platzen könne. Begründung: Die Kurse steigen extrem schnell und antizipieren eine baldige Wende zum Besseren, für die es aber noch keinerlei greifbare Hinweise gibt. Das passte nicht ins Bild, wurde daher am Dienstag Nachmittag kurz erwähnt und verschwand dann sofort aus der Berichterstattung, als die Kurse ihre Rallye begannen. Doch das "Zurechtbiegen" der Wahrheit war damit nicht zu Ende:
Die Analystenkonferenz bei Cisco Systems wurde zur Wallfahrt für Börsenbullen. CEO Chambers sagte hier, dass die Umsatz- und Auftragentwicklung im November genau im Plan gelegen hätte. Ist das nicht unfassbar? Das ist die Wende, ist doch ganz klar! Überlegen Sie: Ein ganzer Monat im Plan! Klang aber doch irgendwie dünn. Und so wurde aus "genau im Plan" in den Medien nur Stunden später "über den Erwartungen".. Besonders peinlich:
In der Morgen-Telebörse am Mittwoch sprach der Wall-Street Reporter von "im Plan", in der selben Sendung die Moderatorin von "über den Erwartungen". Nicht ganz glaubhaft gelungen, das Zurechtbiegen. Zudem: Wenn die Good News" bei Cisco das Zugpferd der Rallye gewesen sein soll, warum stieg dann der Nasdaq 100 um 4,3 Prozent, Cisco selbst aber nur um 3,3 Prozent? Verehrte Leser:
Ich finde an einer Aufwärtsbewegung, die initiiert wurde, weil eine Trendlinie gehalten hat, nichts Problematisches. Außer vielleicht, dass dadurch nicht garantiert werden kann, dass die Kurse eben diese Linie nicht ein paar Tage später doch noch durchbrechen. Aber so ist eben die Realität. Natürlich klingt "Wende" besser. Aber wenn sich diese Sprüche als heiße Luft erweisen, ist dieser leichtfertige Umgang mit der Wahrheit einfach ein Skandal. Und auch, wenn die Mehrzahl der Anleger nicht mit Derivaten arbeitet, von fallenden Kursen daher nicht profitieren kann und folgerichtig auf steigende Kurse hofft, ist es inakzeptabel, den Hoffnungen nach dem Mund zu reden, wenn dadurch finanzielle Schäden entstehen können. Denn bitte erinnern Sie sich:
Genau die selben "Hurra-Sprüche" haben wir im Mai und Juni diesen Jahres gehört. Keine Rezession, markante Erholung der Gewinne, die Wende ist vollzogen. Starke Behauptungen, null Beweise. Fakt war: Wochen später sackten die Börsen durch und markierten neue Tiefststände. Und zwar, weil sich die Jubelparolen als heiße Luft erwiesen hatten. Aber wie viele Investoren hatten auf diese "Analysen" gebaut und im Bereich der Zwischenhochs im Juni gekauft? Ich persönlich schließe mich den Aussagen von Barton Biggs an, nicht zuletzt, weil ich genau diese Warnung bereits seit Wochen immer wieder abgebe. Es ist nun einmal so, dass Kursrallye und Fundamentals aktuell sogar noch krasser auseinander gelaufen sind wie im Frühsommer. Und daher ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Kurse eben nicht einfach ewig weiter steigen, sondern noch einmal deutlich schwächer gehen werden, im Moment sehr hoch.
Doch zunächst einmal haben Dow und Nasdaq ihre Trendlinien verteidigt, und das ist kurzfristig bullish. Vergessen Sie Cisco und UBS Warburg. Denn die Hofberichterstatter der Hausse werden sie auch vergessen haben, wenn es erneut gilt, einen Grund für eine Rallye oder einen Kursrutsch zu finden, der bitte auf keinen Fall "technisch" sein darf!
Mit besten Wünschen Ihr
Ronald Gehrt