Bauchweh-Börse
Untergangsstimmung an den Märkten. Viele warten auf Panikverkäufe. Doch die kommen vielleicht gar nicht. Was erfahrene Investoren jetzt tun, weshalb sie auf bestimmte Kennzahlen besonders achten
Ich denke, dass es Ende des Jahres im DAX noch mal mindestens um 20 Prozent hochgeht, von 2000 auf 2400 Punkte." Diese Wortmeldung in einem Internet-Board zeigt den Galgenhumor, mit dem sich Anleger mittlerweile trösten. Angesichts anhaltender Hiobsbotschaften - siehe Worldcom sowie jüngst Xerox - und neuerlicher Tiefststände an den Börsen regieren Angst und Verzweiflung auf dem Parkett.
"Viele Anleger kapitulieren", so Felix Schleicher, Fondsmanager der Fiduka Vermögensverwaltung. Dennoch. Die ganz große Börsenpanik, fand bisher nicht statt. Trotz teilweise großer Kursbewegungen in der vergangenen Woche waren die Umsätze bei DAX-Titeln zwar hoch, aber nicht außergewöhnlich. Das gleiche Bild in den USA. "Jeder erwartet jetzt den großen Ausverkauf. Doch wenn ihn jeder erwartet, kommt er womöglich nicht", so Schleicher.
Trotzdem bekommen einige Großinvestoren kalte Füße und trennen sich von ihren Beteiligungen. Die Folge: Sie drücken damit zusätzlich Stimmung und Kurse. So wirft die Deutsche Bank ihre Münchener-Rück-Aktien auf den Markt. Die HypoVereinsbank hat einen Teil ihrer Allianz-Aktien verkauft. Mögliche nächste Opfer sind DaimlerChrysler, MAN und Heidelberger Druck. Denn einige Manager befürchten, dass der steuerfreie Verkauf von Unternehmensbeteiligungen nicht mehr lange möglich sein wird, weil eine schwarz-gelbe Bundesregierung dieses Steuerschlupfloch schließen könnte. Schöner Nebeneffekt: Die eher mauen Bilanzen können mit den Verkaufserlösen aufpoliert werden.
Die Gründe für die Kursstürze
Der Ausverkauf der Großen ist allerdings nur ein Grund für die kräftigen Kursabschläge. Die Angst vor der Aufdeckung weiterer Bilanzfälschungen wie bei Worldcom (siehe Seite 12) sowie der dadurch zunehmende Vertrauensverlust lastet auf den Börsen. Auch Gewinn- und Umsatzwarnungen von Unternehmen wie Nokia oder Oracle drückten in den vergangenen Wochen die Aktienkurse. Gleiches gilt für die Research-Berichte der Analysten. "Fast im Minutentakt schraubten die ihre Gewinnprognosen nach unten", so Schleicher.
Wohl nicht zu Unrecht. Einen Beleg dafür, dass die Analysten diesmal richtig liegen, liefern die Insider-Verkäufe von Firmenmanagern. "An der New Yorker Börse gibt es derzeit bei Firmeninsidern auf jeden Käufer fünf Verkäufer", sagt Dhaval Joshi, Aktienstratege bei der Société Générale.
"Wir befinden uns momentan in einer Abwärtsspirale: schlechte Unternehmenszahlen, die Angst vor weiteren Terroranschlägen, Arbeitslosigkeit und die bevorstehenden Wahlen in Deutschland sorgen für Unsicherheit", so Börsenpsychologe Joachim Goldberg vom Research-Haus Cognitrend (siehe Interview S. 13). Eine Studie von U.S. Trust, einer Tochter des US-Brokers Charles Schwab, zeigt, dass derzeit zwei Drittel der befragten Aktionäre den Managern nicht vertrauen und drei Viertel das Zahlenwerk der Firmen in Frage stellen. Trotzdem hat nur weniger als ein Viertel der Befragten Aktien gegen sichere Anlagen eingetauscht.
Was bleibt, ist die Hoffnung auf Besserung. Doch gerade dies sieht Goldberg als Problem: "Viele Anleger haben in den vergangenen Monaten Kursrückgänge genutzt, um immer wieder nachzukaufen und ihren durchschnittlichen Einstandskurs zu senken. Sie sind also in den Märkten drin und können oft nicht mehr nachkaufen." Beispiel: Wer eine T-Aktie für 40 Euro gekauft hat und bei zehn Euro noch mal fünf nachkaufte, hat nun einen durchschnittlichen Kaufpreis von 15 Euro - und wartet jetzt ab.
Diese Strategie fahren jedoch nicht nur Privatanleger, sondern auch Fondsmanager. Laut der wöchentlichen Cognitrend-Umfrage für die Deutsche Börse sind 64 Prozent der befragten institutionellen Anleger für den Neuen Markt optimistisch. Der Haken an der Sache: Optimisten sind meist schon im Markt drin, erwarten sie doch steigende Kurse. Privatanleger sehen die Lage des Wachstumssegments weit kritischer - gerade mal 44 Prozent sind positiv gestimmt. "Vor allem Anleger, die während des Booms 1999 und 2000 eingestiegen sind, wendeten sich ab", so Goldberg.
Ist das Schlimmste wirklich überstanden?
Allerdings: "Die Stimmung ist schlechter als die Lage. Die Baisse ist in der Schlussphase", meint Fondsmanager Schleicher. Das soll heißen: die negativen Nachrichten sind zum großen Teil in den Kursen enthalten. Dies gelte auch für die Terrorangst. Mehr als die Hälfte der Amerikaner rechnet mit weiteren Anschlägen innerhalb der nächsten vier Wochen. "Was soll da noch an ,bad news für die Börse kommen", fragt Schleicher.
Gleichzeitig gibt es jedoch positive Signale von der Konjunkturfront. Die US-Wirtschaft wuchs im ersten Quartal 2002 um 6,1 Prozent, so stark wie seit Ende 1999 nicht mehr. Damit scheint die Rezession endgültig überwunden. Einziges Problem: "Setzt der Aktienmarkt seine Talfahrt fort, kann das den Konsum belasten", meint der kalifornische Fed-Gouverneur Robert Parry. Und genauso könnte es kommen. Das US-Verbrauchervertrauen war im Mai und Juni gegenüber den Vormonaten deutlich gesunken.
Im Gegensatz zu den Krisen 1929, 1962 oder 1987 sind die Zinsen heute auf einem historisch niedrigen Niveau. Der Anstieg der US-Geldmenge zeigt, dass die Zinssenkungen allmählich Erfolg haben und Unternehmen wie Privatleute mit dem billigen Geld investieren und konsumieren.
Und es gibt weitere Indizien für positive Überraschungen. So zeigt eine Erhebung des Analystenhauses Thomson Financial, dass nur 77 der 194 bis dato von den S&P-500-Unternehmen gemachten Prognosen zum zweiten Quartal schlechter ausfallen, als von Analysten erwartet. Das sind 39,7 Prozent. Mehr als 60 Prozent treffen die Erwartungen oder sind sogar besser. "Dies ist ein vergleichsweise guter Wert und stimmt uns optimistisch", so Thomson-Aktienstratege Ozan Akcin.
Es kann blitzschnell nach oben gehen
Die Börsianer werden also ganz genau auf die nächsten Quartalszahlen schauen. Der Startschuss fällt in der kommenden Woche mit Yahoo. Danach geht es Schlag auf Schlag. Bewahrheitet sich die These von Thomson Financial, gibt’s auch hier zu Lande gute Chancen auf eine Erholung. Schleicher glaubt gar an einen Flaschenhals-Effekt: Beginnt die Rally, werden blitzschnell viele institutionelle und Privatkunden nachziehen. "Geld zum Investieren ist ausreichend vorhanden. Geparkt am Geldmarkt und in kurzfristigen Anleihen", sagt Cognitrend-Mann Goldberg.
Zugpferd einer solchen Rally wäre zwar die Wall
Street. Bessere Gewinnchancen als in den USA sieht der Fiduka-Mann Schleicher jedoch in Deutschland: "Steigt der S&P-500 um zehn Prozent, könnte der Dax 15 bis 20 Prozent machen."
Grund: Deutsche Titel haben in den vergangenen Monaten weit stärker gelitten als Standardwerte in den USA. Zudem sprechen die Kurs/Gewinn-Verhältnisse (KGV) derzeit eher für europäische beziehungsweise deutsche Papiere (siehe Tabelle). Die deutschen Standardwerte sind im Schnitt mit einem KGV von 19,3 bewertet. Damit sind DAX-Werte ähnlich günstig wie im Jahr 1996.
Die Bewertungen der Aktien im S&P-500-Index hingegen sind trotz der heftigen Kurskorrekturen mit über 40 immer noch auf einem historisch hohen Niveau. Vor allem vor Technologietiteln wird gewarnt. Schleicher: "Viele Hightechs werden nie mehr ihre Höchststände erreichen."
Buchwert als Orientierungspunkt
Der Fondsmanager setzt daher vorwiegend auf konservative Titel wie Allianz oder Münchener Rück. Einige von ihnen notieren derzeit weit unter Buchwert. Hinter dieser Kennzahl verbirgt sich nichts anderes als das Vermögen des Konzerns abzüglich seiner Schulden. Das heißt: Wie viel der Konzern derzeit effektiv wert ist. Oft wird dazu die Börsenkapitalisierung in Relation gesetzt, das so genannte Kurs/ Buchwert-Verhältnis. Ist dieses kleiner als 1,0, sprechen Experten von einer Unterbewertung der Aktie. "Dies ist allerdings in Baissephasen wie im Moment keine Seltenheit", so Schleicher. Aktienkurse ordentlich gemanagter Firmen wie der Commerzbank oder andere DAX-Titel werden mittelfristig über den Buchwert je Aktie steigen. "Dies hängt vor allem von der Börsenphase ab. In Haussephasen notieren nahezu alle Aktien über ihrem Buchwert," so Schleicher. Auch wenn sich aus dem Kurs/Buchwert-Verhältnis nicht zwangsläufig ein Kaufsignal ergibt, ist es ein Indiz dafür, dass der Aktienkurs defensiver Werte, die über stabile und substanzstarke Vermögensgegenstände verfügen, etwa Banken oder Versicherungen, relativ abgesichert und nur selten längere Zeit tief unter deren Buchwert fällt.
Was jedoch einigen Anlegern derzeit Kopfzerbrechen bereitet, ist die charttechnische Seite. DAX und Co haben viele Unterstützungen nach unten durchbrochen. Das jeweilige September-Tief aus dem vergangenen Jahr gilt als nächster Haltepunkt. "Mit einer Doppelboden-Formation rechnen viele", so Goldberg.
Einige technische Indikatoren signalisieren derzeit bereits eine Überhitzung des Abwärtstrends. Sprich, sie zeigen eine Überreaktion des Marktes nach unten an. Trotzdem: Eine Entwarnung ist dies nicht. Anleger sollten - getreu dem Motto "Greife niemals in ein fallendes Messer" - vor größeren Engagements eine Stabilisierung abwarten. "Vor allem Technologiewerte bieten derzeit noch ein hohes Risiko", sagt Schleicher. Auf dem aktuellen Niveau und bei der derzeitigen Stimmung kann man nur Langfristanlegern zum Einstieg raten.
Generell ist jedoch eines auf jeden Fall zu empfehlen: Konsequent Stopp-Kurse setzen - und auch danach handeln. Denn Stopps bewahren Anleger vor allzu großen Verlusten. Als Alternative zu Einzelaktien bieten sich natürlich Fonds und Zertifikate an. Sie locken neben der Risikostreuung im Moment auch mit günstigen Einstiegskursen. Und bei Aktien ist das Timing-Problem größer: "So wie man beim Verkauf nie den Höchstkurs trifft, verpasst man beim Einstieg auch den Tiefstkurs", sagt Börsenpsychologe Goldberg.
Einen Trost für frustrierte Anleger hat Herbert Stein, der frühere Berater der US-Regierung, parat: "Alles, was nicht immer so weitergehen kann, hört irgendwann auf." Auf die Börse übertragen heißt das: So wie jede Hausse zu Ende geht, ist auch jede Baisse irgendwann vorbei.
Euro am Sonntag 26/02