Im Siemens-Handy-Werk in Kamp-Lintfort rechnet man mit dem Schlimmsten
Von der High-Tech-Ära in die Steinkohlezeit
Ein großes weißes Zelt steht auf dem Parkplatz des Siemens-Firmengeländes in Kamp-Lintfort. Der Konzern baut in dem 40 000-Einwohner-Städtchen im Kreis Wesel seit 1994 Mobiltelefone. „Sieht aus wie ein Festzelt“, sagt ein Anwohner. Nur dass es in Kamp-Lintfort nichts zu feiern gibt. In dem Zelt finden Betriebsversammlungen statt. Und die verhießen in jüngerer Zeit selten gute Nachrichten. Gestern wurde darin das Undenkbare verkündet: Die Siemens AG verkauft ihre Handysparte.
KAMP-LINTFORT. Wer sich von Süden her der niederrheinischen Kleinstadt nähert, sieht als erstes den Förderturm des Bergwerks West der Deutschen Steinkohle AG. Die Zeche Friedrich Heinrich, wie sie noch bis 2001 hieß, ist mit über 3800 Mitarbeitern der größte Arbeitgeber der Stadt. Lange Zeit war sie dank einer einseitigen Strukturpolitik auch der einzige nennenswerte Arbeitgeber der Stadt. Da kam der Elektronik-Konzern mit seinen Investitions-Millionen den Stadtvätern gerade recht. Strukturwandel hieß das Zauberwort. Weg von der Montan-Maloche, hin zur sauberen Elektronik-Fabrik.
Gestern, nur elf Jahre nach dem Beginn der Handy-Produktion in Kamp-Lintfort, erfuhren die Mitarbeiter in jenem weißen Festzelt, dass ihr Bereich bei Siemens keine Zukunft mehr hat. Ein Unternehmen aus Taiwan werde die Handysparte übernehmen und so auf dem Mobilfunkmarkt schneller wachsen, hörten sie. Die Asiaten übernehmen zwar zunächst alle Mitarbeiter und Standorte, über die bestehenden Verträge hinaus wird es aber keine Garantien geben. Also der Anfang vom Ende. „Man sieht schon besorgt in die Zukunft“, sagt ein Angestellter der IT-Abteilung. Und fügt hinzu: „Uns ist klar, dass der Standort gefährdet ist.“
Dan Bieler, Telekom-Fachmann bei der Londoner Unternehmensberatung Ovum, bestätigt diese Befürchtungen. Seiner Einschätzung nach wird die die Produktion in Deutschland „Schritt für Schritt heruntergefahren.“ Das sei zwar traurig für die Mitarbeiter, aber die einzige Alternative wäre gewesen, „den Laden sofort dicht zu machen“.
Also müssen sich die rund 1800 Mitarbeiter der Handyproduktion in Kamp-Lintfort wohl im nächsten Jahr nach einem neuen Job umsehen. Denn dann endet die im letzten Jahr ausgehandelte Beschäftigungs- und Standortgarantie. Die Belegschaft hatte dafür zähneknirschend die Ausweitung der Wochenarbeitszeit auf 40 Stunden ohne Lohnausgleich hingenommen.
„Es ist bitter, wenn diese Zugeständnisse auf einmal nichts mehr wert sind“, klagten Mitarbeiter gestern Mittag vor dem Werk. Aber die Personalkosten waren nicht der einzige Grund für die Misere bei der hoch defizitären Siemens-Handy-Sparte. Bernhard Jodeleit, Handy-Experte von der Fachzeitschrift „connect“ berichtet von erheblichen Versäumnissen bei der Modellpolitik. „Siemens hat den Trend zu einigen Schlüssel-Features wie Farbdisplays oder integrierten Kameras total verschlafen“, kritisiert Jodeleit. Es habe zwar einige interessante Ansätze wie das Musik-Handy SL45 gegeben, aber letztlich sei Siemens im Rückstand gewesen, als Multimedia-Handys in Deutschland den großen Durchbruch erlebten, sagt Jodeleit. Seiner Meinung nach habe es an einem „schlagkräftigen Produktmanagement mit kurzer Reaktionszeit“ gemangelt.
Laut Analyst Bieler gilt es nun, „der Wahrheit ins Auge zu schauen“. Die vermutlich so aussehen wird: Der asiatische Elektronik-Konzern Benq wird den Markennamen Siemens nutzen, um in Europa und Russland schneller wachsen zu können. Zusammen mit Siemens Mobile werden sie zur Nummer vier auf dem Handy-Weltmarkt. Sobald die betreffenden Märkte erschlossen sind, verschwindet der Name Siemens nach und nach von den Handy-Hüllen - genauso wie wohl das Werk aus Kamp-Lintfort verschwinden wird.
Quelle: HANDELSBLATT, Mittwoch, 08. Juni 2005, 07:31 Uhr
...be invested
Der Einsame Samariter
Von der High-Tech-Ära in die Steinkohlezeit
Ein großes weißes Zelt steht auf dem Parkplatz des Siemens-Firmengeländes in Kamp-Lintfort. Der Konzern baut in dem 40 000-Einwohner-Städtchen im Kreis Wesel seit 1994 Mobiltelefone. „Sieht aus wie ein Festzelt“, sagt ein Anwohner. Nur dass es in Kamp-Lintfort nichts zu feiern gibt. In dem Zelt finden Betriebsversammlungen statt. Und die verhießen in jüngerer Zeit selten gute Nachrichten. Gestern wurde darin das Undenkbare verkündet: Die Siemens AG verkauft ihre Handysparte.
KAMP-LINTFORT. Wer sich von Süden her der niederrheinischen Kleinstadt nähert, sieht als erstes den Förderturm des Bergwerks West der Deutschen Steinkohle AG. Die Zeche Friedrich Heinrich, wie sie noch bis 2001 hieß, ist mit über 3800 Mitarbeitern der größte Arbeitgeber der Stadt. Lange Zeit war sie dank einer einseitigen Strukturpolitik auch der einzige nennenswerte Arbeitgeber der Stadt. Da kam der Elektronik-Konzern mit seinen Investitions-Millionen den Stadtvätern gerade recht. Strukturwandel hieß das Zauberwort. Weg von der Montan-Maloche, hin zur sauberen Elektronik-Fabrik.
Gestern, nur elf Jahre nach dem Beginn der Handy-Produktion in Kamp-Lintfort, erfuhren die Mitarbeiter in jenem weißen Festzelt, dass ihr Bereich bei Siemens keine Zukunft mehr hat. Ein Unternehmen aus Taiwan werde die Handysparte übernehmen und so auf dem Mobilfunkmarkt schneller wachsen, hörten sie. Die Asiaten übernehmen zwar zunächst alle Mitarbeiter und Standorte, über die bestehenden Verträge hinaus wird es aber keine Garantien geben. Also der Anfang vom Ende. „Man sieht schon besorgt in die Zukunft“, sagt ein Angestellter der IT-Abteilung. Und fügt hinzu: „Uns ist klar, dass der Standort gefährdet ist.“
Dan Bieler, Telekom-Fachmann bei der Londoner Unternehmensberatung Ovum, bestätigt diese Befürchtungen. Seiner Einschätzung nach wird die die Produktion in Deutschland „Schritt für Schritt heruntergefahren.“ Das sei zwar traurig für die Mitarbeiter, aber die einzige Alternative wäre gewesen, „den Laden sofort dicht zu machen“.
Also müssen sich die rund 1800 Mitarbeiter der Handyproduktion in Kamp-Lintfort wohl im nächsten Jahr nach einem neuen Job umsehen. Denn dann endet die im letzten Jahr ausgehandelte Beschäftigungs- und Standortgarantie. Die Belegschaft hatte dafür zähneknirschend die Ausweitung der Wochenarbeitszeit auf 40 Stunden ohne Lohnausgleich hingenommen.
„Es ist bitter, wenn diese Zugeständnisse auf einmal nichts mehr wert sind“, klagten Mitarbeiter gestern Mittag vor dem Werk. Aber die Personalkosten waren nicht der einzige Grund für die Misere bei der hoch defizitären Siemens-Handy-Sparte. Bernhard Jodeleit, Handy-Experte von der Fachzeitschrift „connect“ berichtet von erheblichen Versäumnissen bei der Modellpolitik. „Siemens hat den Trend zu einigen Schlüssel-Features wie Farbdisplays oder integrierten Kameras total verschlafen“, kritisiert Jodeleit. Es habe zwar einige interessante Ansätze wie das Musik-Handy SL45 gegeben, aber letztlich sei Siemens im Rückstand gewesen, als Multimedia-Handys in Deutschland den großen Durchbruch erlebten, sagt Jodeleit. Seiner Meinung nach habe es an einem „schlagkräftigen Produktmanagement mit kurzer Reaktionszeit“ gemangelt.
Laut Analyst Bieler gilt es nun, „der Wahrheit ins Auge zu schauen“. Die vermutlich so aussehen wird: Der asiatische Elektronik-Konzern Benq wird den Markennamen Siemens nutzen, um in Europa und Russland schneller wachsen zu können. Zusammen mit Siemens Mobile werden sie zur Nummer vier auf dem Handy-Weltmarkt. Sobald die betreffenden Märkte erschlossen sind, verschwindet der Name Siemens nach und nach von den Handy-Hüllen - genauso wie wohl das Werk aus Kamp-Lintfort verschwinden wird.
Quelle: HANDELSBLATT, Mittwoch, 08. Juni 2005, 07:31 Uhr
...be invested
Der Einsame Samariter