Mit US-Raketen gegen die Amerikaner
40000 bis 60000 Taliban-Kämpfer rüsten zum „Heiligen Krieg“: Kampferprobt und bereit, sich zu opfern
Von Peter Münch
Den gottesfürchtigen Taliban müssen die Angriffe der Amerikaner vorkommen wie Attacken aus dem Weltall. An Kriegserfahrung mangelt es ihnen gewiss nicht, und auch gegen feindlichen Beschuss aus der Luft haben sie sich bisweilen schon zur Wehr setzen müssen in ihrem Kampf gegen die oppositionelle Nordallianz. Doch was nun über sie hereinbricht mit Marschflugkörpern und Tarnkappen-Bombern, sprengt die Dimensionen ihrer kriegerischen Vorstellungskraft.
Ihre Führer haben zwar am Montag nach einer Krisensitzung Durchhalteparolen ausgegeben und angekündigt, man werde die USA genauso bekämpfen wie früher die sowjetischen Invasionstruppen – also letztlich erfolgreich. Dazu allerdings gehören zwei. Und erstens werden die Amerikaner den Taliban kaum den Gefallen tun, wie die Sowjets in die Falle zu tappen. Sie werden also kaum als Invasionstruppe auftreten, sondern aus der Luft die Taliban schwächen und demoralisieren. Zweitens fehlt den Afghanen diesmal etwas Entscheidendes zum Sieg: ein starker Verbündeter. Im Kampf gegen Moskau hatte ihnen vor allem die Waffenhilfe der USA, des heutigen Gegners, zum Triumph gegen die Übermacht verholfen. Heute müssen die Taliban nicht nur ohne äußere Unterstützung auskommen, sie haben mit der Nordallianz auch noch einen erstarkenden inneren Feind gegen sich.
Gefordert ist von ihnen nun ein Kampf an vielen Fronten, der ihre militärischen Kräfte aufs Äußerste beansprucht. Zwar hatte Taliban-Führer Mullah Mohammed Omar angesichts des amerikanischen Aufmarsches die Rekrutierung von 300000 Dschihadis angekündigt. Realistisch aber wird die Zahl der Kämpfer auf 40000 bis 60000 Mann geschätzt. Einige Tausend davon kommen aus dem Ausland – aus Pakistan sowie über die bin-Laden- Verbindung aus arabischen Ländern. Das größte Plus der Taliban: Die Einheiten sind kampferprobt und bereit, sich im „heiligen Krieg“ zu opfern.
Mit dieser Truppe war den Korankriegern zwischen 1994 und 1996 der Durchmarsch durch Afghanistan gelungen. Wichtiger als die militärische war in diesem kriegsverwüsteten Land jedoch oft ihre finanzielle Kraft. Das von der Schutzmacht Pakistan und von Osama bin Laden bereitgestellte Geld hatte manchen feindlichen Feldkommandanten zum Seitenwechsel bewegt. In Zeiten der Bedrängnis dürfte deren Bindung an Mullah Omar allerdings nicht sonderlich stark sein. Es könnte sich also zu Lasten der Taliban der alte Spruch bewahrheiten, dass man einen Afghanen nicht kaufen könne – nur mieten.
Neben den Überläufern droht auch die Ausrüstung zum Problem zu werden für die Taliban. Vom Nachschub sind sie weit gehend abgeschnitten, weil die Amerikaner darauf achten werden, dass sich nun auch Pakistan an das von den UN verhängte Waffenembargo hält. Vor allem die Luftstreitkräfte und die Luftabwehr der Taliban waren bereits in der ersten Angriffswelle Ziel amerikanischer Bomben und Raketen. Aus alten Beständen, die erst die Mudschaheddin vom Moskau-treuen Nadschibullah-Regime und dann die Taliban von den Mudschaheddin erbeuteten, umfasst die Taliban-Luftwaffe etwa 20 Flugzeuge der Typen MiG-21 und Su-22. Gefährlich für die US-Bomber könnten vor allem die Stinger-Raketen werden. Gesponsort von der CIA, waren die tragbaren Flugabwehr-Raketen in den 80er Jahren in großer Zahl ins Land gelangt und erfolgreich gegen die Sowjets eingesetzt worden. Eine Rückkauf-Aktion der Amerikaner in den frühen 90er Jahren scheiterte, sodass Restbestände heute bei den Taliban zu finden sind. Von den tausend Panzern russischer Bauart, die 1992 im Land waren, sind Schätzungen zufolge noch hundert funktionsfähige in ihrer Hand. Dazu kommen 250 gepanzerte Fahrzeuge – und die Kalaschnikow als Grundausrüstung des Taliban-Kämpfers.
Die aus der Not heraus eher leichte Bewaffnung ermöglicht den Truppen hohe Mobilität. Dennoch sitzen die Taliban derzeit in einer strategischen Falle. Um sich vor den US-Luftangriffen zu schützen, müssten sie sich eigentlich großflächig verteilen und mit allem, was ihnen an Kriegsgerät lieb ist, in Verstecken verschwinden. Wenn sie dies tun, wird das jedoch von der Nordallianz als Einladung zum Vormarsch verstanden werden. Also müssen sie sich der Nordallianz entgegenstellen und werden dadurch leichter zum Ziel der Amerikaner.
Angesichts dieser Konstellation überrascht es nicht, dass die US- Angriffe die Vertreter der Nordallianz zu Großmäuligkeit und neuen Offensiven angespornt haben. Bestärkt wurden sie von US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, der es als ein Ziel der Luftschläge nannte, das militärische Kräfteverhältnis in Afghanistan zu Gunsten der Nordallianz zu verändern. Deren Sprecher kündigte via CNN bereits die Rückeroberung Kabuls in wenigen Tagen an. Als die Protagonisten der Nordallianz allerdings das letzte Mal die Hauptstadt hielten, verwandelten sie Kabul im Bürgerkrieg der Jahre 1992 bis 1996 in ein Trümmerfeld.